Wolfang Matz' brillante Literaturgeschichte über ein zwischen Nation und Europa zerrissenes Land.Frankreich ist ein geteiltes Land. Hier die republikanische, laizistische, großstädtische Linke, entstanden aus den Ideen von 1789, die ganz Europa verändert haben, dort die nationale, katholische, häufig antisemitische Rechte, die Frankreich abschotten will gegen die internationale Moderne. Einmal glaubte man diese Spaltung überwunden: Im Ersten Weltkrieg verteidigten alle Parteien gemeinsam ihr Land. Doch Frankreich wurde zum besiegten Sieger, und zwischen den Kriegen machten die inneren Kämpfe die Republik wehrlos gegen die totalitären Ideologien und gegen den militärischen Feind. Die Niederlage 1940 schien diese Wehrlosigkeit zu besiegeln.Die dauernde Krise ließ die französischen Schriftsteller politisch werden wie nie zuvor. In großen Schlaglichtern ebenso wie mit hierzulande fast unbekannten Texten folgt Wolfgang Matz, der »brillante komparatistische Querläufer« (Süddeutsche Zeitung), den Intellektuellen zwischen der extremen Rechten und der radikalen Linken, zwischen einem bedingungslosen Pazifismus, der die Kollaboration mit dem Gegner in Kauf nimmt, und dem nationalen Widerstand: z. B. André Gide, Céline und Jean Giono, Simone Weil, Georges Bernanos und Drieu la Rochelle. In der zweiten Nachkriegszeit geht es noch einmal um die ideologische Deutungshoheit über die Vergangenheit und für die Zukunft: Was ist Frankreich, zerrissen zwischen der Nation und Europa? Dieser Grundkonflikt prägt Frankreich bis zum heutigen Tag, und er verleiht diesem Buch seine manchmal geradezu gespenstische Aktualität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Der große Verrat am Verstand
Gespenster der Geschichte: Der Romanist Wolfgang Matz erzählt von der politischen Polarisierung unter Frankreichs Schriftstellern und Intellektuellen.
Von Jürgen Kaube
Im Dezember 1936 notiert Julien Green ein Gespräch mit dem Schriftstellerkollegen André Gide: "Er gratuliert mir, dass ich niemals zwischen Kommunismus und Faschismus wählen wollte, ,denn', so sagt er mit etwas trauriger Stimme, ,beide sind das Gleiche'." Gide hatte einen Monat zuvor seinen sofort berühmten desillusionierten Reisebericht aus der Sowjetdiktatur Stalins publiziert, der ihn über Nacht zum Ausgestoßenen der linken Intellektuellenkreise in Paris machte. Anderthalb Jahre zuvor, im Sommer 1935, war es schon einmal zu einem Gespräch mit Green gekommen. Damals hatte Gide den jungen Schriftsteller ermahnt, er könne auf Dauer nicht unpolitisch bleiben: "Zusammenstöße zwischen links und rechts sind fast unvermeidlich. Dann können Sie sich nicht mehr hinter der Literatur verschanzen. Sie werden gezwungen sein zu wählen." Wählen zwischen Kommunismus und Faschismus, fragt Green zurück, und wenn er sich zu keinem von beiden hingezogen fühle? "Gide schüttelt den Kopf: ,Man muss wählen', wiederholt er entschlossen."
Frankreich, so schreibt der Münchner Romanist Wolfgang Matz, in dessen Buch sich beide Szenen finden, steht heute an einem entscheidenden Moment seiner Geschichte. Zwei Drittel aller Wähler haben den jetzigen Präsidenten Macron gewählt, dessen Wahlspruch "Weder rechts noch links" war. Aber im ersten Wahlgang hatten die Kandidaten der Rechts- und Linksextremen mehr Stimmen als jemals zuvor; gemeinsam vierzig Prozent. Die einen wollen ein altes, monokulturelles Frankreich wiederhaben und aus der Europäischen Union austreten, die anderen den Kapitalismus von Paris aus abschaffen, was auch dem "Front National" mit seinem "ökonomischen Patriotismus" vorschwebt.
Für Matz sind diese Extreme Gespenster. Sie kommen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als sich Frankreich intellektuell und politisch teilte. Die Provinz und die Großstadt, katholisch und laizistisch, Tradition und Aufklärung - das waren seit 1789 Gegensätze. Um 1900 füllen sie sich mit Hass, zunächst vor allem auf Seiten der Rechten, die in Nation, Kirche und ständischem Denken Gegenmittel gegen die erste Globalisierung vermutete. Katalysator war die Affäre um den Hauptmann Dreyfus, den man 1895 wegen Spionage für Deutschland verurteilt hatte, was die französische Rechte noch begrüßte, als längst seine Unschuld erwiesen war. Die angebliche kosmopolitische Verschwörung von Freimaurern, Juden und Protestanten war für sie zu schön, um nicht zumindest in höherem Sinne wahr zu sein.
Die Politisierung der Schriftsteller, die nun einsetzte, war von beispielloser Intensität. Sie genossen geradezu die giftigen Auseinandersetzungen, berauschten sich am Gift der Prinzipien. Man muss wählen, aber kann man Sozialist und katholisch sein? Katholisch und homosexuell? Dandy und links, Ästhet und religiös? Monarchist ohne antisemitische Einstellung? Kommunist und Patriot? Kommunist und Gegner der Sowjetunion? Pazifist, aber konservativ? Gegen rechts und gegen links? Für den Nationalsozialismus und zugleich für Frankreich?
Auf jede dieser Fragen antworteten intellektuelle Lebensentwürfe und Werke, von Charles Péguy über Léon Bloy, Jean Giraudoux, Drieu la Rochelle und Georges Bernanos bis Louis Aragon und Jean Giono. Alle einst berühmte Schriftsteller, manche davon Autoren inzwischen zu Unrecht vergessener Bestseller, die meisten von ihnen viel interessanter als ihre zeitgenössischen deutschen Kollegen. Alle extrem. Auf zweihundert Seiten zeichnet Wolfgang Matz die Motive ihres Ideenkampfes nach sowie die quälende Zerrissenheit zweier Generationen französischer Intellektueller, die ihre ungeheure Begabung durch etwas verbrauchten, das sie für Politik hielten.
Der "Große Krieg" von 1914 bis 1918 war der zweite große Katalysator dafür. Er bringt nicht nur eine Kohorte von ehemaligen Soldaten hervor, sondern auf französischer Seite auch die Illusion, das gespaltene Land werde im Schützengraben und im Hass auf die östlichen Barbaren einig. Dazu musste der Krieg heilig sein und der gegnerische Soldat kein Mensch, eine Folgerung, die Intellektuelle desto leichter ziehen, als es dafür nur Papier und Feder braucht. Der Krieg hat keine Ursachen, wird später Simone Weil schreiben, als schon ein neuer vor der Tür stand, sondern er hat Vorwände, denn der Krieg beruht auf der kontinuierlich wachsenden Bereitschaft zu ihm.
Bis weit in die dreißiger Jahre hinein werden in Frankreich politische Romane geschrieben, die von einem Land handeln, dem der Sieg nichts genützt hat und das sich darum stetig radikalisiert. Der Erste Weltkrieg hatte riesige Schulden hinterlassen, finanzielle und mit mehr als 1,3 Millionen französischen Toten - knapp vier Prozent der Bevölkerung - auch solche, die niemand begleichen konnte. Zu all dem kam der Mythos, man habe ihn gewonnen, der nicht zur Einsicht passte, wie töricht es gewesen war, sich vom Krieg die Lösung gesellschaftlicher Konflikte zu erhoffen. "Wir sind immer noch in diesem Loch", schreibt Pierre Drieu la Rochelle 1934, "wir sind niemals rausgekommen." Zwei Jahre zuvor war Louis-Ferdinand Célines "Reise ans Ende der Nacht" erschienen, ein Roman, in dem der sprachlich virtuos entfaltete Ekel an gesellschaftlichen Sinnzuschreibungen sich mit der Bereitschaft paart, die Verachtung der Gegenwart als solche zu pflegen.
Drieu und Céline sind zwei Zentren des Buches. Drieu als Dandy und glänzender Romanautor, der ein Bürger des alten Europas und ein antibourgeoiser Revolutionär zugleich sein will, was ihn zunächst dem Surrealismus, dann dem Faschismus zuführt. Matz versucht seine Irrtümer zu verstehen, seine Verzweiflung im Versuch, sich in den Ideologien zurechtzufinden - und stößt im Ressentiment gegen die Juden, die für die Wall Street und den Kommunismus zugleich stehen sollen, auf den nicht mehr auflösbaren Hass im Kern einer intellektuellen Zerrüttung. Ihn, den Hass, hatte Céline schon sehr früh zu seinem Metier gemacht. "Wie kann man gegen alle und alles sein?" war die Frage seines Werkes. Matz analysiert es als einen Sonderfall, weil es nur etwas über seinen Autor sagt, nichts mehr über die Zeit, wenn der Affekt des Verschmähtseins und das literarische Gespür für die Brutalität der Moderne umschlagen in Rassenwahn, Sadismus, Denunziation und Mordaufrufe des Kollaborateurs.
Es war von Anfang an bei diesen Intellektuellen nicht bei Worten geblieben. Charles Maurras hatte einst vorgeschlagen, die Verteidiger von Dreyfus zu erschießen, "Feuer frei auf Léon Blum" - den ersten sozialistischen und jüdischen Ministerpräsidenten Frankreichs -, das schreibt kein Rechter, sondern so reimte der Kommunist Louis Aragon, der noch 1953, nachdem er im Reich Stalins den Terror gesehen hatte, in Paris einfach linientreu und verlogen weitermachte wie zuvor. Doch während die rechten Ideologen sich von ihrer Kollaboration und ihren Irrtümern nicht wieder erholten, sind die nicht minderen Zynismen auf Seiten von Linken wie Paul Éluard oder Jean-Paul Sartre, die über die Leichenberge des Kommunismus hinwegschrieben, zumeist nur eine Fußnote, wenn überhaupt.
Wolfgang Matz hat ein Buch geschrieben, das in hoher Dichte die ungeheuerlichsten intellektuellen Manöver unfreier Geister beschreibt. Es ist zugleich eine Hommage an die wenigen freien, die es damals gab: den katholischen Royalisten Georges Bernanos, der sich vom Faschismus abwandte, als er ihn gesehen hatte; die zum Christentum konvertierte jüdische Philosophin Simone Weil, die vom Pazifismus abließ, weil er Hitler gegenüber unmoralisch sei; den liberalen Literaturkritiker Jean Paulhan, der sich dagegen wehrte, die Definition des politischen Irrtums den Siegern der Geschichte zu überlassen. Alles Intellektuelle, die sich nicht von einer Ideologie konsumieren ließen, nicht vom Wahn des Einflusses, nicht von einem Affekt. Ihnen, den Einzelgängern des Verstandes, verdanke Frankreich, schreibt Matz, bis heute seine geistige Freiheit: und also weder Rechten noch Linken.
Wolfgang Matz: "Frankreich gegen Frankreich". Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gespenster der Geschichte: Der Romanist Wolfgang Matz erzählt von der politischen Polarisierung unter Frankreichs Schriftstellern und Intellektuellen.
Von Jürgen Kaube
Im Dezember 1936 notiert Julien Green ein Gespräch mit dem Schriftstellerkollegen André Gide: "Er gratuliert mir, dass ich niemals zwischen Kommunismus und Faschismus wählen wollte, ,denn', so sagt er mit etwas trauriger Stimme, ,beide sind das Gleiche'." Gide hatte einen Monat zuvor seinen sofort berühmten desillusionierten Reisebericht aus der Sowjetdiktatur Stalins publiziert, der ihn über Nacht zum Ausgestoßenen der linken Intellektuellenkreise in Paris machte. Anderthalb Jahre zuvor, im Sommer 1935, war es schon einmal zu einem Gespräch mit Green gekommen. Damals hatte Gide den jungen Schriftsteller ermahnt, er könne auf Dauer nicht unpolitisch bleiben: "Zusammenstöße zwischen links und rechts sind fast unvermeidlich. Dann können Sie sich nicht mehr hinter der Literatur verschanzen. Sie werden gezwungen sein zu wählen." Wählen zwischen Kommunismus und Faschismus, fragt Green zurück, und wenn er sich zu keinem von beiden hingezogen fühle? "Gide schüttelt den Kopf: ,Man muss wählen', wiederholt er entschlossen."
Frankreich, so schreibt der Münchner Romanist Wolfgang Matz, in dessen Buch sich beide Szenen finden, steht heute an einem entscheidenden Moment seiner Geschichte. Zwei Drittel aller Wähler haben den jetzigen Präsidenten Macron gewählt, dessen Wahlspruch "Weder rechts noch links" war. Aber im ersten Wahlgang hatten die Kandidaten der Rechts- und Linksextremen mehr Stimmen als jemals zuvor; gemeinsam vierzig Prozent. Die einen wollen ein altes, monokulturelles Frankreich wiederhaben und aus der Europäischen Union austreten, die anderen den Kapitalismus von Paris aus abschaffen, was auch dem "Front National" mit seinem "ökonomischen Patriotismus" vorschwebt.
Für Matz sind diese Extreme Gespenster. Sie kommen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als sich Frankreich intellektuell und politisch teilte. Die Provinz und die Großstadt, katholisch und laizistisch, Tradition und Aufklärung - das waren seit 1789 Gegensätze. Um 1900 füllen sie sich mit Hass, zunächst vor allem auf Seiten der Rechten, die in Nation, Kirche und ständischem Denken Gegenmittel gegen die erste Globalisierung vermutete. Katalysator war die Affäre um den Hauptmann Dreyfus, den man 1895 wegen Spionage für Deutschland verurteilt hatte, was die französische Rechte noch begrüßte, als längst seine Unschuld erwiesen war. Die angebliche kosmopolitische Verschwörung von Freimaurern, Juden und Protestanten war für sie zu schön, um nicht zumindest in höherem Sinne wahr zu sein.
Die Politisierung der Schriftsteller, die nun einsetzte, war von beispielloser Intensität. Sie genossen geradezu die giftigen Auseinandersetzungen, berauschten sich am Gift der Prinzipien. Man muss wählen, aber kann man Sozialist und katholisch sein? Katholisch und homosexuell? Dandy und links, Ästhet und religiös? Monarchist ohne antisemitische Einstellung? Kommunist und Patriot? Kommunist und Gegner der Sowjetunion? Pazifist, aber konservativ? Gegen rechts und gegen links? Für den Nationalsozialismus und zugleich für Frankreich?
Auf jede dieser Fragen antworteten intellektuelle Lebensentwürfe und Werke, von Charles Péguy über Léon Bloy, Jean Giraudoux, Drieu la Rochelle und Georges Bernanos bis Louis Aragon und Jean Giono. Alle einst berühmte Schriftsteller, manche davon Autoren inzwischen zu Unrecht vergessener Bestseller, die meisten von ihnen viel interessanter als ihre zeitgenössischen deutschen Kollegen. Alle extrem. Auf zweihundert Seiten zeichnet Wolfgang Matz die Motive ihres Ideenkampfes nach sowie die quälende Zerrissenheit zweier Generationen französischer Intellektueller, die ihre ungeheure Begabung durch etwas verbrauchten, das sie für Politik hielten.
Der "Große Krieg" von 1914 bis 1918 war der zweite große Katalysator dafür. Er bringt nicht nur eine Kohorte von ehemaligen Soldaten hervor, sondern auf französischer Seite auch die Illusion, das gespaltene Land werde im Schützengraben und im Hass auf die östlichen Barbaren einig. Dazu musste der Krieg heilig sein und der gegnerische Soldat kein Mensch, eine Folgerung, die Intellektuelle desto leichter ziehen, als es dafür nur Papier und Feder braucht. Der Krieg hat keine Ursachen, wird später Simone Weil schreiben, als schon ein neuer vor der Tür stand, sondern er hat Vorwände, denn der Krieg beruht auf der kontinuierlich wachsenden Bereitschaft zu ihm.
Bis weit in die dreißiger Jahre hinein werden in Frankreich politische Romane geschrieben, die von einem Land handeln, dem der Sieg nichts genützt hat und das sich darum stetig radikalisiert. Der Erste Weltkrieg hatte riesige Schulden hinterlassen, finanzielle und mit mehr als 1,3 Millionen französischen Toten - knapp vier Prozent der Bevölkerung - auch solche, die niemand begleichen konnte. Zu all dem kam der Mythos, man habe ihn gewonnen, der nicht zur Einsicht passte, wie töricht es gewesen war, sich vom Krieg die Lösung gesellschaftlicher Konflikte zu erhoffen. "Wir sind immer noch in diesem Loch", schreibt Pierre Drieu la Rochelle 1934, "wir sind niemals rausgekommen." Zwei Jahre zuvor war Louis-Ferdinand Célines "Reise ans Ende der Nacht" erschienen, ein Roman, in dem der sprachlich virtuos entfaltete Ekel an gesellschaftlichen Sinnzuschreibungen sich mit der Bereitschaft paart, die Verachtung der Gegenwart als solche zu pflegen.
Drieu und Céline sind zwei Zentren des Buches. Drieu als Dandy und glänzender Romanautor, der ein Bürger des alten Europas und ein antibourgeoiser Revolutionär zugleich sein will, was ihn zunächst dem Surrealismus, dann dem Faschismus zuführt. Matz versucht seine Irrtümer zu verstehen, seine Verzweiflung im Versuch, sich in den Ideologien zurechtzufinden - und stößt im Ressentiment gegen die Juden, die für die Wall Street und den Kommunismus zugleich stehen sollen, auf den nicht mehr auflösbaren Hass im Kern einer intellektuellen Zerrüttung. Ihn, den Hass, hatte Céline schon sehr früh zu seinem Metier gemacht. "Wie kann man gegen alle und alles sein?" war die Frage seines Werkes. Matz analysiert es als einen Sonderfall, weil es nur etwas über seinen Autor sagt, nichts mehr über die Zeit, wenn der Affekt des Verschmähtseins und das literarische Gespür für die Brutalität der Moderne umschlagen in Rassenwahn, Sadismus, Denunziation und Mordaufrufe des Kollaborateurs.
Es war von Anfang an bei diesen Intellektuellen nicht bei Worten geblieben. Charles Maurras hatte einst vorgeschlagen, die Verteidiger von Dreyfus zu erschießen, "Feuer frei auf Léon Blum" - den ersten sozialistischen und jüdischen Ministerpräsidenten Frankreichs -, das schreibt kein Rechter, sondern so reimte der Kommunist Louis Aragon, der noch 1953, nachdem er im Reich Stalins den Terror gesehen hatte, in Paris einfach linientreu und verlogen weitermachte wie zuvor. Doch während die rechten Ideologen sich von ihrer Kollaboration und ihren Irrtümern nicht wieder erholten, sind die nicht minderen Zynismen auf Seiten von Linken wie Paul Éluard oder Jean-Paul Sartre, die über die Leichenberge des Kommunismus hinwegschrieben, zumeist nur eine Fußnote, wenn überhaupt.
Wolfgang Matz hat ein Buch geschrieben, das in hoher Dichte die ungeheuerlichsten intellektuellen Manöver unfreier Geister beschreibt. Es ist zugleich eine Hommage an die wenigen freien, die es damals gab: den katholischen Royalisten Georges Bernanos, der sich vom Faschismus abwandte, als er ihn gesehen hatte; die zum Christentum konvertierte jüdische Philosophin Simone Weil, die vom Pazifismus abließ, weil er Hitler gegenüber unmoralisch sei; den liberalen Literaturkritiker Jean Paulhan, der sich dagegen wehrte, die Definition des politischen Irrtums den Siegern der Geschichte zu überlassen. Alles Intellektuelle, die sich nicht von einer Ideologie konsumieren ließen, nicht vom Wahn des Einflusses, nicht von einem Affekt. Ihnen, den Einzelgängern des Verstandes, verdanke Frankreich, schreibt Matz, bis heute seine geistige Freiheit: und also weder Rechten noch Linken.
Wolfgang Matz: "Frankreich gegen Frankreich". Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.04.2018Troja und
andere Kriege
Wolfgang Matz über Literatur
und Ideologie in Frankreich
Dass er aus Texten das leiseste historische Knistern heraushört, hat Wolfgang Matz in seinen Büchern über Adalbert Stifter, Walter Benjamin und Rudolf Borchardt oder über die Kunst des Ehebruchs bei Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest gezeigt. In dieser Studie über die französische Literatur im Spannungsfeld des politischen Meinungskriegs werden wir mit ihm schon auf den ersten Seiten hellhörig. Der fünfundzwanzigjährige Marcel Proust erklärt dem Pariser Dandy Robert de Montesquiou 1896 in einem Brief, warum er ihm am Vorabend in einer mondänen Gesellschaft auf die Frage nach seiner Meinung über die Juden nicht geantwortet habe.
Als Halbjude, so führt er aus, hätte er sich durch eine ohne böse Absicht in die Runde geworfene Bemerkung Montesquious verletzt fühlen können. Der gepflegt unterschwellige Antisemitismus der Aristokraten und Großbürger war damals noch ein eher harmloser Standesdünkel – „Montesquiou und Proust bleiben Freunde“, beruhigt uns Matz. Während der Dreyfus-Affäre vertieft sich die Kluft aber zur Konfrontation zwischen nationalkonservativ antisemitischer Gesinnung und einer eher republikanisch fortschrittlichen Position. Verbal sei die Auseinandersetzung da schon beim Mord angelangt, schreibt Matz. Und nach Zolas „J’accuse …!“ war das Feuer eröffnet.
Matz schickt seine Leser nicht auf einen langen Marsch durch die Zeitgeschichte, er führt zu den Quellen der literarischen Texte. Die im Ersten Weltkrieg aufgekommene patriotische Einhelligkeit verrauschte schnell wieder in Meisterromanen wie „Die große Herde“ von Jean Giono, „Reise ans Ende der Nacht“ von Céline, „Die Komödie von Reims“ von Drieu la Rochelle, dem „Sommer 1914“ aus dem Zyklus „Die Thibaults“ von Roger Martin du Gard. Sie alle spiegeln ein Frankreich, das nach dem Krieg wohl als Gewinner, nicht aber als Sieger dastand. Rechte gegen Linke, Militarismus oder Pazifismus, faschistisches oder sowjetisches Modell hießen die Pole des neuen zentrifugalen Dralls. Die französischen Schriftsteller reisten nach Moskau und nach Spanien. Kaum einer aber reiste ins Deutschland der Weimarer Republik, wo gerade ein demokratisches Experiment zugrunde ging.
Zu den wenigen Ausnahmen gehörte die pazifistische Philosophin Simone Weil, die 1932 in Berlin eintraf. Im Jahr 1938 schrieb sie einen Brief an den aus dem rechtsnationalen Lager kommenden katholischen Schriftsteller Georges Bernanos. „Sie sind Royalist, doch was kümmert mich das?“, heißt es darin – ihm fühle sie sich unvergleichlich viel näher als ihren linken Kameraden. Auch Jean Giraudoux und sein 1935 uraufgeführtes Stück „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ sowie der Deutschlandkenner Romain Rolland oder der nur auf den ersten Blick unpolitische Tagebuchschreiber Julien Green porträtiert Matz als schillernde Figuren zwischen den ideologischen Fronten. Den Wegen solcher Einzelfiguren spürt Wolfgang Matz mit besonderem Geschick nach.
Er braucht solche Querläufer, um den Sog der französischen Literaten in Richtung der Extreme deutlich zu machen. Seine brillante Feinarbeit an den Texten widersteht indessen nicht immer der Versuchung, alle Details auf die Grundthese des Buchs hin zu straffen. Sie besagt, Frankreich habe stets gegen Frankreich gestanden und sich blind auf die jeweilige Ideologie versteift. Dass André Malraux und Louis Aragon – er kommt bei Matz politisch besonders schlecht weg – nach ihren Russland-Reisen keine Kritik an den dortigen Verhältnissen durchblicken ließen, dürfte, zumindest für Malraux, auch mit der Vordringlichkeit des Engagements gegen den Faschismus zu tun gehabt haben. Auch sollte man die mit André Gides Buch „Zurück aus Sowjetrussland“ 1936 dann doch mit großer Wirkung geübte Russland-Kritik nicht herunterspielen.
Solche kleinen Einwände tun aber dem thesenfreudigen, klugen Buch keinerlei Abbruch. Nie gleitet Matz in leichtfertige Anschuldigungen ab. Vielmehr nimmt er uns Leser mit auf eine so kenntnisreiche wie unterhaltsame Entdeckungsfahrt durchs literarische Frankreich und wartet mit immer neuen Trouvaillen auf. Matz lässt als genialer Dramaturg die Zitate und Anekdoten tanzen.
In der Nachkriegszeit erhöht sich im Feuer der wiedererlangten Freiheit zunächst noch der Rhythmus des Tanzes ums goldene Kalb der Ideologie, bevor er sich auflöst und an ein paar letzten Stichdaten abtröpfelt. Etwa in jener Frühlingsnacht 2017, in der ein unter dem Motto „Weder rechts noch links“ gewählter Staatspräsident im Louvre-Hof vor die Menge trat. Ist es also vorbei mit Frankreich gegen Frankreich?, fragt der Autor. Die Extreme der radikalen Linken und des Front National sind stark, aber seltsam leer, antwortet er. Dazwischen tut sich ein bisher ungeahnter Raum auf. Was dort im Untergrund vielleicht schon sprießt, dazu erfährt man aus diesem literaturgeschichtlichen Kaleidoskop mehr als aus jeder flotten Gegenwartsanalyse.
JOSEPH HANIMANN
Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 240 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Stets stand Frankreich
gegen Frankreich – ist es
damit nun vorbei?
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
andere Kriege
Wolfgang Matz über Literatur
und Ideologie in Frankreich
Dass er aus Texten das leiseste historische Knistern heraushört, hat Wolfgang Matz in seinen Büchern über Adalbert Stifter, Walter Benjamin und Rudolf Borchardt oder über die Kunst des Ehebruchs bei Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest gezeigt. In dieser Studie über die französische Literatur im Spannungsfeld des politischen Meinungskriegs werden wir mit ihm schon auf den ersten Seiten hellhörig. Der fünfundzwanzigjährige Marcel Proust erklärt dem Pariser Dandy Robert de Montesquiou 1896 in einem Brief, warum er ihm am Vorabend in einer mondänen Gesellschaft auf die Frage nach seiner Meinung über die Juden nicht geantwortet habe.
Als Halbjude, so führt er aus, hätte er sich durch eine ohne böse Absicht in die Runde geworfene Bemerkung Montesquious verletzt fühlen können. Der gepflegt unterschwellige Antisemitismus der Aristokraten und Großbürger war damals noch ein eher harmloser Standesdünkel – „Montesquiou und Proust bleiben Freunde“, beruhigt uns Matz. Während der Dreyfus-Affäre vertieft sich die Kluft aber zur Konfrontation zwischen nationalkonservativ antisemitischer Gesinnung und einer eher republikanisch fortschrittlichen Position. Verbal sei die Auseinandersetzung da schon beim Mord angelangt, schreibt Matz. Und nach Zolas „J’accuse …!“ war das Feuer eröffnet.
Matz schickt seine Leser nicht auf einen langen Marsch durch die Zeitgeschichte, er führt zu den Quellen der literarischen Texte. Die im Ersten Weltkrieg aufgekommene patriotische Einhelligkeit verrauschte schnell wieder in Meisterromanen wie „Die große Herde“ von Jean Giono, „Reise ans Ende der Nacht“ von Céline, „Die Komödie von Reims“ von Drieu la Rochelle, dem „Sommer 1914“ aus dem Zyklus „Die Thibaults“ von Roger Martin du Gard. Sie alle spiegeln ein Frankreich, das nach dem Krieg wohl als Gewinner, nicht aber als Sieger dastand. Rechte gegen Linke, Militarismus oder Pazifismus, faschistisches oder sowjetisches Modell hießen die Pole des neuen zentrifugalen Dralls. Die französischen Schriftsteller reisten nach Moskau und nach Spanien. Kaum einer aber reiste ins Deutschland der Weimarer Republik, wo gerade ein demokratisches Experiment zugrunde ging.
Zu den wenigen Ausnahmen gehörte die pazifistische Philosophin Simone Weil, die 1932 in Berlin eintraf. Im Jahr 1938 schrieb sie einen Brief an den aus dem rechtsnationalen Lager kommenden katholischen Schriftsteller Georges Bernanos. „Sie sind Royalist, doch was kümmert mich das?“, heißt es darin – ihm fühle sie sich unvergleichlich viel näher als ihren linken Kameraden. Auch Jean Giraudoux und sein 1935 uraufgeführtes Stück „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ sowie der Deutschlandkenner Romain Rolland oder der nur auf den ersten Blick unpolitische Tagebuchschreiber Julien Green porträtiert Matz als schillernde Figuren zwischen den ideologischen Fronten. Den Wegen solcher Einzelfiguren spürt Wolfgang Matz mit besonderem Geschick nach.
Er braucht solche Querläufer, um den Sog der französischen Literaten in Richtung der Extreme deutlich zu machen. Seine brillante Feinarbeit an den Texten widersteht indessen nicht immer der Versuchung, alle Details auf die Grundthese des Buchs hin zu straffen. Sie besagt, Frankreich habe stets gegen Frankreich gestanden und sich blind auf die jeweilige Ideologie versteift. Dass André Malraux und Louis Aragon – er kommt bei Matz politisch besonders schlecht weg – nach ihren Russland-Reisen keine Kritik an den dortigen Verhältnissen durchblicken ließen, dürfte, zumindest für Malraux, auch mit der Vordringlichkeit des Engagements gegen den Faschismus zu tun gehabt haben. Auch sollte man die mit André Gides Buch „Zurück aus Sowjetrussland“ 1936 dann doch mit großer Wirkung geübte Russland-Kritik nicht herunterspielen.
Solche kleinen Einwände tun aber dem thesenfreudigen, klugen Buch keinerlei Abbruch. Nie gleitet Matz in leichtfertige Anschuldigungen ab. Vielmehr nimmt er uns Leser mit auf eine so kenntnisreiche wie unterhaltsame Entdeckungsfahrt durchs literarische Frankreich und wartet mit immer neuen Trouvaillen auf. Matz lässt als genialer Dramaturg die Zitate und Anekdoten tanzen.
In der Nachkriegszeit erhöht sich im Feuer der wiedererlangten Freiheit zunächst noch der Rhythmus des Tanzes ums goldene Kalb der Ideologie, bevor er sich auflöst und an ein paar letzten Stichdaten abtröpfelt. Etwa in jener Frühlingsnacht 2017, in der ein unter dem Motto „Weder rechts noch links“ gewählter Staatspräsident im Louvre-Hof vor die Menge trat. Ist es also vorbei mit Frankreich gegen Frankreich?, fragt der Autor. Die Extreme der radikalen Linken und des Front National sind stark, aber seltsam leer, antwortet er. Dazwischen tut sich ein bisher ungeahnter Raum auf. Was dort im Untergrund vielleicht schon sprießt, dazu erfährt man aus diesem literaturgeschichtlichen Kaleidoskop mehr als aus jeder flotten Gegenwartsanalyse.
JOSEPH HANIMANN
Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 240 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Stets stand Frankreich
gegen Frankreich – ist es
damit nun vorbei?
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»Das Buch von Wolfgang Matz - das ist sein grosses Verdienst - arbeitet minuziös die bis heute nachwirkenden Spätfolgen ideologischer Verbohrtheit heraus.« (Ingeborg Waldinger, Neue Zürcher Zeitung, 24.09.2017) »Hier werden in hoher Dichte die ungeheuerlichen intellektuellen Manöver unfreier Geister beschrieben.« (Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2017) »Matz hat Mut, ist nüchtern, genau und glaubwürdig, das knappe Panorama ist glänzend formuliert.« (Gisela Trahms, Der Tagesspiegel, 08.11.2017) »Literarisch wie politisch nicht ohne Reiz ist die glänzend geschriebene Studie« (Nürnberger Zeitung, 13.10.2017) »Matz hat Mut, ist nüchtern, genau und glaubwürdig, das knappe Panorama ist glänzend formuliert.« (Gisela Trahms, Der Tagesspiegel, 08.11.2017) »umwerfend klug, oder: supergescheit« (Peter Natter, Osmose und Lektüre, November 2017) »Wer französische Verbohrtheiten ganz links verstehen möchte, sollte an diesem vorzüglichen Essay nicht vorbeigehen.« (Helmut Mayer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.2017) »Ein bestürzend aufklärerisches Buch über das Gift extremer Ideologien, vor allem ganz linker, die nicht nur den Charakter verderben.« (Regina Mönch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.2017) »Eine kluge Studie über die französischen Intellektuellen« (Clemens Klünemann, Stuttgarter Zeitung, 27.07.2018)