Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 47,20 €
Produktdetails
  • Bild und Text
  • Verlag: Fink (Wilhelm)
  • Seitenzahl: 107
  • Abmessung: 300mm
  • Gewicht: 1275g
  • ISBN-13: 9783770529520
  • Artikelnr.: 05315764
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Von den Knochen rutscht das Fleisch
Expressionistisch: Deleuze über Bacon / Von Hannes Böhringer

Manchmal ist es gar nicht so schlecht, wenn man auf Übersetzungen lange warten muß. Vor zehn Jahren wäre Deleuzes Bacon-Buch in der Bücherflut über Wilde Malerei, Neoexpressionismus und Postmoderne wahrscheinlich untergegangen. Bis heute hat sich die Malerei von ihrer überdrehten Konjunktur in den achtziger Jahren noch nicht wieder erholt. Die bildende Kunst insgesamt ist in eine Rezession und "Sinnkrise" geraten. Die hurtigen Zeitgeisttheoretiker haben die Kunst längst hinter sich gelassen und schlürfen die hocherhitzte Milch anderer Galaxien.

Da erscheint noch einmal - unzeitgemäß und auf deutsch - der Obernomade in den verlassenen Schlachthöfen der Malerei. Er kommt auch hierhin nicht ohne seine Freunde (Kafka, Artaud, Burroughs, Beckett), aber er bringt auch Cézanne mit und deutschsprachige Klassiker der Kunstgeschichte: Riegl, Wölfflin, Worringer. Von den Kunsthistorikern nicht mehr gelesen, müssen sie nun von den Philosophen gehütet werden. Für den Leser wäre es am bequemsten gewesen, hätten außer dem Text- und Bildband auch noch David Sylvesters "Gespräche mit Francis Bacon" im Schuber gesteckt. Denn Deleuze analysiert nicht nur präzise Bacons Bilder, ebenso genau greift er dessen Gesprächsäußerungen auf. Die "Logik der Sensation" ist nicht nur ein Buch von Deleuze, sondern auch eins über Bacon. Denn der ist Bein von seinem Bein, ein Knochenschinken auch das Buch, an dem man zu nagen hat.

Bacon, schreibt Deleuze, hysterisiert Velázquez (mit seiner Studie über dessen berühmtes Porträt von Innozenz X.). Deleuze hysterisiert die klassische Philosophie, er transformiert und deformiert sie. Deleuze ist Bergsonianer. Schon Bergson hatte das plotinische Bild für das Ureine, die Quelle der schöpferischen Entwicklung, die unaufhörlich sprudelt und dabei in sich stille steht, ersetzt durch eine explodierende Bombe. Ersetzt man nun noch den neuplatonischen Idealismus durch einen Sensualismus und Transzendenz durch Immanenz, dann hat man ein grobes "Diagramm" der Deleuzeschen Position: umgedrehter Neuplatonismus. Deleuze interessiert sich nicht für den kontemplativen Aufstieg einer Bildbetrachtung, sondern für den Sturz als höchste Form der Intensitätsempfindung "sensation", Absturz des Akrobaten und Artisten aus erhabenen Höhen. Von den Knochen rutscht das Fleisch, schreibt er.

Damit ist Deleuze aber auch bei Cézanne, der "Sensationen malen" will. Cézannes Malerei markiert den Punkt in der Kunstgeschichte, wo Sinnesempfindungen nicht mehr impressionistisch abgebildet, sondern analog, "parallel zur Natur" konstruiert und damit unweigerlich "deformiert" werden. Den Höhepunkt, den höchsten Punkt des aufgehaltenen, auf später verschobenen: "hysterisierten" Absturzes findet Deleuze bei Bacon. In dieser Sicht unterscheidet er sich übrigens nicht vom Expressionismus-Gegner Gehlen (dessen "Zeitbilder" er offenbar nicht kennt).

Deleuze ist nicht nur ein Meister der Umformung, sondern auch der Umgehung. Kunstreich vermeidet er es, auf bekannte und eingefahrene Bahnen zu gelangen. Die Umkehrung des Neuplatonismus hätte ihn mitten in der Christologie landen lassen können (Niederfahren und Fleischwerdung Gottes). Deleuze sieht, daß die Deformation als Prinzip der nachklassischen, romantischen, modernen Kunst auf die Christologie verweist: Vergegenwärtigung des Unendlichen im Endlichen; auch Bacon kann das Kreuz als enormes "Gerüst" nicht ignorieren, in das die entmenschlichte Figur eingespannt ist. Aber Christentum heißt für beide Geschichte. Und die läßt für die Kunst, glauben sie, nur Narration oder Illustration zu. Bacons Losung, "die Figur dem Figurativen entreißen" (Deleuze), bedeutet, die Figur den Geschichten und ihren Erzählungen zu entreißen.

Deleuze unterläuft das Geschichtenerzählen mit dem Aufzählen von unzähligen Schichten und ihren Faltungen: tausend Plateaus. Geschichten sind wie Organismen. Jenseits der organisierten Körper aber ist der "organlose Körper" (Artaud/Deleuze). Deleuze weicht den Dualismen der traditionellen Lebensphilosophie (organisch/unorganisch, Biologie/Biographie) aus und nimmt dafür massive Paradoxe in Kauf wie "unorganisches Leben". Hier bezieht er sich auf Worringer, der die "nordische Linie" der Gotik als eine "gesteigerte Kräftebewegung" beschreibt, "die in der Intensität des Ausdrucks über alle organische Bewegung hinausgeht".

Auch Bacon sucht nach der höchsten Empfindungsintensität. Sie ist für ihn untrennbar an den figürlichen Ausdruck gebunden. Wie aber kann er verhindern, daß seine Figuren eine Geschichte erzählen? Er isoliert sie durch ein "Rund", auf dem sie sich befinden, und ein "Gerüst", in dem sie stecken. Er macht sie gewissermaßen zu einem "Non-Relational" (Frank Stella). Eine solche Figur ist für Deleuze der organlose Körper, der Körper in großer Unbestimmtheit, ein Farbfleck, ein Mal.

Vergleichbar mit Kandinskys Traktat über "Punkt und Linie zur Fläche" versucht nun Deleuze am Beispiel Bacons, die Malerei als Ausdrucksintensität aus dem Mal des organlosen Körpers zu entwickeln. Er entspricht dem unbestimmten Punkt Kandinskys. Vergeblich versucht der organlose Körper, sich selbst zu entkommen. Er öffnet sich zum Schrei, er läuft aus, verwandelt sich tiergestaltig, gefährdet sich in seiner "Ununterschiedenheit" und muß deshalb schließlich seine "Kontur retten". Wölfflins "Grundbegriffe" scheinen durch. Bacons Figuren sieht Deleuze in einem flachen "ägyptischen" Raum verloren, der "nahsichtig" (Riegl) vom Auge ertastet werden muß. In "Tausend Plateaus" ist dieses ägyptische "Kunstwollen" (Riegl) das Muster einer "nomadischen Kunst".

Deleuze begreift Bacons expressive Malerei als "peinture conceptuelle", die gleichwohl "direkt auf das Nervensystem stößt" (Bacon). Wie der Maler so faßt auch der Philosoph die Sensationen naturalistisch als Schwingungen auf, als Wellen, die Resonanzen erzeugen. Bewußt nimmt Deleuze die sensualistische Doppeldeutigkeit der Sensation in Kauf, unmittelbarer Sinneseindruck und reflexive Empfindung zu sein. So umgeht er die gefürchtete Gefühlsästhetik. Darum läßt auch der Übersetzer den Begriff Sensation unübersetzt, obwohl der übliche Sprachgebrauch im Deutschen den Begriff in eine noch größere Gefahr bringt, mißverstanden zu werden.

Am Anfang der Malerei, so Deleuze, steht nicht die leere Leinwand, sondern das Klischee, das zerbrochen oder aufgeweicht, deformiert werden muß. Im Falle Bacons ist es die Photographie. Wenn das Klischee zu stark ist, muß man es umgehen. Aber auch Deleuze kann nicht alles umformen oder umgehen. Mit seiner Strömungsmetaphorik bleibt er im Klischee der traditionellen Lebensphilosophie. Das Bild des Strömens und Fließens aber löst die Widerspenstigkeit des an harten Knochen festsitzenden, nur mit Gewalt davon loszureißenden Fleisches zu sehr auf. "Erbarmen mit dem Fleisch!" schreibt Deleuze, "es hat alle Leiden bewahrt." Hier stecken die zurückgehaltenen Empfindungen und Gefühle.

Im richtigen Moment - der Neokonzeptualismus in der bildenden Kunst flaut wieder ab - bekommen wir mit der "Logik der Sensation" eine Philosophie des Expressionismus, die uns nicht nur Bacon, sondern auch Bruce Nauman, die expressive Malerei in anderen Medien nahebringt. Zugleich ist das Buch eine verblüffende Aktualisierung der älteren deutschen Kunstgeschichtsschreibung. Deleuze lesen heißt nicht nur in einer starken Brandung stehen - die Wellen erfrischen, aber sie hören nicht auf! -, sondern auch einem wagemutigen und klugen Philosophen auf dem zerklüfteten und kontaminierten Terrain der Kunst-, Philosophie- und Religionsgeschichte eine Strecke weit nachfolgen zu können. Wo kommen schon einmal Mut und Klugheit einer Philosophie zusammen? Es deutet den philosophischen Rang von Gilles Deleuze an, daß er Primärliteratur schreibt, wenn er ein Buch über das Kino, über Kafka oder Bacon verfaßt.

Gilles Deleuze: "Francis Bacon". Logik der Sensation. Aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 2 Bände im Schuber, 100 S. Text, 97 Farb- und S/W-Abb. mit Falttafeln, br., 98,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
-Wo kommen schon einmal Mut und Klugheit einer Philosophie zusammen? Es bezeugt den philosophischen Rang von Gilles Deleuze, daß er Primärliteratur schreibt, wenn er ein Buch über das Kino, über Kafka oder Bacon verfaßt.- (Hannes Böhringer, Frankfurter Allgemeine Zeitung)