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Faszinierende Einblicke in die Lebenswelten einer deutschen Stadt im Ancien Regime - Beispiel: die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main. Es sind Einblicke gerade dort, wo Menschen in Krisensituationen geraten sind. Grundlage: die Gerichtsakten der Zeit 1648-1806 - erstmals werden sie zum Material für eine "Stadtgeschichte von unten". Die Verhörprotokolle der Strafjustiz lassen Richter, Täter und Opfer zu Wort kommen - ein buntes, ein pralles Bild städtischer Alltagskultur im 18. Jahrhundert. Vor Gericht begegneten sich Menschen unterschiedlicher Herkunft: Patrizier und wohlhabende…mehr

Produktbeschreibung
Faszinierende Einblicke in die Lebenswelten einer deutschen Stadt im Ancien Regime - Beispiel: die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main. Es sind Einblicke gerade dort, wo Menschen in Krisensituationen geraten sind. Grundlage: die Gerichtsakten der Zeit 1648-1806 - erstmals werden sie zum Material für eine "Stadtgeschichte von unten". Die Verhörprotokolle der Strafjustiz lassen Richter, Täter und Opfer zu Wort kommen - ein buntes, ein pralles Bild städtischer Alltagskultur im 18. Jahrhundert. Vor Gericht begegneten sich Menschen unterschiedlicher Herkunft: Patrizier und wohlhabende Handelsbürger, einfache Handwerker und Tagelöhner, Gesellen und Mägde, Juden und Fremde. Das 18. Jh. war ein Jahrhundert der politischen Konflikte, der Eigentumskriminalität und der Einübung eines neuen bürgerlichen Habitus. Das höhere Frankfurter Bürgertum distanzierte sich von Konflikten der Straße. Es strebte die Teilhabe an der politischen Herrschaft an und erprobte neue Formen der Geselligkeit. Die Protestkultur verlagerte sich in die unteren Gesellschaftsschichten - aus einem Gemeindeprotest wurde mehr und mehr ein Unterschichtenprotest. Der Autor untersucht die Mikrophysik und die Sprache der Gewalt anhand von Wirtshaus-, Handwerks- und Nachbarschaftskonflikten. Er zeigt die alltäglichen Zwänge einer Ökonomie der Armut, er zeigt die stigmatisierenden Zuschreibungen, die vor allem die Bewohner der Judengasse und der Arme-Leute-Vorstadt Sachsenhausen betrafen. Und er analysiert eine Urteilspraxis zwischen Ermahnungen und spektakulären Hinrichtungen.
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Autorenporträt
Joachim Eibach, Dr. phil. habil., geb. 1960, ist PD an der Universität Gießen und Wiss. Mitarbeiter am Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Potsdam.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Sachsenhausen war überhaupt nicht primitiv
Kriminalität in Frankfurt am Main: Joachim Eibach räumt auch mit so manch anderer Legende auf

Das regelmäßige Gebet von Christen verschiedener Konfessionen habe in Frankfurt am Main dazu geführt, daß die Kriminalitätsrate zurückgegangen sei. Das meint jedenfalls ein Frankfurter Baptistenprediger und verweist darauf, daß in der einstigen Kriminalitätshochburg die Zahl der Delikte seit 1997 rückläufig ist. Vor allem bei Diebstahl und Betrug, so der bibelfeste Pastor in einem Gebetsseminar, sei Jahr für Jahr ein deutlicher Rückgang zu beobachten. In der Tat: Frankfurt am Main ist heute nicht mehr "Hauptstadt des Verbrechens". Hamburg gilt inzwischen als die gefährlichste deutsche Großstadt. Ob die Hanseaten weniger fromm sind?

Ein Blick in die Kriminalitätsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts vermag deutlich zu machen, daß von einer linearen Entwicklung keine Rede sein kann. Auch für Frankfurt läßt sich zeigen, daß ein kurzfristiger Trend nicht über den zyklischen Charakter der Kriminalitätsentwicklung hinwegtäuschen darf. Das ist jedenfalls eines der vielen überraschenden Ergebnisse einer lesenswerten Gießener Habilitationsschrift. So stieg etwa die Gewaltkriminalität in den Jahren um 1750 steil an, um dann gegen Ende des Jahrhunderts um so steiler abzufallen. Im Zeitalter der Französischen Revolution protokollierten die Frankfurter Gerichtsschreiber nur noch jeden zweiten Monat eine ernsthafte Körperverletzung oder Schlägerei, dazu einmal jährlich einen Mord oder Totschlag. Da bietet sich ein Vergleich mit heute geradezu an.

Obwohl Joachim Eibach die Problematik gut kennt, wenn es darum geht, die damaligen Verhältnisse mit den heutigen zu vergleichen, so nimmt er dieses Risiko bewußt in Kauf. So erscheint das Frankfurt des achtzehnten Jahrhunderts um den Faktor 2 "zivilisierter", selbst wenn man die inzwischen um ein Vielfaches gestiegene Einwohnerzahl berücksichtigt. Die Ursachen sind im zeitspezifischen Kontext zu suchen, wobei unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielten: institutionelle und soziale Kontrolle, ökonomische Prozesse, reichspolitische Umstände sowie Krieg und Frieden in einer ständischen Gesellschaft.

Wie Eibach herausgefunden hat, bestätigen die umfangreichen Frankfurter Justizakten einen Trend, der sich auch in anderen Städten und Regionen in der frühen Neuzeit beobachten läßt: die starke Zunahme der Eigentumsdelikte, wenngleich Frankfurt in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts keine spektakulären Steigerungsraten bei Diebstahl und anderen Vergehen gegen das Eigentum aufweist. Das hat nur zum Teil mit dem Anstieg des Brotpreises zu tun. Diebstahl, Einbruch und Raub waren hier kein "social crime", keine Form des sozialen Protestes unterprivilegierter Schichten gegen ungleiche Einkommensverhältnisse. Gleichwohl hat die Eigentumsdelinquenz auch in der Messestadt Frankfurt einen sozialen und ökonomischen Hintergrund. Die sozialstatistische Auswertung der Frankfurter Kriminalakten läßt nach Eibach nur den Schluß zu: "Die meisten stahlen, um zu überleben."

Und wie sah es mit der Gewaltdelinquenz aus? Trotz der bereits angesprochenen zyklischen Entwicklung lassen sich doch einige langfristige Trends beobachten. So fällt auf, daß sich im achtzehnten Jahrhundert das Bürgertum immer mehr von Gewalt als Konfliktlösungsmodell distanziert. Unter den Gewalttätern findet man ab 1750 kaum noch Patrizier, Kaufleute, Gebildete und auch keine Handwerksmeister. Eine der Ursachen scheint der kulturelle Wandel gewesen zu sein. Die bürgerlichen Schichten grenzten sich mehr und mehr von den "groben Gesellen" sowie von den "unzivilisierten" Sachsenhäusern ab und machten sich am Ende des Jahrhunderts eine weniger konfliktträchtige Geselligkeitskultur (Kaffeehaus statt Wirtsstube) zu eigen.

Eibach räumt in seiner spannend zu lesenden kriminalitätsgeschichtlichen Fallstudie auch mit einigen orts- und kulturgeschichtlichen Legenden auf. Dazu gehört das Vorurteil über die Bewohner des Frankfurter Stadtteils Sachenhausen, die sich angeblich schnell beleidigen lassen und denen die "nervigte Faust", wie der Frankfurter Pfarrer Anton Kirchner 1818 bemerkte, recht locker saß. Nur zehn von insgesamt neunundvierzig im Untersuchungszeitraum aktenkundig gewordenen Nachbarschaftskonflikten mit Körperverletzung ereigneten sich jenseits des Mains, der bis heute noch gelegentlich als "kulturalistische Wasserscheide" (Eibach) angesehen wird. Das Klischee vom "primitiven", sauf- und rauflustigen Sachsenhäuser hat seinen Ursprung also nicht in der damaligen Kriminalstatistik.

Gleichzeitig bekräftigt Eibachs methodologisch vorbildliche Auswertung der komplexen Quellenüberlieferung Erkenntnisse der neueren Kriminalitätsforschung, die in Deutschland vor allem mit den Arbeiten Gerd Schwerhoffs verbunden ist. Auch im Falle Frankfurts läßt sich der Trend zum Vordringen obrigkeitlicher Angebote zur Konfliktlösung (Juridifizierung) beobachten. Dadurch wurde rituellen Praktiken (etwa Rügebräuche) allmählich der Boden entzogen. Weiterhin gilt auch für die Reichsstadt: Nicht Geschlecht oder Vermögen waren das entscheidende Urteilskriterium, sondern die Tatsache, ob jemand ein Einheimischer oder ein Fremder war. Zwar kamen nicht wenige Frankfurter "Spitzbuben", worunter man damals vor allem Diebe verstand, vor Gericht. Doch wenn schon nicht das Urteil, so fiel doch deren Bestrafung meist milder aus.

ROBERT JÜTTE

Joachim Eibach: "Frankfurter Verhöre". Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert. Schöningh Verlag, Paderborn 2003. 476 S., geb., 44,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einige überraschende Erkenntnisse hat Robert Jütte bei der Lektüre der "lesenswerten" und "methodologisch vorbildlichen" Habilitationsschrift von Joachim Eibach gewonnen, in der es um die städtische Kriminalität im 18. Jahrhundert geht. Zum Beispiel, dass die Häufigkeit von Verbrechen komplexen Zyklen unterworfen ist, die jede einfache Voraussage oder Erklärung fragwürdig machen. Oder zum Beispiel, dass die Bewohner des Frankfurter Stadtteils Sachsenhausen gar nicht so gewalttätig und trinkfreudig waren, wie es das überlieferte Klischee will. Das seien Ergebnisse, die, bei aller Vorsicht, durchaus ein Licht auf die Gegenwart werfen, findet der Rezensent. Ob das auch für Eibachs Erkenntnis über die gerichtliche Praxis der damaligen Zeit gilt, bleibt offen: "Nicht Geschlecht oder Vermögen waren das entscheidende Urteilskriterium, sondern die Tatsache, ob jemand ein Einheimischer oder ein Fremder war."

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