Die Frankfurter Universität zwischen Anpassung und Widerstand.War es möglich, während der Zeit des Dritten Reiches an den Universitäten frei und unabhängig zu lehren und forschen? Auf diese Frage geben die Autoren des vorliegenden Bandes eine Antwort, indem sie den wissenschaftlichen Alltag an der Universität Frankfurt in den Jahren 1930 bis 1945 anhand von Beispielen untersuchen. Behandelt werden Forscher verschiedener Fakultäten und Fächer, ihr persönliches und berufliches Schicksal zwischen Machtergreifung und Kriegsende.Die Autoren zeichnen ein facettenreiches Bild der Frankfurter Universität, ihrer Angehörigen und deren Schicksal zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Unterstützung des Regimes und dem häufig erzwungenen Exil. Die Lebenswege zeigen, dass Wissenschaftler durchaus Handlungsspielräume besaßen und nutzten.Die Aufsätze dokumentieren eine Vortragsreihe zum 90. Jahrestag der Gründung der Universität Frankfurt am Main, die Mitarbeiter des Historischen Seminars in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Universitätsarchiv im Wintersemester 2004/05 veranstalteten. Der Band erscheint in der Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs, in der Beiträge zur Geschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität publiziert werden. Die Schriftenreihe wird herausgegeben von Notker Hammerstein und Michael Maaser.InhaltsverzeichnisJohannes SüssmannEinleitungCarsten KretschmannEinsatz für Deutschland? Die Frankfurter Historiker Walter Platzhoff und Paul Kirn im »Dritten Reich«Frank Estelmann / Olaf MüllerAngepasster Alltag in der Frankfurter Germanistik und Romanistik: Franz Schultz und Erhard Lommatzsch im NationalsozialismusGudrun JägerDer jüdische Islamwissenschaftler Josef Horovitz und der Lehrstuhl für semitische Philologie an der Universität Frankfurt am Main 1915 - 1949Katja GeisenhainerFrankfurter Völkerkundler während des NationalsozialismusChristine HertlerFranz Weidenreich und die Anthropologie in Frankfurt. Weidenreichs Weg an die Frankfurter UniversitätGerald Kreft»... nunmehr judenfrei ...«. Das Neurologische Institut 1933 bis 1945Jan-Otmar HesseDie permanente Bewährungsprobe. Heinz Sauermann in der Frankfurter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät 1937-1945Stefan Ruppert»Streng wissenschaftlich und völlig unpolitisch«. Der Frankfurter Staatsrechtler Friedrich Giese in der Zeit des NationalsozialismusJörn Kobes»der ewig saublaue Himmel Istanbuls«. Der Weg der Frankfurter Wissenschaftler ins türkische Exil (1933-1945)Michael MaaserDie Frankfurter Studenten im »Dritten Reich«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2008Forschung unter dem Hakenkreuz
Von Untertauchern und Überangepassten: Eine Aufsatzsammlung zeigt, wie sich Frankfurter Wissenschaftler in der NS-Zeit verhielten
FRANKFURT. "Der Student tut nicht genug, wenn er sich nur die technischen Fähigkeiten für seinen künftigen Beruf erwirbt. Er hat sich auch über weitere Zusammenhänge Gedanken zu machen, hat insbesondere das deutsche Volk, den deutschen Staat und die deutsche Politik verstehen zu lernen." Die geistige Umpolung ging schnell: Zum Wintersemester 1933/34 war das Studium generale an der Universität Frankfurt ganz auf "Volk, Staat und Politik" ausgerichtet. Und der bis dahin höchstens durch seine starke Affinität zur elsass-lothringischen Regionalliteratur auffällig gewordene Neugermanist Franz Schultz bot dann auch schon eine Vorlesung mit dem Titel "Volk und Erde in jüngster deutscher Dichtung" an.
"Überanpassung" sei das gewesen, urteilen Frank Estelmann und Olaf Müller in ihrem Beitrag für das Buch "Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945", das die beiden Historiker Jörn Kobes und Jan-Otmar Hesse nun als ersten Band der Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs herausgegeben haben. Die elf Aufsätze widmen sich der Frankfurter Wissenschaftsgeschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Am Beispiel des Germanisten Schultz und des Romanisten Erhard Lommatzsch zeigen die beiden jungen Romanisten, wie sich jene Ordinarien verhielten, die solide Forschung und Lehre betrieben, aber nicht zu den Koryphäen ihrer Fächer zählten. Lommatzsch, ein Altfranzösisch-Fachmann, war damit beschäftigt, das recht kleine Institut am Laufen zu halten, und ignorierte die Diktatur zwölf Jahre lang, so gut es ging. Der "überangepasste" Schultz, einer der Gutachter von Walter Benjamins 1925 abgelehnter Habilitationsschrift, soll im Talar an der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 teilgenommen haben - eine Behauptung, die sich nicht belegen lässt. Solche Beispiele zeigen nach Ansicht der Autoren, wie schwer es oft ist, zu urteilen, selbst wenn Akten und Aussagen von Zeitzeugen verfügbar sind. Ein Befund, den viele andere Beiträge des Bandes stützen.
Zumal sich die Textsammlung nur am Rande den im positiven oder negativen Sinn bekannten Frankfurter Gelehrten widmet. Es geht nicht um Leo Frobenius, den Leiter des Völkerkundemuseums, sondern um das höchst unterschiedliche Schicksal seiner Mitarbeiter Lehmann, Vatter und Jensen. Es geht nicht um Otmar von Verschuer, den Gründer des eng mit dem NS-Staat verbundenen Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene, sondern um Franz Weidenreich, der die Physische Anthropologie an der Frankfurter Universität begründete und 1933 emigrieren musste. Etwa 30 Prozent der Dozenten hat die Hochschule nach Hitlers Machtergreifung eingebüßt - was laut Hesse zum Teil auch daran lag, dass die Studentenzahlen extrem sanken: Juden durften nicht studieren, politisch Andersdenkende auch nicht, später wurden viele zum Kriegsdienst eingezogen, die junge Universität, noch im Aufbau begriffen, war zeitweilig geschlossen. Gerade der Alltag in Forschung und Lehre habe die zehn Autoren interessiert, so Jan-Otmar Hesse. Der Frankfurter Privatdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der derzeit in Göttingen lehrt, widmet sich etwa dem Volkswirtschaftler Heinz Sauermann, der in einer Art "permanenter Bewährungsprobe" die Zeit des Nationalsozialismus überdauerte, um nach dem Krieg zu einem wichtigen Berater bei der Währungsreform zu werden.
Zum neunzigjährigen Bestehen der Universität 2004 hatte es mehrere Festveranstaltungen gegeben - die Historiker hingegen, die gern in größeren Dimensionen denken, haben ein solches Datum nicht für feiernswert gehalten. Sie besannen sich dann doch eines anderen und erinnerten mit einer Vortragsreihe an den Alltag unter der Diktatur. Ein wenig Aufmerksamkeit habe man so auch erregen wollen, gibt Hesse zu. Die im Sommer- und Wintersemester 2004/2005 gehaltenen und für die Publikation überarbeiteten Vorträge sind Hesse zufolge ausdrücklich als Beitrag des universitären Mittelbaus zu den Feiern zu verstehen, der so "zeigen wollte, was er leistet". Persönliche Kontakte hätten zu der Themenwahl geführt. Solche Forschungen seien gewissermaßen "Abfallprodukt" der Beschäftigung mit anderen wissenschaftshistorischen Themen: Die wenigsten Autoren arbeiteten hauptsächlich über die Zeit des Nationalsozialismus. Ihre Nebentätigkeit allerdings verschafft dem Leser hochinteressante Einblicke in ein bislang wenig beachtetes Kapitel Universitätsgeschichte.
EVA-MARIA MAGEL
Jörn Kobes und Jan-Otmar Hesse (Hrsg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Wallstein Verlag Göttingen, 251 Seiten, 29 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Untertauchern und Überangepassten: Eine Aufsatzsammlung zeigt, wie sich Frankfurter Wissenschaftler in der NS-Zeit verhielten
FRANKFURT. "Der Student tut nicht genug, wenn er sich nur die technischen Fähigkeiten für seinen künftigen Beruf erwirbt. Er hat sich auch über weitere Zusammenhänge Gedanken zu machen, hat insbesondere das deutsche Volk, den deutschen Staat und die deutsche Politik verstehen zu lernen." Die geistige Umpolung ging schnell: Zum Wintersemester 1933/34 war das Studium generale an der Universität Frankfurt ganz auf "Volk, Staat und Politik" ausgerichtet. Und der bis dahin höchstens durch seine starke Affinität zur elsass-lothringischen Regionalliteratur auffällig gewordene Neugermanist Franz Schultz bot dann auch schon eine Vorlesung mit dem Titel "Volk und Erde in jüngster deutscher Dichtung" an.
"Überanpassung" sei das gewesen, urteilen Frank Estelmann und Olaf Müller in ihrem Beitrag für das Buch "Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945", das die beiden Historiker Jörn Kobes und Jan-Otmar Hesse nun als ersten Band der Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs herausgegeben haben. Die elf Aufsätze widmen sich der Frankfurter Wissenschaftsgeschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Am Beispiel des Germanisten Schultz und des Romanisten Erhard Lommatzsch zeigen die beiden jungen Romanisten, wie sich jene Ordinarien verhielten, die solide Forschung und Lehre betrieben, aber nicht zu den Koryphäen ihrer Fächer zählten. Lommatzsch, ein Altfranzösisch-Fachmann, war damit beschäftigt, das recht kleine Institut am Laufen zu halten, und ignorierte die Diktatur zwölf Jahre lang, so gut es ging. Der "überangepasste" Schultz, einer der Gutachter von Walter Benjamins 1925 abgelehnter Habilitationsschrift, soll im Talar an der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 teilgenommen haben - eine Behauptung, die sich nicht belegen lässt. Solche Beispiele zeigen nach Ansicht der Autoren, wie schwer es oft ist, zu urteilen, selbst wenn Akten und Aussagen von Zeitzeugen verfügbar sind. Ein Befund, den viele andere Beiträge des Bandes stützen.
Zumal sich die Textsammlung nur am Rande den im positiven oder negativen Sinn bekannten Frankfurter Gelehrten widmet. Es geht nicht um Leo Frobenius, den Leiter des Völkerkundemuseums, sondern um das höchst unterschiedliche Schicksal seiner Mitarbeiter Lehmann, Vatter und Jensen. Es geht nicht um Otmar von Verschuer, den Gründer des eng mit dem NS-Staat verbundenen Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene, sondern um Franz Weidenreich, der die Physische Anthropologie an der Frankfurter Universität begründete und 1933 emigrieren musste. Etwa 30 Prozent der Dozenten hat die Hochschule nach Hitlers Machtergreifung eingebüßt - was laut Hesse zum Teil auch daran lag, dass die Studentenzahlen extrem sanken: Juden durften nicht studieren, politisch Andersdenkende auch nicht, später wurden viele zum Kriegsdienst eingezogen, die junge Universität, noch im Aufbau begriffen, war zeitweilig geschlossen. Gerade der Alltag in Forschung und Lehre habe die zehn Autoren interessiert, so Jan-Otmar Hesse. Der Frankfurter Privatdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der derzeit in Göttingen lehrt, widmet sich etwa dem Volkswirtschaftler Heinz Sauermann, der in einer Art "permanenter Bewährungsprobe" die Zeit des Nationalsozialismus überdauerte, um nach dem Krieg zu einem wichtigen Berater bei der Währungsreform zu werden.
Zum neunzigjährigen Bestehen der Universität 2004 hatte es mehrere Festveranstaltungen gegeben - die Historiker hingegen, die gern in größeren Dimensionen denken, haben ein solches Datum nicht für feiernswert gehalten. Sie besannen sich dann doch eines anderen und erinnerten mit einer Vortragsreihe an den Alltag unter der Diktatur. Ein wenig Aufmerksamkeit habe man so auch erregen wollen, gibt Hesse zu. Die im Sommer- und Wintersemester 2004/2005 gehaltenen und für die Publikation überarbeiteten Vorträge sind Hesse zufolge ausdrücklich als Beitrag des universitären Mittelbaus zu den Feiern zu verstehen, der so "zeigen wollte, was er leistet". Persönliche Kontakte hätten zu der Themenwahl geführt. Solche Forschungen seien gewissermaßen "Abfallprodukt" der Beschäftigung mit anderen wissenschaftshistorischen Themen: Die wenigsten Autoren arbeiteten hauptsächlich über die Zeit des Nationalsozialismus. Ihre Nebentätigkeit allerdings verschafft dem Leser hochinteressante Einblicke in ein bislang wenig beachtetes Kapitel Universitätsgeschichte.
EVA-MARIA MAGEL
Jörn Kobes und Jan-Otmar Hesse (Hrsg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Wallstein Verlag Göttingen, 251 Seiten, 29 Euro.
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