Mit Franz Kafkas Werk, schrieb Albert Camus, werden wir "an die Grenzen des menschlichen Denkens versetzt": der Prager Dichter war Realist und Visionär gleichermaßen, und er schuf einzigartige literarische Bilder unserer Zeit und Existenz.
Klaus Wagenbachs Monographie ist seit vielen Jahren bewährt als Einführung in das Leben und Werk Kafkas. Jetzt erscheint der Band in einer grundlegend überarbeiteten Neufassung.
Klaus Wagenbachs Monographie ist seit vielen Jahren bewährt als Einführung in das Leben und Werk Kafkas. Jetzt erscheint der Band in einer grundlegend überarbeiteten Neufassung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2008Ein Komet unter dem Mikroskop
Zwei Bildbände erschließen uns Kafkas Leben in einer bisher nicht erreichten Vollständigkeit. Hartmut Binder und Klaus Wagenbach streiten um die Königskrone im Reich der Kafka-Realien.
Von Hubert Spiegel
Aber jeden Tag", so hielt Franz Kafka 1910 in seinem Tagebuch fest, "soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet." Zumindest dieser Wunsch Kafkas ist in Erfüllung gegangen, allerdings anders, als der Schriftsteller ihn gemeint hatte.
Denn lange bevor erkannt wurde, in welch hohem Maß Kafkas Schreiben auch der Erforschung des eigenen Selbst gewidmet war, richteten sich die Fernrohre und die Mikroskope anderer auf Leben und Werk des Prager Schriftstellers. Es ist, soviel ist sicher, seit vielen Jahrzehnten kein Tag mehr vergangen, an dem nicht eine Zeile über Kafka geschrieben wurde: Über Jahre hinweg, so hat der französische Germanist Claude David festgestellt, sind allwöchentlich mindestens zwei neue Bücher über Kafka erschienen, Artikel und Aufsätze nicht berücksichtigt.
Davids Berechnung ist jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert alt, und es mag sein, dass die Produktion der Sekundärliteratur ein wenig nachgelassen hat, aber in diesem Jahr, in dem der 125. Geburtstag des Schriftstellers ansteht, läuft sie auf Hochtouren. Oft ist dabei ein wenig abschätzig von der Kafka-Industrie die Rede. Dabei ist der Begriff keineswegs ehrenrührig, wenn man bedenkt, dass Kafkas Erwerbsleben als Beamter der "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt" dem Schutz der Arbeiter vor den Folgen der rasant voranschreitenden Industrialisierung ihrer Arbeitsplätze diente.
Zwei echte Arbeiter in Kafkas Fabriken, mit wohlverdientem Arbeiterstolz und zuweilen auch mit Arbeiterpathos ausgestattet, haben jetzt ihre jüngsten Produktionen vorgestellt. Klaus Wagenbach, Jahrgang 1930, Verleger und selbsternannte "dienstälteste Kafka-Witwe", hat seine 1983 erstmals erschienene Bildmonographie "Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben" zum dritten Mal erweitert und überarbeitet. Der Germanist Hartmut Binder, Jahrgang 1937 und Herausgeber des 1980 erstmals erschienenen "Kafka-Handbuchs", legt mit "Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern" ein Konkurrenzunternehmen vor. Beide Bücher stehen für ein Lebenswerk, denn beide Autoren sind seit Jahrzehnten als Jäger und Sammler in Sachen Kafka unterwegs, Lebensrechercheure und Literaturdetektive, immer auf der Spur nach neuen, unbekannten oder alten, seit langem verschollenen Lebenszeugnissen. Was sie zusammengetragen haben, ist schier unglaublich.
Und es ist, wenn man beide Bücher vor sich liegen hat, mehr als man zu fassen vermag: 688 Seiten mit etwa zwölfhundert Abbildungen bei Binder, 256 Seiten und Hunderte von Abbildungen bei Wagenbach, zusammen sind die Bände etwa vier Kilogramm schwer. Natürlich gibt es unendlich viele Überschneidungen, findet sich sehr vieles im einen wie im anderen Band. Die Konkurrenz ist groß, das Verhältnis beider Herren zueinander eher schlecht, die Quellenlage oft alles andere als eindeutig. So kann es nicht übermäßig verwundern, dass die beiden mittlerweile im Rechtsstreit miteinander liegen. Dass es dabei im Grunde um die Frage geht, wer der wahre König im Reich der Kafka-Realien sei, liegt auf der Hand.
Aber wem gebührt die Königskrone, wenn man die Bücher zugrundelegt? Welche Kafka-Bibel ist die bessere, wahrere, schönere? Soll man den schweren Binder kaufen oder den vergleichsweise schnittig wirkenden Wagenbach? Dass beide zahllose Dokumente zu allen Lebensstationen Kafkas bieten, von der Familie über Schule, Universität, Berufs- und Liebesleben bis zu den Reisen, Freundschaften, Verlagsbeziehungen und Sanatoriumsaufenthalten, versteht sich von selbst.
Der erste Eindruck ist der sinnliche: Beide Bücher sind in blauem Leinen gebunden, aber bei Wagenbach ist das Papier stärker und das Weiß der Seiten matter als bei Binder. Das kommt den Reproduktionen der alten Fotografien und Dokumente zugute. Man nimmt Wagenbachs Buch lieber in die Hand, es ist gefälliger, schöner, handlicher, und fast könnte man meinen, der Verleger habe hier den Beweis antreten wollen, dass in kleinen unabhängigen Verlagen die Bücher mit mehr Liebe gemacht würden als in großen Konzernverlagen.
Wagenbach gliedert seine Stofffülle in neun Kapitel, von "Familie, Kindheit" über "Das Jahr 1912" bis zu den "letzten Jahren". Binder ist viel differenzierter, viel kleinteiliger, seine Gliederung umfasst zweiundzwanzig Kapitel. Binder bietet einfach mehr - aber die Fülle wirft auch Probleme auf. Kapitel vier, um ein Beispiel zu nennen, ist auf etwa dreißig Seiten dem Weg Kafkas ins Büro gewidmet, wobei Hinweg und Rückweg noch voneinander unterscheiden werden. Hier zeigt sich Binders Anspruch besonders deutlich: Jede Straße, jedes Gebäude, über das Kafka jemals eine Zeile notiert hat, sollen uns vor Augen geführt werden. Wenn Kafka im Tagebuch am 9. November 1911 einen Traum festhält, in dem er den Altstädter Ring, die Niklasstraße, die Mariensäule, den Brunnen vor der Niklaskirche sowie den alten Rathausbrunnen erwähnt, zeigt uns Binder all dies in alten Fotografien und versäumt auch nicht den Hinweis, dass der Traum zwei Tage zurücklag, als Kafka ihn notierte. Und weil Kafka es für nötig hielt, festzuhalten, dass er den alten Rathausbrunnen nie mit eigenen Augen gesehen habe, hält Binder es nicht für überflüssig, uns diesen Brunnen auch im Bild zu präsentieren. Jetzt wissen wir, wie der "Krocinbrunnen" aussah, der fünfzehn Jahre vor Kafkas Geburt abgerissen wurde.
Und weil sein Weg den jungen "Concipisten" durch die Niklasstraße führte, wo sein Hausarzt Heinrich Kral im Haus Nr. 11 "seit 1907 seine Patienten empfing", zeigt uns Binder nicht nur ein Porträtfoto des Mediziners, sondern auch das Portal des Hauses, dessen Architekten er ebenso nennt wie den für die Ausschmückung zuständigen Bildhauer. Muss man wissen, dass dieser Bildhauer Karel Novak hieß? Nein. Will man es wissen? Eigentlich auch nicht. Aber man kann Hartmut Binder diese überflüssige Detailgenauigkeit im Bildtext zur Abbildung Nummer 214 unmöglich übelnehmen, weil man noch unter dem Eindruck der Abbildung 213 steht. Sie zeigt den Hausarzt selbst, und im dazugehörigen Text zitiert Binder nicht nur einen Tagebucheintrag Kafkas, in dem Krals Fähigkeiten angezweifelt werden, sondern bringt danach eine Kurzbiographie Krals, die mit dem Hinweis endet, Kral sei entgegen Kafkas Tagebuchnotiz wohl doch ein guter Diagnostiker gewesen, der übrigens bescheiden lebte, maßvoll aß, nur Tee trank, nicht rauchte und armen Patienten die Rechnung erließ. Binder stützt sich für diese Beschreibung auf eine Erzählung Johannes Urzidils, ein im April 1976 in London geführtes Gespräch mit Maria Bobasch sowie auf die Ausgabe des Prager Tagblatts vom 28. März 1915.
Wer wie der Rezensent sich nie ganz von dem Glauben zu lösen vermochte, man sollte Bücher Seite für Seite von vorne nach hinten lesen, wird bei Binder natürlich wahnsinnig. Aber das kann man beim Goethe-Handbuch oder der Brecht-Chronik auch haben. Wagenbach entlastet den Leser, er wählt stärker aus; die Vollständigkeit, die Binder unentwegt anstrebt, ist für ihn nur ein Ideal, wenn dessen Verwirklichung auch zumutbar bleibt, etwa im Fall jener Fotografien, die Kafka selbst zeigen. Hier verkündet schon der Klappentext stolz, dass der Band "sämtliche Portraits" enthalte. Und wenn Wagenbach ein Porträt präsentiert, das früher Kafkas Onkel Siegfried Löwy zugeschrieben wurde, aber wohl doch eher Alfred oder Josef Löwy zeigt, schreibt er salopp: "Sie als Leser haben die Wahl." Eine solche Formulierung dürfte Hartmut Binder unerträglich sein. Dass Wagenbach in Sachen Kafka Spaß verstünde, sollte man aus ihr aber vielleicht lieber auch nicht schließen.
Solche Details zeigen die Unterschiede: Beide Autoren haben eine Mission, aber Wagenbach ist der bessere Missionar. Für die positivistische, an Realien interessierte Kafka-Forschung ist Binders "Lebenschronik" zweifellos ein Meilenstein: Vollständiger ist uns die Welt, in der Kafka sich bewegte, noch nie vor Augen geführt worden. Wer solch überbordenden Detailreichtum indes als bedrohlich empfindet, ist mit Wagenbachs Band besser bedient. Die entscheidende Frage aber, wie lange uns die Lebenszeugnisse und Realien beim Lesen von Kafkas Büchern helfen und wann sie beginnen, uns den Weg zu verstellen, muss jeder Kafka-Leser für sich selbst entscheiden.
- Hartmut Binder: "Kafkas Welt". Eine Lebenschronik in Bildern. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 688 S., geb., Abb., 68,- [Euro].
- Klaus Wagenbach: "Franz Kafka". Bilder aus seinem Leben. Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 256 S., geb., Abb. 39,- [Euro].
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Zwei Bildbände erschließen uns Kafkas Leben in einer bisher nicht erreichten Vollständigkeit. Hartmut Binder und Klaus Wagenbach streiten um die Königskrone im Reich der Kafka-Realien.
Von Hubert Spiegel
Aber jeden Tag", so hielt Franz Kafka 1910 in seinem Tagebuch fest, "soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet." Zumindest dieser Wunsch Kafkas ist in Erfüllung gegangen, allerdings anders, als der Schriftsteller ihn gemeint hatte.
Denn lange bevor erkannt wurde, in welch hohem Maß Kafkas Schreiben auch der Erforschung des eigenen Selbst gewidmet war, richteten sich die Fernrohre und die Mikroskope anderer auf Leben und Werk des Prager Schriftstellers. Es ist, soviel ist sicher, seit vielen Jahrzehnten kein Tag mehr vergangen, an dem nicht eine Zeile über Kafka geschrieben wurde: Über Jahre hinweg, so hat der französische Germanist Claude David festgestellt, sind allwöchentlich mindestens zwei neue Bücher über Kafka erschienen, Artikel und Aufsätze nicht berücksichtigt.
Davids Berechnung ist jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert alt, und es mag sein, dass die Produktion der Sekundärliteratur ein wenig nachgelassen hat, aber in diesem Jahr, in dem der 125. Geburtstag des Schriftstellers ansteht, läuft sie auf Hochtouren. Oft ist dabei ein wenig abschätzig von der Kafka-Industrie die Rede. Dabei ist der Begriff keineswegs ehrenrührig, wenn man bedenkt, dass Kafkas Erwerbsleben als Beamter der "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt" dem Schutz der Arbeiter vor den Folgen der rasant voranschreitenden Industrialisierung ihrer Arbeitsplätze diente.
Zwei echte Arbeiter in Kafkas Fabriken, mit wohlverdientem Arbeiterstolz und zuweilen auch mit Arbeiterpathos ausgestattet, haben jetzt ihre jüngsten Produktionen vorgestellt. Klaus Wagenbach, Jahrgang 1930, Verleger und selbsternannte "dienstälteste Kafka-Witwe", hat seine 1983 erstmals erschienene Bildmonographie "Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben" zum dritten Mal erweitert und überarbeitet. Der Germanist Hartmut Binder, Jahrgang 1937 und Herausgeber des 1980 erstmals erschienenen "Kafka-Handbuchs", legt mit "Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern" ein Konkurrenzunternehmen vor. Beide Bücher stehen für ein Lebenswerk, denn beide Autoren sind seit Jahrzehnten als Jäger und Sammler in Sachen Kafka unterwegs, Lebensrechercheure und Literaturdetektive, immer auf der Spur nach neuen, unbekannten oder alten, seit langem verschollenen Lebenszeugnissen. Was sie zusammengetragen haben, ist schier unglaublich.
Und es ist, wenn man beide Bücher vor sich liegen hat, mehr als man zu fassen vermag: 688 Seiten mit etwa zwölfhundert Abbildungen bei Binder, 256 Seiten und Hunderte von Abbildungen bei Wagenbach, zusammen sind die Bände etwa vier Kilogramm schwer. Natürlich gibt es unendlich viele Überschneidungen, findet sich sehr vieles im einen wie im anderen Band. Die Konkurrenz ist groß, das Verhältnis beider Herren zueinander eher schlecht, die Quellenlage oft alles andere als eindeutig. So kann es nicht übermäßig verwundern, dass die beiden mittlerweile im Rechtsstreit miteinander liegen. Dass es dabei im Grunde um die Frage geht, wer der wahre König im Reich der Kafka-Realien sei, liegt auf der Hand.
Aber wem gebührt die Königskrone, wenn man die Bücher zugrundelegt? Welche Kafka-Bibel ist die bessere, wahrere, schönere? Soll man den schweren Binder kaufen oder den vergleichsweise schnittig wirkenden Wagenbach? Dass beide zahllose Dokumente zu allen Lebensstationen Kafkas bieten, von der Familie über Schule, Universität, Berufs- und Liebesleben bis zu den Reisen, Freundschaften, Verlagsbeziehungen und Sanatoriumsaufenthalten, versteht sich von selbst.
Der erste Eindruck ist der sinnliche: Beide Bücher sind in blauem Leinen gebunden, aber bei Wagenbach ist das Papier stärker und das Weiß der Seiten matter als bei Binder. Das kommt den Reproduktionen der alten Fotografien und Dokumente zugute. Man nimmt Wagenbachs Buch lieber in die Hand, es ist gefälliger, schöner, handlicher, und fast könnte man meinen, der Verleger habe hier den Beweis antreten wollen, dass in kleinen unabhängigen Verlagen die Bücher mit mehr Liebe gemacht würden als in großen Konzernverlagen.
Wagenbach gliedert seine Stofffülle in neun Kapitel, von "Familie, Kindheit" über "Das Jahr 1912" bis zu den "letzten Jahren". Binder ist viel differenzierter, viel kleinteiliger, seine Gliederung umfasst zweiundzwanzig Kapitel. Binder bietet einfach mehr - aber die Fülle wirft auch Probleme auf. Kapitel vier, um ein Beispiel zu nennen, ist auf etwa dreißig Seiten dem Weg Kafkas ins Büro gewidmet, wobei Hinweg und Rückweg noch voneinander unterscheiden werden. Hier zeigt sich Binders Anspruch besonders deutlich: Jede Straße, jedes Gebäude, über das Kafka jemals eine Zeile notiert hat, sollen uns vor Augen geführt werden. Wenn Kafka im Tagebuch am 9. November 1911 einen Traum festhält, in dem er den Altstädter Ring, die Niklasstraße, die Mariensäule, den Brunnen vor der Niklaskirche sowie den alten Rathausbrunnen erwähnt, zeigt uns Binder all dies in alten Fotografien und versäumt auch nicht den Hinweis, dass der Traum zwei Tage zurücklag, als Kafka ihn notierte. Und weil Kafka es für nötig hielt, festzuhalten, dass er den alten Rathausbrunnen nie mit eigenen Augen gesehen habe, hält Binder es nicht für überflüssig, uns diesen Brunnen auch im Bild zu präsentieren. Jetzt wissen wir, wie der "Krocinbrunnen" aussah, der fünfzehn Jahre vor Kafkas Geburt abgerissen wurde.
Und weil sein Weg den jungen "Concipisten" durch die Niklasstraße führte, wo sein Hausarzt Heinrich Kral im Haus Nr. 11 "seit 1907 seine Patienten empfing", zeigt uns Binder nicht nur ein Porträtfoto des Mediziners, sondern auch das Portal des Hauses, dessen Architekten er ebenso nennt wie den für die Ausschmückung zuständigen Bildhauer. Muss man wissen, dass dieser Bildhauer Karel Novak hieß? Nein. Will man es wissen? Eigentlich auch nicht. Aber man kann Hartmut Binder diese überflüssige Detailgenauigkeit im Bildtext zur Abbildung Nummer 214 unmöglich übelnehmen, weil man noch unter dem Eindruck der Abbildung 213 steht. Sie zeigt den Hausarzt selbst, und im dazugehörigen Text zitiert Binder nicht nur einen Tagebucheintrag Kafkas, in dem Krals Fähigkeiten angezweifelt werden, sondern bringt danach eine Kurzbiographie Krals, die mit dem Hinweis endet, Kral sei entgegen Kafkas Tagebuchnotiz wohl doch ein guter Diagnostiker gewesen, der übrigens bescheiden lebte, maßvoll aß, nur Tee trank, nicht rauchte und armen Patienten die Rechnung erließ. Binder stützt sich für diese Beschreibung auf eine Erzählung Johannes Urzidils, ein im April 1976 in London geführtes Gespräch mit Maria Bobasch sowie auf die Ausgabe des Prager Tagblatts vom 28. März 1915.
Wer wie der Rezensent sich nie ganz von dem Glauben zu lösen vermochte, man sollte Bücher Seite für Seite von vorne nach hinten lesen, wird bei Binder natürlich wahnsinnig. Aber das kann man beim Goethe-Handbuch oder der Brecht-Chronik auch haben. Wagenbach entlastet den Leser, er wählt stärker aus; die Vollständigkeit, die Binder unentwegt anstrebt, ist für ihn nur ein Ideal, wenn dessen Verwirklichung auch zumutbar bleibt, etwa im Fall jener Fotografien, die Kafka selbst zeigen. Hier verkündet schon der Klappentext stolz, dass der Band "sämtliche Portraits" enthalte. Und wenn Wagenbach ein Porträt präsentiert, das früher Kafkas Onkel Siegfried Löwy zugeschrieben wurde, aber wohl doch eher Alfred oder Josef Löwy zeigt, schreibt er salopp: "Sie als Leser haben die Wahl." Eine solche Formulierung dürfte Hartmut Binder unerträglich sein. Dass Wagenbach in Sachen Kafka Spaß verstünde, sollte man aus ihr aber vielleicht lieber auch nicht schließen.
Solche Details zeigen die Unterschiede: Beide Autoren haben eine Mission, aber Wagenbach ist der bessere Missionar. Für die positivistische, an Realien interessierte Kafka-Forschung ist Binders "Lebenschronik" zweifellos ein Meilenstein: Vollständiger ist uns die Welt, in der Kafka sich bewegte, noch nie vor Augen geführt worden. Wer solch überbordenden Detailreichtum indes als bedrohlich empfindet, ist mit Wagenbachs Band besser bedient. Die entscheidende Frage aber, wie lange uns die Lebenszeugnisse und Realien beim Lesen von Kafkas Büchern helfen und wann sie beginnen, uns den Weg zu verstellen, muss jeder Kafka-Leser für sich selbst entscheiden.
- Hartmut Binder: "Kafkas Welt". Eine Lebenschronik in Bildern. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 688 S., geb., Abb., 68,- [Euro].
- Klaus Wagenbach: "Franz Kafka". Bilder aus seinem Leben. Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 256 S., geb., Abb. 39,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas Medicus bejubelt die aktualisierte Neuausgabe von Klaus Wagenbachs Dissertation über die Jugendjahre Franz Kafkas. Obwohl fast ein halbes Jahrhundert alt, sei die Lektüre noch immer ein Genuss, was wahrscheinlich daran liegt, dass Wagenbach seine Arbeit bereits 1957 bei der ersten Publikation vom Germanistenjargon befreit hat, lobt der Rezensent. Der Autor und Verleger ist seit Beginn seiner Forschungen vor allem am realen biografischen Hintergrund des Prager Schriftstellers interessiert, wobei er dankenswerter Weise auch vor dezidierten Interpretationen von Kafkas Texten nicht zurückscheut, so Medicus bewundernd. Diese Pionierarbeit, für die Wagenbach bereits in den 50er Jahren an die Stätten von Kafkas Leben reiste, ist auch heute ein Gewinn und überzeugt nicht zuletzt durch den Enthusiasmus des Autors für sein Forschungsgebiet, preist der begeisterte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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