Franz Kafka, der wohl enigmatischste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, begegnet in diesem Buch dem sanften, aufmerksamen, kritischen Blick eines Autors von Weltrang. Saul Friedländer, selbst in Prag geboren und ein Leben lang Kafka-Leser, betrachtet ihn mit jener zärtlichen Unbestechlichkeit, die auch die unnachahmliche Meisterschaft seiner Geschichte des Holocaust ausmacht. Friedländers Auge sieht manches, was selbst Jahrzehnte der Kafka-Forschung nicht wahrgenommen haben. Mit einer wundervollen Sprache und genauer Kenntnis der Werke, mit feinem Humor und genauer Beobachtungsgabe portraitiert Saul Friedländer Franz Kafka als Dichter der Scham und der Schuld. Er geht seinem Leben nach, befragt sein Judentum, analysiert die einzigartige Ironie Kafkas und geht auch den verschlungenen Seelenlagen nach, die tiefe Spuren im Werk hinterlassen haben. Eine Einführung in die Welt Kafkas von bezwingender Eleganz und Anmut.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Was veranlasst einen Historiker wie Saul Friedländer, den Chronisten des Holocaust, dazu, über Kafka zu schreiben? Die biografischen Parallelen, meint Thomas Meissner. Dass sich Friedländer in seinem Kafka-Buch allerdings nicht ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit Kafkas Judentum stürzt, sondern das laut Meissner gleichwohl wissensreich behandelte Thema gleichberechtigt neben anderen steht, scheint der Rezensent gutzuheißen. Viel spannender aber erscheint ihm Friedländers Versuch, Kafka und seinen Verwalter Max Brod gegen den Strich zu lesen. Was der Autor so an sexuellen Ängsten, homoerotischen und pädophilen Komplexen in Kafkas Briefen und Tagebüchern entdeckt, ohne es zu skandalisieren, lässt Meissner staunen. Den folgenden Übertrag dieser Erkenntnisse auf Kafkas literarische Texte jedoch findet der Rezensent trotz aller Belesenheit und Kenntnisse Friedländers problematisch, weil biografistisch gedeutet. Zum Glück bleibt ihm Kafka auch nach dieser Lektüre Rätsel genug. Neue Fragen zu diesem Werk aufgeworfen zu haben, meint er, bleibt jedenfalls das Verdienst Friedländers.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2012Die Frauen, die Ängste und der Skandal
Wie soll man Franz Kafka verstehen? Saul Friedländer hat Tagebücher und Briefe Kafkas studiert und plädiert entschieden für eine biographische Lesart vor allem seiner literarischen Texte.
Was bringt einen bedeutenden Historiker dazu, sich in das Gebiet der Literaturwissenschaft zu verirren und ein Buch über Franz Kafka zu schreiben? Saul Friedländer, der Chronist des Holocaust und Verfasser der gefeierten Studie "Das Dritte Reich und die Juden", weist in seiner Einleitung auf markante biographische Parallelen hin: "Die Welt meiner Familie war die der Prager Juden, die einer etwas jüngeren Generation angehörten als Franz. Deutsch sprachen sie besser als Tschechisch. Mein Vater studierte an der deutschen juristischen Fakultät der Karls-Universität; ebenso wie Kafka wurde er schließlich juristischer Berater einer Prager Versicherungsgesellschaft. Und ebenso wie das Leben der drei Schwestern Kafkas endete das Leben meiner Eltern in deutschen Lagern."
Wer aufgrund dieser Konstellation allerdings vornehmlich eine Auseinandersetzung mit Kafkas Judentum erwartet, sieht sich getäuscht. Zwar gehört das entsprechende Kapitel zu den stärksten des Buches, nicht zuletzt weil Friedländer hier das ganze Wissen eines langen Forscherlebens wie beiläufig einfließen lassen kann, doch tritt es gleichberechtigt neben andere diskursive Erkundungen, mit deren Hilfe Friedländer versucht, den Kosmos Kafka zu erschließen. Und entsprechend kritisch sieht er auch die Bemühungen von Kafkas Freund und Editor Max Brod, Kafkas Judentum als zentrales Motiv seiner literarischen Texte herauszustellen, worin ihm durchaus eine Reihe von Interpreten gefolgt ist.
In anderer Weise ist Max Brod für Friedländers Ansatz aber zentral. Die Lektüre von dessen Biographie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stand nicht nur am Beginn seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Kafka, wie Friedländer verrät, sondern die zensorischen Eingriffe von Max Brod in die Texte seines Freundes, vor allem in die Tagebücher und Briefe, erscheinen ihm als Schlüssel zu dessen geheimen Gedanken und Phantasien. Mit anderen Worten: Immer da, wo Max Brod eingegriffen hat, gibt es nicht nur Abweichungen von dem Kafka-Bild, das Brod überliefert wissen wollte beziehungsweise konstruierte, sondern findet sich ganz wesentlich der eigentliche Kafka. Und dieser hat keinen lebenslangen Kampf mit der Frage seines Judentums geführt, sondern mit seinen geheimen sexuellen Wünschen und Regungen und all ihren Abweichungen von den Normen seiner Umwelt.
Kafkas Frauenfiguren, seinen unmöglichen Beziehungen, seinen Bordellgängen und sexuellen Ängsten gelten also eingehende Überlegungen, ebenso wie der Konstruierung eines homoerotischen und pädophilen Komplexes, ohne dass dieser übermäßig skandalisiert würde. Bei der Frage, ob man entsprechende Spuren in Kafkas literarischen Texten eher sozial- beziehungsweise diskursgeschichtlich erklären sollte, also bedingt durch die Normen seiner Zeit und virulente Ideen wie die von Otto Weininger, oder eher biographisch, plädiert Friedländer entschieden für Letzteres. Entsprechendes gilt für die weiteren einschlägigen Komplexe, denen er sich zuwendet. Ob der Konflikt mit dem Vater und Kafkas Stellung in seiner Familie, ob seine Gewaltphantasien, sein Judentum oder der Prozess des Schreibens, stets bemüht sich Friedländer um eine breite Einbeziehung einschlägiger Zitate aus Kafkas Tagebüchern und Briefen, die zusammen ein dichtes Netz bilden, auf dessen Grundlage dann der Übertrag auf die literarischen Texte folgt.
So einleuchtend und plausibel die Darstellung der einzelnen Komplexe ist und so belesen sich Friedländer in der deutschen wie internationalen Kafka-Forschung erweist, bleiben doch an manchen Stellen Zweifel. Zweifel, die vor allem die logischerweise stark biographisch geprägte Lektüre von Kafkas literarischen Texten betreffen. Darf man die Texte eines Autors mit einem so starken literarischen Ehrgeiz und einem so großen Form- und Stilwillen, wie sie Kafka eigen waren, wirklich einseitig als Ventil und Sprachrohr innerster Ängste und Triebe lesen, oder fällt man damit nicht in alte biographistische Deutungsmuster zurück, die längst passé zu sein schienen?
Rätselhaft bleiben viele Kafka-Texte jedenfalls auch nach der Lektüre von Friedländers Studie, und rätselhaft und fremd bleibt die Person Franz Kafka, trotz der immensen Zahl an Zeugnissen, die inzwischen zusammengetragen wurden. Einige neue Schneisen - und sei es auch unter Fortführung zahlreicher anderer Arbeiten - in diesen enigmatischen Kosmos geschlagen und grundlegende Fragen aufgeworfen zu haben, bleibt aber das nicht unerhebliche Verdienst von Saul Friedländer.
THOMAS MEISSNER
Saul Friedländer: "Franz Kafka".
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C. H. Beck, München 2012. 252 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie soll man Franz Kafka verstehen? Saul Friedländer hat Tagebücher und Briefe Kafkas studiert und plädiert entschieden für eine biographische Lesart vor allem seiner literarischen Texte.
Was bringt einen bedeutenden Historiker dazu, sich in das Gebiet der Literaturwissenschaft zu verirren und ein Buch über Franz Kafka zu schreiben? Saul Friedländer, der Chronist des Holocaust und Verfasser der gefeierten Studie "Das Dritte Reich und die Juden", weist in seiner Einleitung auf markante biographische Parallelen hin: "Die Welt meiner Familie war die der Prager Juden, die einer etwas jüngeren Generation angehörten als Franz. Deutsch sprachen sie besser als Tschechisch. Mein Vater studierte an der deutschen juristischen Fakultät der Karls-Universität; ebenso wie Kafka wurde er schließlich juristischer Berater einer Prager Versicherungsgesellschaft. Und ebenso wie das Leben der drei Schwestern Kafkas endete das Leben meiner Eltern in deutschen Lagern."
Wer aufgrund dieser Konstellation allerdings vornehmlich eine Auseinandersetzung mit Kafkas Judentum erwartet, sieht sich getäuscht. Zwar gehört das entsprechende Kapitel zu den stärksten des Buches, nicht zuletzt weil Friedländer hier das ganze Wissen eines langen Forscherlebens wie beiläufig einfließen lassen kann, doch tritt es gleichberechtigt neben andere diskursive Erkundungen, mit deren Hilfe Friedländer versucht, den Kosmos Kafka zu erschließen. Und entsprechend kritisch sieht er auch die Bemühungen von Kafkas Freund und Editor Max Brod, Kafkas Judentum als zentrales Motiv seiner literarischen Texte herauszustellen, worin ihm durchaus eine Reihe von Interpreten gefolgt ist.
In anderer Weise ist Max Brod für Friedländers Ansatz aber zentral. Die Lektüre von dessen Biographie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stand nicht nur am Beginn seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Kafka, wie Friedländer verrät, sondern die zensorischen Eingriffe von Max Brod in die Texte seines Freundes, vor allem in die Tagebücher und Briefe, erscheinen ihm als Schlüssel zu dessen geheimen Gedanken und Phantasien. Mit anderen Worten: Immer da, wo Max Brod eingegriffen hat, gibt es nicht nur Abweichungen von dem Kafka-Bild, das Brod überliefert wissen wollte beziehungsweise konstruierte, sondern findet sich ganz wesentlich der eigentliche Kafka. Und dieser hat keinen lebenslangen Kampf mit der Frage seines Judentums geführt, sondern mit seinen geheimen sexuellen Wünschen und Regungen und all ihren Abweichungen von den Normen seiner Umwelt.
Kafkas Frauenfiguren, seinen unmöglichen Beziehungen, seinen Bordellgängen und sexuellen Ängsten gelten also eingehende Überlegungen, ebenso wie der Konstruierung eines homoerotischen und pädophilen Komplexes, ohne dass dieser übermäßig skandalisiert würde. Bei der Frage, ob man entsprechende Spuren in Kafkas literarischen Texten eher sozial- beziehungsweise diskursgeschichtlich erklären sollte, also bedingt durch die Normen seiner Zeit und virulente Ideen wie die von Otto Weininger, oder eher biographisch, plädiert Friedländer entschieden für Letzteres. Entsprechendes gilt für die weiteren einschlägigen Komplexe, denen er sich zuwendet. Ob der Konflikt mit dem Vater und Kafkas Stellung in seiner Familie, ob seine Gewaltphantasien, sein Judentum oder der Prozess des Schreibens, stets bemüht sich Friedländer um eine breite Einbeziehung einschlägiger Zitate aus Kafkas Tagebüchern und Briefen, die zusammen ein dichtes Netz bilden, auf dessen Grundlage dann der Übertrag auf die literarischen Texte folgt.
So einleuchtend und plausibel die Darstellung der einzelnen Komplexe ist und so belesen sich Friedländer in der deutschen wie internationalen Kafka-Forschung erweist, bleiben doch an manchen Stellen Zweifel. Zweifel, die vor allem die logischerweise stark biographisch geprägte Lektüre von Kafkas literarischen Texten betreffen. Darf man die Texte eines Autors mit einem so starken literarischen Ehrgeiz und einem so großen Form- und Stilwillen, wie sie Kafka eigen waren, wirklich einseitig als Ventil und Sprachrohr innerster Ängste und Triebe lesen, oder fällt man damit nicht in alte biographistische Deutungsmuster zurück, die längst passé zu sein schienen?
Rätselhaft bleiben viele Kafka-Texte jedenfalls auch nach der Lektüre von Friedländers Studie, und rätselhaft und fremd bleibt die Person Franz Kafka, trotz der immensen Zahl an Zeugnissen, die inzwischen zusammengetragen wurden. Einige neue Schneisen - und sei es auch unter Fortführung zahlreicher anderer Arbeiten - in diesen enigmatischen Kosmos geschlagen und grundlegende Fragen aufgeworfen zu haben, bleibt aber das nicht unerhebliche Verdienst von Saul Friedländer.
THOMAS MEISSNER
Saul Friedländer: "Franz Kafka".
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C. H. Beck, München 2012. 252 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main