Die Panoramafotografie, wie sie Jürgen Mai betreibt, ist das Gegenteil des Schnappschusses. Schon aus technischen Gründen: Bis sich das Objektiv der schweren Seitz-Roundshot einmal um den Filmzylinder gedreht hat, dauert es zwischen einer Sekunde und 16 Minuten, je nach Belichtungszeit. Sobald Mai den Auslöser gedrückt hat, gibt er die Hoheit über das Motiv ein Stück weit aus der Hand. Diesen Nachteil sucht er mit einem Kunstgriff wettzumachen: Das Panorama dehnt er auf 380 Grad aus. Die 20 Grad Überschuß machen die Zeit sichtbar, denn wenn das Objektiv wieder am Ausgangspunkt angekommen ist, ist dieser meistens nicht mehr derselbe: Menschen haben sich bewegt, das Licht hat sich verändert. In Mais Bildband über Frankfurt, in dem er 51 Aufnahmen aus den vergangenen zehn Jahren versammelt hat, werden Möglichkeiten und Grenzen der Panoramafotografie sichtbar. Es gelingen atmosphärisch dichte Einblicke, etwa in die nobel-unpersönliche Nomadenstimmung eines Hochhaus-Apartments. Auch die in Rot getauchte Impression aus einem Nachtclub ist suggestiv. Während die Selbstinszenierung des Personals im Anblick der Kamera hier noch zum Sujet paßt, ist sie bei anderen Aufnahmen eine Schwäche. In einer Sachsenhäuser Apfelweinkneipe etwa ist der Mann hinter dem Tresen bemüht, die Anwesenheit der Kamera zu überspielen. Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde flirten dagegen verhalten mit dem Betrachter. Und die Tanzgruppe in einem Theaterstudio legt sich für die Kamera richtig ins Ausdruckszeug. Bei Straßenszenen ist es ein wenig wie in den Anfangstagen der Fotografie: Passanten bleiben stehen und schauen auf die ungewöhnliche Kamera. Eine einheitliche Bildsprache hat Mai nicht entwickelt. Am "natürlichsten" sind die Bilder geraten, die von Hochhausspitzen aus entstanden: Hier fallen Thema und Technik in eins, hier machen sich auch die Verzerrungen nicht so stark bemerkbar. Vorangestellt ist den Bildern ein kleiner Essay von Martin Mosebach, dem Gebildetsten unter den Nichtverächtern von Frankfurt. Mosebach versteht es, den Reiz der Stadt zu vermitteln, indem er über die oft häßlichen Details auf das schöne Ganze blickt. Es entsteht dort, wo die Proportionen der Stadt stimmen, etwa wenn man sie vom Main aus betrachtet.
ale.
"Frankfurt 380 Grad" von Jürgen Mai. Edition Panorama, 2006. 120 Seiten, 51 Farbfotos. Gebunden, 35 Euro. ISBN 3-89823-281-6.
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