Internationally bestselling icon Winterson's highly anticipated new book is an audacious love story that weaves disparate lives into an exploration of transhumanism, artificial intelligence, and queer love.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Der Held
hat recht
Die Auferstehung von Don Quijote und
Frankenstein im 21. Jahrhundert
VON MARIE SCHMIDT
Der postmoderne Autor ist noch nicht tot. Aber sehr krank. Sein Sohn fährt ihn durch Amerika, zu den Schauplätzen seines letzten Buches. So geschieht es auf der zweiten Handlungsebene von Salman Rushdies neuem Roman „Quichotte“. Der fiktive Autor (in dem sich unverkennbar der reale Autor Rushdie spiegelt) erklärt, der Roman, an dem er gerade arbeite, sei eine kulturpessimistischen Geschichte im Gewand eines pikaresken Romans. Glaubst du dir eigentlich, was du da schreibst, fragt der Sohn und der Autor reagiert bockig: „,Ich halte es für legitim, dass ein in heutiger Zeit gefertigtes Kunstwerk aussagt, wir seien durch die Kultur, die wir geschaffen haben, verkrüppelt, vor allem durch ihre populärsten Elemente‘, antwortet er. ,Und durch die Dummheit, die Ignoranz und die Heuchelei, ja.‘ ,Was hast du dagegen getan?‘, fragte Sohn. ,Was war dein Beitrag?‘“
Das ist keine private Frage, sondern die große Frage der Nachkommen, die jetzt als Klimademonstranten auf die Straße gehen. Eine Menschheitsfrage, die immer wiederkommt, wenn auf Hybris und Fortschrittsglauben Zeiten der Reue folgen. Solche Zeiten sind jetzt. Wobei man sagen könnte, dass gerade die Literatur es schon immer besser wusste: Von Michel Houellebeqc über Sybille Berg, von Kazuo Ishiguro über Margaret Atwood ist die Gegenwart dystopisch extrapoliert worden. In den Nachrichten scheinen sich die Voraussagen zu erfüllen: Populismus, Backlash, Selbstabschaffung zugunsten künstlicher Intelligenz, Klimakrise. „Es gab Momente“, schreibt Salman Rushdie über den „Bruder“ genannten fiktiven Autor in seinem Roman, „da meinte er, die ganze Welt sei ein Echo auf das Buch, das er gerade schrieb.“ Als erschrecke der Literat vor Geistern, die ausgerechnet er gerufen hat.
Der postmoderne Spaß daran, mit Sprache und Fiktion die Wirklichkeit ummodeln zu können, scheint in Selbstzweifel und Größenwahn umgeschlagen. Aus dieser Stimmung heraus erstehen jetzt zwei Gestalten des Kanons der Weltliteratur wieder auf: Bei Rushdie die Titelfigur des (Adorno zufolge) ersten bürgerlichen Romans überhaupt, „Don Quijote von der Mancha“. Ein Held, der übrigens schon im 1615 erschienenen zweiten Teil des Originals von Miguel de Cervantes über seinen Erfolg in der außerfiktiven Welt sinnierte. Metafiktionale Selbstkommentierung ist so alt, wie der moderne Roman selbst.
Im Roman „Frankissstein“ der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson kommt der Erfinder aus Mary Shelleys „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ wieder. Wobei weder Rushdie noch Winterson so tun, als müsse man die Klassiker im Lichte der Gegenwart neu schreiben. Auch das wäre Hybris. Vielmehr kommen in ihren Erzählungen die alten Typen als Wiedergänger vor. Zwischen den Fiktionsebene hindurch schlüpfen sie in die Gegenwart, wie Geister der Ahnen, die jemand gerufen hat, um nicht so allein zu sein. Und sich vor Augen zu führen, dass die Probleme der Gegenwart nicht neu sind.
Viktor Frankenstein, Erfinder aus dem Roman von 1818, der ein künstliches Wesen erschafft, menschenähnlich aber monströs, taucht bei Winterson im 21. Jahrhundert als „Viktor Stein“ auf: Fachbereich „maschinelles Lernen und menschliche Verbesserung“. In seinem Labor wird an intelligenten Prothesen geforscht und dem Auslesen der Daten aus Menschengehirnen. Das Ziel ist die Unsterblichkeit, zumindest des Bewusstseins, der Übergang in die „Transhumanität“: „Die Menschen machen eine Evolution durch. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir hier einen Teil unserer eigenen Evolution selbst denken und entwerfen.“ Stein trifft einen transsexuellen Arzt namens Ry Shelley: „Er hielt meine Hand fest: Sind wir uns schon einmal begegnet? Und die seltsame, für einen Sekundenbruchteil aufblitzende Antwort aus einer anderen Welt lautet: Ja.“
Offensichtlich ist Ry ebenfalls ein Wiedergänger, nämlich der der Schriftstellerin Mary Shelley. Wintersons Roman verfügt (wie Rushdies) über zwei Handlungsebenen, und die Metaebene gehört hier der Schöpferin des Ur-Frankenstein. Deren Geschichte beginnt Winterson mit einer der berühmtesten Szenen der englischen Literaturgeschichte: Mary Shelley und ihr Mann, der Dichter Percy Shelley, Lord Byron, dessen Arzt Polidori und Marys Stiefschwester Claire verbringen den Sommer 1816 am Genfer See. Die Leute der Umgebung haben Fernrohre aufgestellt, um die Freigeister im Auge zu behalten. Es regnet ununterbrochen. Man ist also ans Haus gefesselt, erzählt sich Geschichten, und genau da fällt Mary Shelley ihr „Frankenstein“ ein, der sie unsterblich machen wird.
Jeanette Winterson lässt es zwischen Ry Shelley und Viktor Stein, den Wiedergängern der Autorin und ihres Geschöpfs zu einer leise gruseligen Liebesgeschichte kommen. Im Hintergrund beschreibt sie die Lage der historischen Mary. Die Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft ist mit dem Dichter Shelley durchgebrannt. Von ihren fünf Kindern überlebt nur eins, der Tod ist ein Begleiter, gleichzeitig hört sie, wie Forscher versuchen mit Elektrizität tote Körper zu beleben. Sie sieht die Pauperisierung der Arbeiter in der Frühindustrialisierung. Die Fragen, die sie auf die Geschichte des Monsters bringen, das seinen Erfinder überwältigt, sind die bangen, existenziellen Fragen, die sich in Zeiten von KI und Spätkapitalismus immer noch stellen: Was ist der Körper? Sind wir Menschen an ihn gefesselt? Macht uns der technische Fortschritt unabhängig, abhängig oder überflüssig? Wie werden wir mit unseren Erfindungen zusammenleben?
Als Schriftstellerin ist Mary Shelley aber auch Ahnfrau der Schriftstellerin Jeanette Winterson, die sich da in eine Genealogie einschreibt. Dazu gehört auch Ada Lovelace, Tochter von Byron und frühe Programmiererin. Auf den verschiedenen Erzählebenen stellt Winterson Demiurgen aller Art nebeneinander: den Monster-Vater Frankenstein, die Schriftstellerin Mary mit ihrer unsterblichen Figur, Ada, Geist der Rechenmaschinen und Computer, den Transsexuellen, der sich den Körper nimmt, den er braucht und Stein, der mit seinen künstlichen Gehirnen eine neue Lebensform schafft. Weil sich die Geschichte immer auch als Farce wiederholt, gibt es dazu eine groteske Gegenfigur, einen im Sexroboter-Business beschäftigten Mann namens Ron Lord, der einsame Männern mit faltbaren Frauen beliefert.
Winterson erzählt all das in witzigen Dialogen und verlässt sich ziemlich umstandslos auf die Routine ihrer Leserinnen und Leser mit alternativen Realitäten und Fiktionsebenen. Die Pointe dieses Romans liegt im Dazwischen, in Analogien und Ähnlichkeiten. Ohne generalisieren zu dürfen, ergibt der Vergleich von Wintersons Roman mit Rushdies nicht minder in Zitaten und Metafiktionen verfangenem „Quichotte“: Die postmoderne Autorin Winterson solidarisiert sich mit ihren Vorgängerinnen gegen die Selbstabschaffung des Menschen. Der postmoderne Autor Rushdie begehrt auf gegen den eigenen Untergang zwischen den verschiedenen Schichten seiner Fiktion und schiebt Einfall um Einfall zwischen sich und eine Apokalypse, die er selbst heraufbeschwört.
Der Wiedergänger des „Ritters von der traurigen Gestalt“ in Rushdies „Quichotte“ ist offenbar auch ideeller Verwandter der Hauptfigur des amerikanischen Meisterwerks „Moby Dick“, denn er heißt Ismael, Ismael Smile: Ein alternder Pharmavertreter, der „angesichts seiner Liebe zum geistlosen Fernsehen viel zu viel Lebenszeit im gelben Licht von geschmacklosen Motelzimmern verbrachte, wo er es bis zum Exzess schaute“. Nicht Ritterromane (wie dem Ur-Quichotte), sondern TV-Shows haben ihm die Wahrnehmung verzogen, seine Dulcinea ist eine medikamentenabhängige Talkshow-Moderatorin. Einen Sohn namens Sancho zaubert er sich in einem magischen Ritual herbei, und der taucht auf wie ein Hologrammbild.
Dieser Sancho ist die rührendste Figur des Romans, denn als imaginäres Geschöpf seines Vaters hängt er zunächst so hilflos von dessen wirren Bewusstsein ab, wie der Leser vom Rausch der Zitate, Nebenhandlungen, Anekdoten dieses Romans. Allerdings macht er sich („Werde real, Sancho“) unabhängig, während der Leser sich vor lauter Wiedererkennen mit einer Art quichottischen Paranoia ansteckt: Der von Cable News besessene Regierungschef, die Opioidkrise, absurde rassistische Übergriffe – das ist Amerika. Leute, die sich in Mammuts verwandeln, das sind Eugène Ionescos „Nashörner“, der Unternehmer und Millionär Evel Cent, der behauptet den Zugang zu einem parallelen Universum zu haben, ist eine Art zu Ende gedachter Elon Musk. Alles steht für etwas anderes und alles hängt mit allem zusammen.
Und die jeweils nächsthöhere Instanz im Weltwissen des Romans, etwa der Autor auf der Metaebene der Geschichte, ist nur selbst wieder verwickelt, in einen Agentenplot und eine traurige Familiengeschichte. Es scheint unter diesen Bedingungen kein außerhalb der Fiktion mehr zu geben, man muss es taumelnd genießen, wie einen der Roman zwingt, die Grenzen zwischen Realitäten, fiktiven und alternativen Welten und der Wirklichkeit zu übergehen, um seiner Quest folgen zu können. Die Zerstörung der Wahrheit durch Trolle und Cyber-Kriege, fragt sich der fiktive Autor einmal, „wie unterschied sich das von der Fiktion, die er machte und die ihn nun fest in der Schlinge hatte? Nur dass er nicht versuchte, die westliche Zivilisation zu Fall zu bringen, Entschuldigung. Das war ein kleiner Unterschied.“ Rushdie schreibt seinen „Quichotte“ gewissermaßen als bombastisches Werk des Trotzes gegen den Vorwurf, die stets an den Grenzen zwischen Fiktion und Realität manipulierende postmoderne Kultur, habe die Politik des Post-Truth-Zeitalters verursacht. Die Literatur hat das nur im aufklärerischen Sinne getan, demonstriert Rushdie. Dafür ist Quichotte sicher der richtige Gefährte, denn, wie Lord Byron über das Original schrieb, der „Held hat recht... seine Tugend macht ihn toll“.
Quichotte ist ein alternder
Pharmavertreter, dem zu viel
TV die Wahrnehmung verschiebt
„Nur dass er nicht versuchte,
die westliche Zivilisation zu Fall
zu bringen, Entschuldigung.“
Die Politologin Hadija Haruna arbeitet als Journalistin und Moderatorin.
Sie beschäftigt sich mit Migration und Rassismusforschung, unter anderem hat sie
mit dem „Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch“ eine Handreichung
für Medienmacher geschrieben, die helfen soll, Stereotype zu vermeiden. Ihr Leseort
ist der Frankfurter Hauptfriedhof mit seinen prächtigen Portalen und Mausoleen.
Jeanette Winterson: Frankissstein.
Eine Liebesgeschichte. Aus dem
Englischen von Michaela Grabinger
und Brigitte Walitzek.
Kein und Aber Verlag, Zürich 2019.
400 Seiten, 22 Euro.
Salman Rushdie: Quichotte.
Roman. Aus dem Englischen
von Sabine Herting.
C. Bertelsmann Verlag,
München 2019.
464 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
hat recht
Die Auferstehung von Don Quijote und
Frankenstein im 21. Jahrhundert
VON MARIE SCHMIDT
Der postmoderne Autor ist noch nicht tot. Aber sehr krank. Sein Sohn fährt ihn durch Amerika, zu den Schauplätzen seines letzten Buches. So geschieht es auf der zweiten Handlungsebene von Salman Rushdies neuem Roman „Quichotte“. Der fiktive Autor (in dem sich unverkennbar der reale Autor Rushdie spiegelt) erklärt, der Roman, an dem er gerade arbeite, sei eine kulturpessimistischen Geschichte im Gewand eines pikaresken Romans. Glaubst du dir eigentlich, was du da schreibst, fragt der Sohn und der Autor reagiert bockig: „,Ich halte es für legitim, dass ein in heutiger Zeit gefertigtes Kunstwerk aussagt, wir seien durch die Kultur, die wir geschaffen haben, verkrüppelt, vor allem durch ihre populärsten Elemente‘, antwortet er. ,Und durch die Dummheit, die Ignoranz und die Heuchelei, ja.‘ ,Was hast du dagegen getan?‘, fragte Sohn. ,Was war dein Beitrag?‘“
Das ist keine private Frage, sondern die große Frage der Nachkommen, die jetzt als Klimademonstranten auf die Straße gehen. Eine Menschheitsfrage, die immer wiederkommt, wenn auf Hybris und Fortschrittsglauben Zeiten der Reue folgen. Solche Zeiten sind jetzt. Wobei man sagen könnte, dass gerade die Literatur es schon immer besser wusste: Von Michel Houellebeqc über Sybille Berg, von Kazuo Ishiguro über Margaret Atwood ist die Gegenwart dystopisch extrapoliert worden. In den Nachrichten scheinen sich die Voraussagen zu erfüllen: Populismus, Backlash, Selbstabschaffung zugunsten künstlicher Intelligenz, Klimakrise. „Es gab Momente“, schreibt Salman Rushdie über den „Bruder“ genannten fiktiven Autor in seinem Roman, „da meinte er, die ganze Welt sei ein Echo auf das Buch, das er gerade schrieb.“ Als erschrecke der Literat vor Geistern, die ausgerechnet er gerufen hat.
Der postmoderne Spaß daran, mit Sprache und Fiktion die Wirklichkeit ummodeln zu können, scheint in Selbstzweifel und Größenwahn umgeschlagen. Aus dieser Stimmung heraus erstehen jetzt zwei Gestalten des Kanons der Weltliteratur wieder auf: Bei Rushdie die Titelfigur des (Adorno zufolge) ersten bürgerlichen Romans überhaupt, „Don Quijote von der Mancha“. Ein Held, der übrigens schon im 1615 erschienenen zweiten Teil des Originals von Miguel de Cervantes über seinen Erfolg in der außerfiktiven Welt sinnierte. Metafiktionale Selbstkommentierung ist so alt, wie der moderne Roman selbst.
Im Roman „Frankissstein“ der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson kommt der Erfinder aus Mary Shelleys „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ wieder. Wobei weder Rushdie noch Winterson so tun, als müsse man die Klassiker im Lichte der Gegenwart neu schreiben. Auch das wäre Hybris. Vielmehr kommen in ihren Erzählungen die alten Typen als Wiedergänger vor. Zwischen den Fiktionsebene hindurch schlüpfen sie in die Gegenwart, wie Geister der Ahnen, die jemand gerufen hat, um nicht so allein zu sein. Und sich vor Augen zu führen, dass die Probleme der Gegenwart nicht neu sind.
Viktor Frankenstein, Erfinder aus dem Roman von 1818, der ein künstliches Wesen erschafft, menschenähnlich aber monströs, taucht bei Winterson im 21. Jahrhundert als „Viktor Stein“ auf: Fachbereich „maschinelles Lernen und menschliche Verbesserung“. In seinem Labor wird an intelligenten Prothesen geforscht und dem Auslesen der Daten aus Menschengehirnen. Das Ziel ist die Unsterblichkeit, zumindest des Bewusstseins, der Übergang in die „Transhumanität“: „Die Menschen machen eine Evolution durch. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir hier einen Teil unserer eigenen Evolution selbst denken und entwerfen.“ Stein trifft einen transsexuellen Arzt namens Ry Shelley: „Er hielt meine Hand fest: Sind wir uns schon einmal begegnet? Und die seltsame, für einen Sekundenbruchteil aufblitzende Antwort aus einer anderen Welt lautet: Ja.“
Offensichtlich ist Ry ebenfalls ein Wiedergänger, nämlich der der Schriftstellerin Mary Shelley. Wintersons Roman verfügt (wie Rushdies) über zwei Handlungsebenen, und die Metaebene gehört hier der Schöpferin des Ur-Frankenstein. Deren Geschichte beginnt Winterson mit einer der berühmtesten Szenen der englischen Literaturgeschichte: Mary Shelley und ihr Mann, der Dichter Percy Shelley, Lord Byron, dessen Arzt Polidori und Marys Stiefschwester Claire verbringen den Sommer 1816 am Genfer See. Die Leute der Umgebung haben Fernrohre aufgestellt, um die Freigeister im Auge zu behalten. Es regnet ununterbrochen. Man ist also ans Haus gefesselt, erzählt sich Geschichten, und genau da fällt Mary Shelley ihr „Frankenstein“ ein, der sie unsterblich machen wird.
Jeanette Winterson lässt es zwischen Ry Shelley und Viktor Stein, den Wiedergängern der Autorin und ihres Geschöpfs zu einer leise gruseligen Liebesgeschichte kommen. Im Hintergrund beschreibt sie die Lage der historischen Mary. Die Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft ist mit dem Dichter Shelley durchgebrannt. Von ihren fünf Kindern überlebt nur eins, der Tod ist ein Begleiter, gleichzeitig hört sie, wie Forscher versuchen mit Elektrizität tote Körper zu beleben. Sie sieht die Pauperisierung der Arbeiter in der Frühindustrialisierung. Die Fragen, die sie auf die Geschichte des Monsters bringen, das seinen Erfinder überwältigt, sind die bangen, existenziellen Fragen, die sich in Zeiten von KI und Spätkapitalismus immer noch stellen: Was ist der Körper? Sind wir Menschen an ihn gefesselt? Macht uns der technische Fortschritt unabhängig, abhängig oder überflüssig? Wie werden wir mit unseren Erfindungen zusammenleben?
Als Schriftstellerin ist Mary Shelley aber auch Ahnfrau der Schriftstellerin Jeanette Winterson, die sich da in eine Genealogie einschreibt. Dazu gehört auch Ada Lovelace, Tochter von Byron und frühe Programmiererin. Auf den verschiedenen Erzählebenen stellt Winterson Demiurgen aller Art nebeneinander: den Monster-Vater Frankenstein, die Schriftstellerin Mary mit ihrer unsterblichen Figur, Ada, Geist der Rechenmaschinen und Computer, den Transsexuellen, der sich den Körper nimmt, den er braucht und Stein, der mit seinen künstlichen Gehirnen eine neue Lebensform schafft. Weil sich die Geschichte immer auch als Farce wiederholt, gibt es dazu eine groteske Gegenfigur, einen im Sexroboter-Business beschäftigten Mann namens Ron Lord, der einsame Männern mit faltbaren Frauen beliefert.
Winterson erzählt all das in witzigen Dialogen und verlässt sich ziemlich umstandslos auf die Routine ihrer Leserinnen und Leser mit alternativen Realitäten und Fiktionsebenen. Die Pointe dieses Romans liegt im Dazwischen, in Analogien und Ähnlichkeiten. Ohne generalisieren zu dürfen, ergibt der Vergleich von Wintersons Roman mit Rushdies nicht minder in Zitaten und Metafiktionen verfangenem „Quichotte“: Die postmoderne Autorin Winterson solidarisiert sich mit ihren Vorgängerinnen gegen die Selbstabschaffung des Menschen. Der postmoderne Autor Rushdie begehrt auf gegen den eigenen Untergang zwischen den verschiedenen Schichten seiner Fiktion und schiebt Einfall um Einfall zwischen sich und eine Apokalypse, die er selbst heraufbeschwört.
Der Wiedergänger des „Ritters von der traurigen Gestalt“ in Rushdies „Quichotte“ ist offenbar auch ideeller Verwandter der Hauptfigur des amerikanischen Meisterwerks „Moby Dick“, denn er heißt Ismael, Ismael Smile: Ein alternder Pharmavertreter, der „angesichts seiner Liebe zum geistlosen Fernsehen viel zu viel Lebenszeit im gelben Licht von geschmacklosen Motelzimmern verbrachte, wo er es bis zum Exzess schaute“. Nicht Ritterromane (wie dem Ur-Quichotte), sondern TV-Shows haben ihm die Wahrnehmung verzogen, seine Dulcinea ist eine medikamentenabhängige Talkshow-Moderatorin. Einen Sohn namens Sancho zaubert er sich in einem magischen Ritual herbei, und der taucht auf wie ein Hologrammbild.
Dieser Sancho ist die rührendste Figur des Romans, denn als imaginäres Geschöpf seines Vaters hängt er zunächst so hilflos von dessen wirren Bewusstsein ab, wie der Leser vom Rausch der Zitate, Nebenhandlungen, Anekdoten dieses Romans. Allerdings macht er sich („Werde real, Sancho“) unabhängig, während der Leser sich vor lauter Wiedererkennen mit einer Art quichottischen Paranoia ansteckt: Der von Cable News besessene Regierungschef, die Opioidkrise, absurde rassistische Übergriffe – das ist Amerika. Leute, die sich in Mammuts verwandeln, das sind Eugène Ionescos „Nashörner“, der Unternehmer und Millionär Evel Cent, der behauptet den Zugang zu einem parallelen Universum zu haben, ist eine Art zu Ende gedachter Elon Musk. Alles steht für etwas anderes und alles hängt mit allem zusammen.
Und die jeweils nächsthöhere Instanz im Weltwissen des Romans, etwa der Autor auf der Metaebene der Geschichte, ist nur selbst wieder verwickelt, in einen Agentenplot und eine traurige Familiengeschichte. Es scheint unter diesen Bedingungen kein außerhalb der Fiktion mehr zu geben, man muss es taumelnd genießen, wie einen der Roman zwingt, die Grenzen zwischen Realitäten, fiktiven und alternativen Welten und der Wirklichkeit zu übergehen, um seiner Quest folgen zu können. Die Zerstörung der Wahrheit durch Trolle und Cyber-Kriege, fragt sich der fiktive Autor einmal, „wie unterschied sich das von der Fiktion, die er machte und die ihn nun fest in der Schlinge hatte? Nur dass er nicht versuchte, die westliche Zivilisation zu Fall zu bringen, Entschuldigung. Das war ein kleiner Unterschied.“ Rushdie schreibt seinen „Quichotte“ gewissermaßen als bombastisches Werk des Trotzes gegen den Vorwurf, die stets an den Grenzen zwischen Fiktion und Realität manipulierende postmoderne Kultur, habe die Politik des Post-Truth-Zeitalters verursacht. Die Literatur hat das nur im aufklärerischen Sinne getan, demonstriert Rushdie. Dafür ist Quichotte sicher der richtige Gefährte, denn, wie Lord Byron über das Original schrieb, der „Held hat recht... seine Tugend macht ihn toll“.
Quichotte ist ein alternder
Pharmavertreter, dem zu viel
TV die Wahrnehmung verschiebt
„Nur dass er nicht versuchte,
die westliche Zivilisation zu Fall
zu bringen, Entschuldigung.“
Die Politologin Hadija Haruna arbeitet als Journalistin und Moderatorin.
Sie beschäftigt sich mit Migration und Rassismusforschung, unter anderem hat sie
mit dem „Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch“ eine Handreichung
für Medienmacher geschrieben, die helfen soll, Stereotype zu vermeiden. Ihr Leseort
ist der Frankfurter Hauptfriedhof mit seinen prächtigen Portalen und Mausoleen.
Jeanette Winterson: Frankissstein.
Eine Liebesgeschichte. Aus dem
Englischen von Michaela Grabinger
und Brigitte Walitzek.
Kein und Aber Verlag, Zürich 2019.
400 Seiten, 22 Euro.
Salman Rushdie: Quichotte.
Roman. Aus dem Englischen
von Sabine Herting.
C. Bertelsmann Verlag,
München 2019.
464 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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A riotous reimagining with an energy and passion all of its own that reanimates Frankenstein as a cautionary tale for a contemporary moment dominated by debates about Brexit, gender, artificial intelligence and medical experimentation... While the story has a gripping momentum of its own, it also fizzes with ideas. Daisy Hay Financial Times