Prozesse der Stadtentwicklung sind immer auch von sozialen Kämpfen begleitet. Die Beitragenden des Bandes beleuchten aus Perspektive der Wissenschaft, sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Initiativen aktuelle Konfliktfelder in der Global City Frankfurt am Main und diskutieren in anschaulichen Formaten, welche strukturellen Bedingungen, gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und machtvollen Akteure die Mainmetropole prägen. Sie analysieren, wie neoliberale und autoritäre Tendenzen soziale Ausschlüsse produzieren. Durch den Fokus auf die vielfältigen Kämpfe werden zugleich Wege für eine solidarische und demokratische Stadt für alle aufgezeigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2021Kriminalität gibt es nicht, nur Kriminalisierte
FRANKFURT Die Humangeographen der Goethe-Uni vermischen in einem Sammelband Wissenschaft und Aktivismus
Das N-Wort fällt zum ersten Mal in Zeile 29 der Einleitung. In ihm drängen sich sämtliche Übel zusammen, an denen Frankfurt krankt, die "neoliberale Stadt". Wohnungsnot, Rassismus, Sexismus, Polizeigewalt und Ticketzwang im öffentlichen Nahverkehr sind für die Autoren des Bandes "Eine Stadt für alle?" auf diese oder jene Weise mit dem Neoliberalismus verquickt - jener perfiden Spielart des Kapitalismus, die sich tolerant und weltoffen gibt und letztlich doch nur der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen dient.
Schwer vorstellbar, dass einer der Verfasser jemals einer Partei seine Stimme geben könnte, die an der Durchsetzung dieser verwerflichen Ideologie mitwirkt; schließlich sind nach dem Urteil der Autoren auch weite Teile von SPD und Grünen längst der neoliberalen Pandemie erlegen. Einzig die Linke und Jutta Ditfurths fundamentalistische Ökolinx-Liste dürften für sie noch wählbar sein, nähmen sie die Schlussfolgerungen aus ihren Aufsätzen ernst. Beruhigend immerhin, dass das Sammelwerk nicht nur von der doch arg systemkonformen Deutschen Forschungsgemeinschaft, sondern auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung bezuschusst wurde.
Svenja Keitzel, Sebastian Schipper und die anderen Herausgeber sind alle auf unterschiedliche Art mit dem Institut für Humangeographie der Goethe-Universität verbunden und nach eigenen Angaben in Frankfurt gesellschaftspolitisch engagiert. Sie fühlen sich der "Angewandten Kritischen Geographie" verpflichtet, einem Forschungsansatz, der den Blick auf die "Lebenswirklichkeit marginalisierter sozialer Gruppen" lenken und deren Probleme vom Standpunkt dieser Gruppen aus bearbeiten wolle.
Die Absicht, dort genau hinzuschauen, wo Menschen sich an den Rand gedrängt fühlen, und ihre Sichtweisen in die Suche nach Lösungen einzubeziehen, ist - ohne jede Ironie - lobenswert. Bedauerlicherweise verlieren die Frankfurter Humangeographen dabei jene Distanz, die den Wissenschaftler vom Kombattanten unterscheidet. Wie sehr sich die Rollen vermischen, zeigt schon die in bestem Genderdeutsch verfasste Sentenz aus der Einleitung, der zufolge in dem Buch "Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, aktivistische Forscher*innen und forschende Aktivist*innen, Nicht-Akademiker*innen und Akademiker*innen" zu Wort kommen. Soll heißen: Dort schreiben neben Uni-Angehörigen unter anderen Vertreter der Flüchtlings-Hilfsinitiative "Project Shelter", der polizeikritischen Gruppe "Copwatch FFM" und der Frankfurter Antifa - teils anonym oder unter Fantasienamen.
Ihnen für ihre Selbstpräsentation nicht auch noch ein eigenes Kapitel einzuräumen wäre im Sinne der Redundanzvermeidung gewesen, unterscheidet sich doch ihre Sicht auf die Frankfurter Konflikte nur unwesentlich von jener der zum Buch beitragenden Wissenschaftler. Das zeigen exemplarisch die von Forschern geschriebenen Aufsätze über das Frankfurter Bahnhofsviertel und den Drogenhandel in der Platensiedlung.
Es ist durchaus lohnend, darüber nachzudenken, ob es sich mit dem Gebot der Unschuldsvermutung vereinen lässt, mutmaßlichen Dealern schon vor einem Urteil die Wohnung zu kündigen (dass der Bundesgerichtshof dies erlaubt, geben die Autoren zu) oder die Frage aufzuwerfen, inwieweit eine Verdrängung von Süchtigen aus bestimmten Vierteln sinnvoll ist - schließlich wird das Problem damit nicht gelöst, sondern nur verlagert.
Freundlich gesagt irritierend ist allerdings das Fehlen jeglicher Empathie mit jenen, die unter den Zuständen zu leiden haben. Klagen von Geschäftsleuten (und die Berichterstattung der Presse darüber) werden flott als "Moralpaniken" abgetan; stigmatisierend für einen Stadtteil ist nach dieser Logik nicht die Situation dortselbst, sondern deren Darstellung in den Medien. Kriminalität gibt es in der Welt nach Wille und Vorstellung der Humangeographen ohnehin nicht, ebenso wenig wie Islamismus (vermutlich bloß ein rassistisches Konstrukt). Sie kennen nur Kriminalisierung und Kriminalisierte, seien es Drogendealer oder dunkelhäutige Menschen, die von der Polizei unter Generalverdacht gestellt werden. Um diesem Missstand abzuhelfen, hat "Copwatch FFM" eine Idee parat: das Ersetzen der Polizei durch eine "transformative justice" - was immer das sein mag.
So erwartbar das meiste ist, hin und wieder gelingt es den Autoren doch, den Horizont des Lesers zu erweitern. Zum Beispiel dann, wenn sie uns in einem eigenen Beitrag darüber aufklären, dass zu den von der Frankfurter Mehrheitsgesellschaft aufgrund ihrer ausländischen Herkunft Geächteten ("Rassifizierten" wäre wohl der politisch korrekte Terminus) in gewissem Sinn auch die Nilgänse gehören. Danke dafür.
SASCHA ZOSKE.
Johanna Betz u. a. (Hg.): "Frankfurt am Main. Eine Stadt für alle?", transcript Verlag, 450 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
FRANKFURT Die Humangeographen der Goethe-Uni vermischen in einem Sammelband Wissenschaft und Aktivismus
Das N-Wort fällt zum ersten Mal in Zeile 29 der Einleitung. In ihm drängen sich sämtliche Übel zusammen, an denen Frankfurt krankt, die "neoliberale Stadt". Wohnungsnot, Rassismus, Sexismus, Polizeigewalt und Ticketzwang im öffentlichen Nahverkehr sind für die Autoren des Bandes "Eine Stadt für alle?" auf diese oder jene Weise mit dem Neoliberalismus verquickt - jener perfiden Spielart des Kapitalismus, die sich tolerant und weltoffen gibt und letztlich doch nur der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen dient.
Schwer vorstellbar, dass einer der Verfasser jemals einer Partei seine Stimme geben könnte, die an der Durchsetzung dieser verwerflichen Ideologie mitwirkt; schließlich sind nach dem Urteil der Autoren auch weite Teile von SPD und Grünen längst der neoliberalen Pandemie erlegen. Einzig die Linke und Jutta Ditfurths fundamentalistische Ökolinx-Liste dürften für sie noch wählbar sein, nähmen sie die Schlussfolgerungen aus ihren Aufsätzen ernst. Beruhigend immerhin, dass das Sammelwerk nicht nur von der doch arg systemkonformen Deutschen Forschungsgemeinschaft, sondern auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung bezuschusst wurde.
Svenja Keitzel, Sebastian Schipper und die anderen Herausgeber sind alle auf unterschiedliche Art mit dem Institut für Humangeographie der Goethe-Universität verbunden und nach eigenen Angaben in Frankfurt gesellschaftspolitisch engagiert. Sie fühlen sich der "Angewandten Kritischen Geographie" verpflichtet, einem Forschungsansatz, der den Blick auf die "Lebenswirklichkeit marginalisierter sozialer Gruppen" lenken und deren Probleme vom Standpunkt dieser Gruppen aus bearbeiten wolle.
Die Absicht, dort genau hinzuschauen, wo Menschen sich an den Rand gedrängt fühlen, und ihre Sichtweisen in die Suche nach Lösungen einzubeziehen, ist - ohne jede Ironie - lobenswert. Bedauerlicherweise verlieren die Frankfurter Humangeographen dabei jene Distanz, die den Wissenschaftler vom Kombattanten unterscheidet. Wie sehr sich die Rollen vermischen, zeigt schon die in bestem Genderdeutsch verfasste Sentenz aus der Einleitung, der zufolge in dem Buch "Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, aktivistische Forscher*innen und forschende Aktivist*innen, Nicht-Akademiker*innen und Akademiker*innen" zu Wort kommen. Soll heißen: Dort schreiben neben Uni-Angehörigen unter anderen Vertreter der Flüchtlings-Hilfsinitiative "Project Shelter", der polizeikritischen Gruppe "Copwatch FFM" und der Frankfurter Antifa - teils anonym oder unter Fantasienamen.
Ihnen für ihre Selbstpräsentation nicht auch noch ein eigenes Kapitel einzuräumen wäre im Sinne der Redundanzvermeidung gewesen, unterscheidet sich doch ihre Sicht auf die Frankfurter Konflikte nur unwesentlich von jener der zum Buch beitragenden Wissenschaftler. Das zeigen exemplarisch die von Forschern geschriebenen Aufsätze über das Frankfurter Bahnhofsviertel und den Drogenhandel in der Platensiedlung.
Es ist durchaus lohnend, darüber nachzudenken, ob es sich mit dem Gebot der Unschuldsvermutung vereinen lässt, mutmaßlichen Dealern schon vor einem Urteil die Wohnung zu kündigen (dass der Bundesgerichtshof dies erlaubt, geben die Autoren zu) oder die Frage aufzuwerfen, inwieweit eine Verdrängung von Süchtigen aus bestimmten Vierteln sinnvoll ist - schließlich wird das Problem damit nicht gelöst, sondern nur verlagert.
Freundlich gesagt irritierend ist allerdings das Fehlen jeglicher Empathie mit jenen, die unter den Zuständen zu leiden haben. Klagen von Geschäftsleuten (und die Berichterstattung der Presse darüber) werden flott als "Moralpaniken" abgetan; stigmatisierend für einen Stadtteil ist nach dieser Logik nicht die Situation dortselbst, sondern deren Darstellung in den Medien. Kriminalität gibt es in der Welt nach Wille und Vorstellung der Humangeographen ohnehin nicht, ebenso wenig wie Islamismus (vermutlich bloß ein rassistisches Konstrukt). Sie kennen nur Kriminalisierung und Kriminalisierte, seien es Drogendealer oder dunkelhäutige Menschen, die von der Polizei unter Generalverdacht gestellt werden. Um diesem Missstand abzuhelfen, hat "Copwatch FFM" eine Idee parat: das Ersetzen der Polizei durch eine "transformative justice" - was immer das sein mag.
So erwartbar das meiste ist, hin und wieder gelingt es den Autoren doch, den Horizont des Lesers zu erweitern. Zum Beispiel dann, wenn sie uns in einem eigenen Beitrag darüber aufklären, dass zu den von der Frankfurter Mehrheitsgesellschaft aufgrund ihrer ausländischen Herkunft Geächteten ("Rassifizierten" wäre wohl der politisch korrekte Terminus) in gewissem Sinn auch die Nilgänse gehören. Danke dafür.
SASCHA ZOSKE.
Johanna Betz u. a. (Hg.): "Frankfurt am Main. Eine Stadt für alle?", transcript Verlag, 450 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein absolut lesenswerter Sammelband, der zugleich Wege für eine solidarische und sozialökologische Stadtentwicklung nicht nur in Frankfurt am Main aufzeigt.«
Petra Lütke, Geographische Rundschau, 11 (2022) 20221115
Petra Lütke, Geographische Rundschau, 11 (2022) 20221115