Produktdetails
- Verlag: Oldenbourg Wissenschaftsverlag
- ISBN-13: 9783486886917
- Artikelnr.: 07345330
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2004Du bist der neue Lehrling, oder?
Neues über den Galanteriewarenhändler Hermann Kafka: Der „Brief an den Vater” erhält einen Rivalen
„Ich zerreiße Dich wie einen Fisch”, hatte er gedroht. Und auch wenn nichts Schlimmeres folgte, wenn der Vater vielleicht nicht einmal daran gedacht hatte, den Sohn tatsächlich zu strafen, war die Vorstellung, wie er, Franz, vom Vater zerrissen wurde, unauslöschlich da. Die einmal ausgesprochenen Worte waren das Allerschlimmste, sie machten den Vater nicht nur zum Richter, sondern auch zum möglichen Vollstrecker der Strafe, der zuhause – ein Spiel scheinbar nur – um den Tisch lief, um den kleinen Sohn zu fassen oder nur so tat, bis er die Mutter den Jungen retten ließ. Durch seine Gnade blieb der Kleine eine weitere Weile lang am Leben.
Der grausam-gnädige Vater, das war Hermann Kafka. Oder war er es nicht? Hat der unerbittliche Tyrann aus dem „Brief an den Vater” vielleicht gar nicht so viel mit seinem realen Vorbild zu tun, wie man immer glauben wollte? War der Patriarch in Wahrheit eine milde Person, streng zwar, aber doch kein Monster?
Für Franz Kafka war er eins, und das zählt. Ganz gleich, wie sehr der Sohn übertrieben haben mag oder sich hineinsteigerte in das Paradox seines Lebens, sich vom Vater lossagen zu wollen und es doch nur im Namen des Vaters tun zu können: Wer Hermann Kafka tatsächlich war, ist für den „Brief” nicht wirklich von Bedeutung. Auch für alle anderen Kafka-Texte nicht. Es reicht das Monster im Kopf, gegen das ein um Atem ringendes Ich ankämpft. Gegen das es Prozess führt, so wie zeitgleich andere Söhne gegen die Generation ihrer Väter Prozesse führen: Arnolt Bronnen in „Vatermord”, Walter Hasenclever in „Der Sohn”, Franz Werfel in „Vater und Sohn” oder „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig”. Die Väter, egal wer im einzelnen sie sind, sitzen mit dem beginnenden zwanzigsten Jahrhundert auf der Anklagebank. Nicht die Alten, das Drama der Jungen ist entscheidend.
Wenn es in der Neuausgabe von Kafkas „Brief an den Vater”, die jetzt bei Wagenbach erschienen ist und einen unbekannten Bericht über Hermann Kafka als Lehrherrn enthält, heißt, dass „dieses Buch an dem Bild” von Franz Kafkas Vater „rüttelt”, ist das also sicher richtig. Was allerdings nicht gesagt wird, ist, was es überhaupt bringt, daran zu rütteln. Für wen hat das Konsequenzen? Schließlich kann es nicht darum gehen, dem Vater mit neu erschlossenen Dokumenten nachträglich Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Literatur ist, sogar da, wo sie von Gerechtigkeit handelt, nun einmal ungerecht. Auch um eine Korrektur der Vaterfratze kann es nicht gehen: Wenn Hermann Kafka Franz so überdimensional groß erschien, dass er selbst sich daneben verschwindend klein vorkam – „Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hingestreckt vor” –, dann sagt das vor allem etwas über den „lebensuntüchtigen” Jungen aus und weniger über den Vater. Worum also geht es?
Hermann Kafka hatte einen Galanteriewarenladen im Zentrum von Prag, in dem es Schirme, Spazierstöcke, Taschentücher, Knöpfe, Stoffe, Unterwäsche und Muffs zu kaufen gab. Lauter feine Dinge. In diesem Geschäft arbeitete von September 1892 bis Anfang 1895 der Lehrling František X. Basik, ein ehrgeiziger Proletarierjunge, der es in seiner Zeit bei den Kafkas immerhin vom Laufburschen zum Buchhalter schaffte. „Du bist der neue Lehrling, oder?”, fragte ihn Franz. Und da die Eltern Kafka ohnehin besorgt darüber waren, dass ihr Sohn keine Freunde und in der Schule außerdem Probleme mit dem Tschechischen hatte, engagierten sie Basik als Gesellschafter und Nachhilfe-Lehrer für den vier Jahre jüngeren Franz: Jeden Nachmittag lernten die beiden oben in der Wohnung, durften sich danach etwas zum Naschen kaufen und streunten durch die Stadt.
Ende der Nachhilfestunde
Als die Jungen allerdings irgendwann über Sex zu reden versuchen, Franz von seinem Kameraden wissen will, was es mit dem Kinderkriegen auf sich hat („Woher kommen die? Sag es mir!”) und František sich merkwürdig herausredet, hören die Nachhilfestunden sehr schnell auf. Gewisse Einsichten – Franz hatte zuhause natürlich alles ausgeplaudert – waren den Eltern Kafka doch nicht so lieb.
Ohne von der Karriere des Schriftstellers Franz Kafka gewusst zu haben und ohne den „Brief an den Vater” zu kennen, der damals nicht veröffentlicht war, schrieb František X. Basik 1940 seine Memoiren und widmete darin ein Kapitel der Lehrzeit im Galanteriewarenladen: „Der Geschäftsmann Kafka war ein kräftiger, ruhiger, etwa 35jähriger Mann von großer Gestalt” und „irgendwie sympathisch”, heißt es darin. Und tatsächlich klingt das entschieden anders als die Herr-und-Knecht-Zeilen aus dem „Brief”, in dem die Angestellten „bezahlte Feinde” sind der „lungenkranke Kommis” ein „Hund”, der „krepieren” soll.
Doch ist vom Patron des Ladens bei Basik genau genommen gar nicht viel die Rede. Zwar kommt er vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Eine „ungeahnte Bedeutung” haben die Memoiren deshalb auch nicht. Sie sind ein weiteres biografisches Puzzelstück zur Person Franz Kafka, die das Klima, den Dekor des Prager Alltags illustrieren, und eben dafür muss man den Detektiven, die sich auf die Suche nach immer neuen Dokumenten machen, dankbar sein. Die großen Sensationen sehen allerdings immer noch anders aus. Sie passieren eher dort, wo Texte gefunden werden, deren Spuren sich in Kafkas Literatur sichern lassen: Vor Jahren fand Wolf Kittler in Kafkas Bibliothek Bernhard Kellermanns „Der Krieg unter der Erde” und setzte die Erzählung „Der Bau” mit ihr in ein ganz anderes Licht. Vielleicht ist es besser, sich die Begeisterung für solche wirklich tollen Funde aufzusparen. Mit František X. Basik lässt sich kein Prozess entscheiden, bestreiten aber schon.
JULIA ENCKE
FRANZ KAFKA: Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2003. 140 S., 19,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Neues über den Galanteriewarenhändler Hermann Kafka: Der „Brief an den Vater” erhält einen Rivalen
„Ich zerreiße Dich wie einen Fisch”, hatte er gedroht. Und auch wenn nichts Schlimmeres folgte, wenn der Vater vielleicht nicht einmal daran gedacht hatte, den Sohn tatsächlich zu strafen, war die Vorstellung, wie er, Franz, vom Vater zerrissen wurde, unauslöschlich da. Die einmal ausgesprochenen Worte waren das Allerschlimmste, sie machten den Vater nicht nur zum Richter, sondern auch zum möglichen Vollstrecker der Strafe, der zuhause – ein Spiel scheinbar nur – um den Tisch lief, um den kleinen Sohn zu fassen oder nur so tat, bis er die Mutter den Jungen retten ließ. Durch seine Gnade blieb der Kleine eine weitere Weile lang am Leben.
Der grausam-gnädige Vater, das war Hermann Kafka. Oder war er es nicht? Hat der unerbittliche Tyrann aus dem „Brief an den Vater” vielleicht gar nicht so viel mit seinem realen Vorbild zu tun, wie man immer glauben wollte? War der Patriarch in Wahrheit eine milde Person, streng zwar, aber doch kein Monster?
Für Franz Kafka war er eins, und das zählt. Ganz gleich, wie sehr der Sohn übertrieben haben mag oder sich hineinsteigerte in das Paradox seines Lebens, sich vom Vater lossagen zu wollen und es doch nur im Namen des Vaters tun zu können: Wer Hermann Kafka tatsächlich war, ist für den „Brief” nicht wirklich von Bedeutung. Auch für alle anderen Kafka-Texte nicht. Es reicht das Monster im Kopf, gegen das ein um Atem ringendes Ich ankämpft. Gegen das es Prozess führt, so wie zeitgleich andere Söhne gegen die Generation ihrer Väter Prozesse führen: Arnolt Bronnen in „Vatermord”, Walter Hasenclever in „Der Sohn”, Franz Werfel in „Vater und Sohn” oder „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig”. Die Väter, egal wer im einzelnen sie sind, sitzen mit dem beginnenden zwanzigsten Jahrhundert auf der Anklagebank. Nicht die Alten, das Drama der Jungen ist entscheidend.
Wenn es in der Neuausgabe von Kafkas „Brief an den Vater”, die jetzt bei Wagenbach erschienen ist und einen unbekannten Bericht über Hermann Kafka als Lehrherrn enthält, heißt, dass „dieses Buch an dem Bild” von Franz Kafkas Vater „rüttelt”, ist das also sicher richtig. Was allerdings nicht gesagt wird, ist, was es überhaupt bringt, daran zu rütteln. Für wen hat das Konsequenzen? Schließlich kann es nicht darum gehen, dem Vater mit neu erschlossenen Dokumenten nachträglich Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Literatur ist, sogar da, wo sie von Gerechtigkeit handelt, nun einmal ungerecht. Auch um eine Korrektur der Vaterfratze kann es nicht gehen: Wenn Hermann Kafka Franz so überdimensional groß erschien, dass er selbst sich daneben verschwindend klein vorkam – „Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hingestreckt vor” –, dann sagt das vor allem etwas über den „lebensuntüchtigen” Jungen aus und weniger über den Vater. Worum also geht es?
Hermann Kafka hatte einen Galanteriewarenladen im Zentrum von Prag, in dem es Schirme, Spazierstöcke, Taschentücher, Knöpfe, Stoffe, Unterwäsche und Muffs zu kaufen gab. Lauter feine Dinge. In diesem Geschäft arbeitete von September 1892 bis Anfang 1895 der Lehrling František X. Basik, ein ehrgeiziger Proletarierjunge, der es in seiner Zeit bei den Kafkas immerhin vom Laufburschen zum Buchhalter schaffte. „Du bist der neue Lehrling, oder?”, fragte ihn Franz. Und da die Eltern Kafka ohnehin besorgt darüber waren, dass ihr Sohn keine Freunde und in der Schule außerdem Probleme mit dem Tschechischen hatte, engagierten sie Basik als Gesellschafter und Nachhilfe-Lehrer für den vier Jahre jüngeren Franz: Jeden Nachmittag lernten die beiden oben in der Wohnung, durften sich danach etwas zum Naschen kaufen und streunten durch die Stadt.
Ende der Nachhilfestunde
Als die Jungen allerdings irgendwann über Sex zu reden versuchen, Franz von seinem Kameraden wissen will, was es mit dem Kinderkriegen auf sich hat („Woher kommen die? Sag es mir!”) und František sich merkwürdig herausredet, hören die Nachhilfestunden sehr schnell auf. Gewisse Einsichten – Franz hatte zuhause natürlich alles ausgeplaudert – waren den Eltern Kafka doch nicht so lieb.
Ohne von der Karriere des Schriftstellers Franz Kafka gewusst zu haben und ohne den „Brief an den Vater” zu kennen, der damals nicht veröffentlicht war, schrieb František X. Basik 1940 seine Memoiren und widmete darin ein Kapitel der Lehrzeit im Galanteriewarenladen: „Der Geschäftsmann Kafka war ein kräftiger, ruhiger, etwa 35jähriger Mann von großer Gestalt” und „irgendwie sympathisch”, heißt es darin. Und tatsächlich klingt das entschieden anders als die Herr-und-Knecht-Zeilen aus dem „Brief”, in dem die Angestellten „bezahlte Feinde” sind der „lungenkranke Kommis” ein „Hund”, der „krepieren” soll.
Doch ist vom Patron des Ladens bei Basik genau genommen gar nicht viel die Rede. Zwar kommt er vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Eine „ungeahnte Bedeutung” haben die Memoiren deshalb auch nicht. Sie sind ein weiteres biografisches Puzzelstück zur Person Franz Kafka, die das Klima, den Dekor des Prager Alltags illustrieren, und eben dafür muss man den Detektiven, die sich auf die Suche nach immer neuen Dokumenten machen, dankbar sein. Die großen Sensationen sehen allerdings immer noch anders aus. Sie passieren eher dort, wo Texte gefunden werden, deren Spuren sich in Kafkas Literatur sichern lassen: Vor Jahren fand Wolf Kittler in Kafkas Bibliothek Bernhard Kellermanns „Der Krieg unter der Erde” und setzte die Erzählung „Der Bau” mit ihr in ein ganz anderes Licht. Vielleicht ist es besser, sich die Begeisterung für solche wirklich tollen Funde aufzusparen. Mit František X. Basik lässt sich kein Prozess entscheiden, bestreiten aber schon.
JULIA ENCKE
FRANZ KAFKA: Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2003. 140 S., 19,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2004Das Drama des begabten Vaters
Die Welt kennt Hermann Kafka nur, wie sein Sohn Franz ihn sah. Nun ist ein Dokument aufgetaucht, das ihn viel freundlicher zeigt
Am schlimmsten war diese eine Nacht. Und wer einmal von ihr gelesen hat, wird sie lange nicht vergessen. Die eine Nacht, in der der kleine Franz Kafka immer und immer wieder um ein Glas Wasser gerufen hatte. Wahrscheinlich nicht aus Durst, wie wohl fast alle Kinder, die wieder einmal keine Lust auf Schlafen haben und mit billigen Tricks den Moment des Einschlafens hinauszögern wollen und damit den Eltern auf die Nerven gehen. Nein, aus Übermut, schreibt Franz Kafka selbst. "Um mich zu unterhalten." - "Um zu ärgern." Das machte er so lange, bis der Vater kam. Hermann Kafka. Er nahm den Sohn aus dem Bett, trug ihn auf die Pawlatsche und ließ ihn im Nachthemd draußen stehen. Weiter nichts. Es ist die Schlüsselszene einer Kindheit. Kafkas Kindheit. Und eine der Schlüsselszenen seines späteren Schreibens. In seinem "Brief an den Vater", den er über dreißig Jahre später, im November 1919 verfaßte, heißt es: "Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Ums-Wasser-bittens und das außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragen-werdens, konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war."
Der Brief, der nie abgeschickt werden sollte, ist die große Abrechnung mit einem Tyrannen. Hermann Kafka trägt hier die monströsen Züge eines Sonnenkönigs, der seine Untertanen jederzeit nach Herzenslust zerdrücken könnte, wenn er nur wollte. Der das Wertvollste, was seine Untergebenen besitzen, verlacht, ihre Meinungen für nichtig hält, ihre Liebe wofür auch immer durch Ironie, Spott und Verachtung zertrümmert. Er war alles, was zählte. Für seinen Sohn das Maß aller Dinge. Sein Richter. Sein Lebenszerstörer. Sein Unglück.
Jetzt ist ein bislang unbekannter, längerer Bericht über diesen Mann aufgetaucht, den die Welt nur als Monster kennt. Zwar haben schon früher einige Zeitgenossen, wie Kafkas Lebensfreund Max Brod, darauf hingewiesen, daß dieses Bild, das einzige, das die Welt von Hermann Kafka hatte, nicht ganz der Wirklichkeit entsprach. Daß dieser Mann aus der Provinz, der sich in Prag zusammen mit seiner Frau aus dem Nichts ein gutgehendes Galanteriewarengeschäft aufgebaut hatte, im Leben außerhalb der Familie ein ganz verträglicher Mann gewesen sei. Daß er großzügig zu seinen Kindern sein konnte, Franz eine exzellente Ausbildung ermöglichte, ihm eine große Reise zum Schulabschluß schenkte, die Kinder nie schlug, was damals eher unüblich war, und auch nie einen Angestellten, und das war damals wirklich selten. Aber die Lebenserinnerungen von Frantisek X. Basík, der zweieinhalb Jahre lang Lehrjunge im Galanteriewarenladen Hermann Kafkas war, liefern einen Einblick in das Familienleben der Kafkas und die Persönlichkeit des Vaters, wie es ihn bislang nicht gegeben hat. Als Frantisek seine Erinnerungen verfaßte, 1940, war der "Brief an den Vater" noch nicht veröffentlicht, und Frantisek wußte auch nicht, daß aus dem Sohn der Familie der Schriftsteller geworden war. Es ist also ein wirklich unabhängiger Bericht, der nicht vom Ruhm des Kafka-Nachkommen und dem Wissen über dessen späteres Leben getrübt ist. Als die Erinnerungen auf tschechisch erschienen, gab es längere Debatten um die Authentizität des Textes, doch die streitlustige Gemeinde der Kafka-Forscher scheint sich in diesem Fall einmal einig zu sein: Basíks Erinnerungen sind authentisch. In den nächsten Wochen erscheinen sie erstmals im Rahmen einer Neuausgabe des "Briefes an den Vater" bei Wagenbach auch auf deutsch.
Es beginnt mit einem Witz. Hermann Kafka beginnt mit einem Witz. Es ist ein schöner Septembermorgen im Jahr 1892, und das große Geschäft in der Zeltnergasse wird von zwei Damen und einem sehr kleinen Jungen betreten. Eine der Damen ist Frau Munk, Besitzerin eines Vermittlungsbüros für Handelsangestellte. Sie möchte den kleinen Jungen, Frantisek Basík, als Lehrling an Hermann Kafka vermitteln, einen "netten Herrn", wie sie versichert. "Hier bringe ich den Lehrling, Herr Kafka", begrüßt sie ihn. Und dieser spielt, gleich spaßbereit, den Enttäuschten: "Er scheint mir zu klein zu sein, man wird ihn hinter der Theke kaum sehen." Doch die stolze Vermittlerin versichert, er sei ja erst vierzehn und werde also noch wachsen. Und Hermann Kafka lacht. Frau Munk lacht auch, und der allzu kleine Frantisek wird angenommen.
Die Arbeit ist hart, der Chef ist streng, aber dem Frantisek ist er gleich "irgendwie sympathisch". Die Angestellten stöhnen unter der Last der Arbeit. Aber Klagen über den Chef sind selten. Die Erinnerungen aus Kafkas Brief, "Ich hörte dich im Geschäft schreien, schimpfen und wüten, wie es meiner damaligen Meinung nach in der ganzen Welt nicht wieder vorkam", bestätigen sich durch Basík nicht. Und die Menschen, die Kafka vor seiner Familie als "Tiere", "bezahlte Feinde" oder "Hunde" bezeichnete, spüren von dieser tiefen Verachtung nicht viel. Aber Basík scheint auch in einer Sonderstellung gewesen zu sein. Er wußte sich durch kleine Tricks beim Chef beliebt zu machen, malte ohne Auftrag Schilder für die Schaufenster und wurde schnell in die Schreibstube befördert. Schon nach einem halben Jahr bekam er eine Gehaltserhöhung und wurde somit eher von den anderen Bediensteten verachtet als vom großen Kafka.
Die Sache mit den Schildern bringt für Frantisek Basík noch eine weitere schöne Wendung mit sich: Hermann Kafka und seine Frau Julie, die im Geschäft eine wichtige Rolle spielte, beschließen, daß er ihrem Sohn jeden Nachmittag Nachhilfestunden im Tschechischen geben sollte. Franz Kafka, damals elf Jahre alt, hatte in der Schule Schwierigkeiten mit dem Tschechischen. Der Tscheche Basík sollte helfen. Doch in Wirklichkeit scheint es den Eltern eher um etwas anderes gegangen zu sein: Sie suchten für ihren Sohn einen Kameraden. Einen Freund. Denn wichtiger als der Tschechischunterricht war den Eltern, daß der Frantisek ihrem Franz, der keine Freunde hatte, jeden Tag "den Gesellschafter spiele". Eine Stunde Unterricht mit "einem Haferl guten Kaffee und einem Hörnchen - manchmal auch zwei", dann sollten die beiden eine Stunde spazierengehen. Jeden Tag. Und jeden Tag gab die Mutter ihrem Sohn einen Zehner, damit sie sich unterwegs etwas zum Naschen kaufen sollten. Franz habe immer geteilt, wenn auch "nicht gerade halbe-halbe". Sogar in die Sommerferien nahmen die Kafkas den Lehrling mit. Basík staunt noch vierzig Jahre später: "Wer hätte je gehört, daß der Chef den Lehrbuben mit seinen Kindern in die Sommerferien schickte!" In anderen Läden würden "die Lehrlinge geohrfeigt und für jede Dummheit geschlagen".
Doch das Glück hält nicht ewig. Denn die beiden Jungs unterhalten sich auf einem ihrer Spaziergänge darüber, was sie für "das Schönste" halten. Franz Kafka sagt: "die Freundschaft", Frantisek Basík: "das zufriedene Eheleben", und er erläutert dem staunenden Franz, daß dies auch mit Kinderkriegen zu tun habe, und diese bekämen Vater und Mutter durch gemeinsames Beten. Offenbar hatte Franz Kafka nichts Besseres zu tun, als diese Neuigkeit sofort den Eltern zu berichten, die daraufhin die Tschechischstunden und Spaziergänge der beiden für beendet erklärten. Aufklärungsversuche eines Pubertierenden für ihren kleinen Franz, und seien sie noch so naiv, waren unschicklich und mußten unterbunden werden.
So verliert Basík bald die Lust an der Arbeit, strebt nach anderen Aufgaben, einer neuen Stelle und findet sie auch bald. Vor seinem letzten Gespräch mit Kafkas Vater, seiner Kündigung, fürchtet er sich sehr. Was wird er sagen? Wird er ihm zürnen?
Doch: "Herr Kafka war ein ruhiger, fast sanfter Mensch und gerade heute in besonders guter Stimmung, was man ihm auch ansah. Er lächelte und sagte freundlich: Na, wenn Sie denken, daß es dort für Sie besser sein wird, dann gehen Sie nur am Ersten. Ich halte Sie nicht auf." Und er ging. Und ließ Franz Kafka mit seiner Familie, mit seinem Vater allein. Und die Welt mit dem Bild, das Franz von diesem zeichnete. Bis jetzt.
VOLKER WEIDERMANN
Franz Kafka: Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr. Verlag Klaus Wagenbach. 140 Seiten. 19,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Welt kennt Hermann Kafka nur, wie sein Sohn Franz ihn sah. Nun ist ein Dokument aufgetaucht, das ihn viel freundlicher zeigt
Am schlimmsten war diese eine Nacht. Und wer einmal von ihr gelesen hat, wird sie lange nicht vergessen. Die eine Nacht, in der der kleine Franz Kafka immer und immer wieder um ein Glas Wasser gerufen hatte. Wahrscheinlich nicht aus Durst, wie wohl fast alle Kinder, die wieder einmal keine Lust auf Schlafen haben und mit billigen Tricks den Moment des Einschlafens hinauszögern wollen und damit den Eltern auf die Nerven gehen. Nein, aus Übermut, schreibt Franz Kafka selbst. "Um mich zu unterhalten." - "Um zu ärgern." Das machte er so lange, bis der Vater kam. Hermann Kafka. Er nahm den Sohn aus dem Bett, trug ihn auf die Pawlatsche und ließ ihn im Nachthemd draußen stehen. Weiter nichts. Es ist die Schlüsselszene einer Kindheit. Kafkas Kindheit. Und eine der Schlüsselszenen seines späteren Schreibens. In seinem "Brief an den Vater", den er über dreißig Jahre später, im November 1919 verfaßte, heißt es: "Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Ums-Wasser-bittens und das außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragen-werdens, konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war."
Der Brief, der nie abgeschickt werden sollte, ist die große Abrechnung mit einem Tyrannen. Hermann Kafka trägt hier die monströsen Züge eines Sonnenkönigs, der seine Untertanen jederzeit nach Herzenslust zerdrücken könnte, wenn er nur wollte. Der das Wertvollste, was seine Untergebenen besitzen, verlacht, ihre Meinungen für nichtig hält, ihre Liebe wofür auch immer durch Ironie, Spott und Verachtung zertrümmert. Er war alles, was zählte. Für seinen Sohn das Maß aller Dinge. Sein Richter. Sein Lebenszerstörer. Sein Unglück.
Jetzt ist ein bislang unbekannter, längerer Bericht über diesen Mann aufgetaucht, den die Welt nur als Monster kennt. Zwar haben schon früher einige Zeitgenossen, wie Kafkas Lebensfreund Max Brod, darauf hingewiesen, daß dieses Bild, das einzige, das die Welt von Hermann Kafka hatte, nicht ganz der Wirklichkeit entsprach. Daß dieser Mann aus der Provinz, der sich in Prag zusammen mit seiner Frau aus dem Nichts ein gutgehendes Galanteriewarengeschäft aufgebaut hatte, im Leben außerhalb der Familie ein ganz verträglicher Mann gewesen sei. Daß er großzügig zu seinen Kindern sein konnte, Franz eine exzellente Ausbildung ermöglichte, ihm eine große Reise zum Schulabschluß schenkte, die Kinder nie schlug, was damals eher unüblich war, und auch nie einen Angestellten, und das war damals wirklich selten. Aber die Lebenserinnerungen von Frantisek X. Basík, der zweieinhalb Jahre lang Lehrjunge im Galanteriewarenladen Hermann Kafkas war, liefern einen Einblick in das Familienleben der Kafkas und die Persönlichkeit des Vaters, wie es ihn bislang nicht gegeben hat. Als Frantisek seine Erinnerungen verfaßte, 1940, war der "Brief an den Vater" noch nicht veröffentlicht, und Frantisek wußte auch nicht, daß aus dem Sohn der Familie der Schriftsteller geworden war. Es ist also ein wirklich unabhängiger Bericht, der nicht vom Ruhm des Kafka-Nachkommen und dem Wissen über dessen späteres Leben getrübt ist. Als die Erinnerungen auf tschechisch erschienen, gab es längere Debatten um die Authentizität des Textes, doch die streitlustige Gemeinde der Kafka-Forscher scheint sich in diesem Fall einmal einig zu sein: Basíks Erinnerungen sind authentisch. In den nächsten Wochen erscheinen sie erstmals im Rahmen einer Neuausgabe des "Briefes an den Vater" bei Wagenbach auch auf deutsch.
Es beginnt mit einem Witz. Hermann Kafka beginnt mit einem Witz. Es ist ein schöner Septembermorgen im Jahr 1892, und das große Geschäft in der Zeltnergasse wird von zwei Damen und einem sehr kleinen Jungen betreten. Eine der Damen ist Frau Munk, Besitzerin eines Vermittlungsbüros für Handelsangestellte. Sie möchte den kleinen Jungen, Frantisek Basík, als Lehrling an Hermann Kafka vermitteln, einen "netten Herrn", wie sie versichert. "Hier bringe ich den Lehrling, Herr Kafka", begrüßt sie ihn. Und dieser spielt, gleich spaßbereit, den Enttäuschten: "Er scheint mir zu klein zu sein, man wird ihn hinter der Theke kaum sehen." Doch die stolze Vermittlerin versichert, er sei ja erst vierzehn und werde also noch wachsen. Und Hermann Kafka lacht. Frau Munk lacht auch, und der allzu kleine Frantisek wird angenommen.
Die Arbeit ist hart, der Chef ist streng, aber dem Frantisek ist er gleich "irgendwie sympathisch". Die Angestellten stöhnen unter der Last der Arbeit. Aber Klagen über den Chef sind selten. Die Erinnerungen aus Kafkas Brief, "Ich hörte dich im Geschäft schreien, schimpfen und wüten, wie es meiner damaligen Meinung nach in der ganzen Welt nicht wieder vorkam", bestätigen sich durch Basík nicht. Und die Menschen, die Kafka vor seiner Familie als "Tiere", "bezahlte Feinde" oder "Hunde" bezeichnete, spüren von dieser tiefen Verachtung nicht viel. Aber Basík scheint auch in einer Sonderstellung gewesen zu sein. Er wußte sich durch kleine Tricks beim Chef beliebt zu machen, malte ohne Auftrag Schilder für die Schaufenster und wurde schnell in die Schreibstube befördert. Schon nach einem halben Jahr bekam er eine Gehaltserhöhung und wurde somit eher von den anderen Bediensteten verachtet als vom großen Kafka.
Die Sache mit den Schildern bringt für Frantisek Basík noch eine weitere schöne Wendung mit sich: Hermann Kafka und seine Frau Julie, die im Geschäft eine wichtige Rolle spielte, beschließen, daß er ihrem Sohn jeden Nachmittag Nachhilfestunden im Tschechischen geben sollte. Franz Kafka, damals elf Jahre alt, hatte in der Schule Schwierigkeiten mit dem Tschechischen. Der Tscheche Basík sollte helfen. Doch in Wirklichkeit scheint es den Eltern eher um etwas anderes gegangen zu sein: Sie suchten für ihren Sohn einen Kameraden. Einen Freund. Denn wichtiger als der Tschechischunterricht war den Eltern, daß der Frantisek ihrem Franz, der keine Freunde hatte, jeden Tag "den Gesellschafter spiele". Eine Stunde Unterricht mit "einem Haferl guten Kaffee und einem Hörnchen - manchmal auch zwei", dann sollten die beiden eine Stunde spazierengehen. Jeden Tag. Und jeden Tag gab die Mutter ihrem Sohn einen Zehner, damit sie sich unterwegs etwas zum Naschen kaufen sollten. Franz habe immer geteilt, wenn auch "nicht gerade halbe-halbe". Sogar in die Sommerferien nahmen die Kafkas den Lehrling mit. Basík staunt noch vierzig Jahre später: "Wer hätte je gehört, daß der Chef den Lehrbuben mit seinen Kindern in die Sommerferien schickte!" In anderen Läden würden "die Lehrlinge geohrfeigt und für jede Dummheit geschlagen".
Doch das Glück hält nicht ewig. Denn die beiden Jungs unterhalten sich auf einem ihrer Spaziergänge darüber, was sie für "das Schönste" halten. Franz Kafka sagt: "die Freundschaft", Frantisek Basík: "das zufriedene Eheleben", und er erläutert dem staunenden Franz, daß dies auch mit Kinderkriegen zu tun habe, und diese bekämen Vater und Mutter durch gemeinsames Beten. Offenbar hatte Franz Kafka nichts Besseres zu tun, als diese Neuigkeit sofort den Eltern zu berichten, die daraufhin die Tschechischstunden und Spaziergänge der beiden für beendet erklärten. Aufklärungsversuche eines Pubertierenden für ihren kleinen Franz, und seien sie noch so naiv, waren unschicklich und mußten unterbunden werden.
So verliert Basík bald die Lust an der Arbeit, strebt nach anderen Aufgaben, einer neuen Stelle und findet sie auch bald. Vor seinem letzten Gespräch mit Kafkas Vater, seiner Kündigung, fürchtet er sich sehr. Was wird er sagen? Wird er ihm zürnen?
Doch: "Herr Kafka war ein ruhiger, fast sanfter Mensch und gerade heute in besonders guter Stimmung, was man ihm auch ansah. Er lächelte und sagte freundlich: Na, wenn Sie denken, daß es dort für Sie besser sein wird, dann gehen Sie nur am Ersten. Ich halte Sie nicht auf." Und er ging. Und ließ Franz Kafka mit seiner Familie, mit seinem Vater allein. Und die Welt mit dem Bild, das Franz von diesem zeichnete. Bis jetzt.
VOLKER WEIDERMANN
Franz Kafka: Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr. Verlag Klaus Wagenbach. 140 Seiten. 19,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main