Leben und Werk des Historikers Franz Schnabel (1887-1966) wurden stark von den politischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geprägt. Der engagierte Republikaner wurde 1936 als Professor an der Technischen Hochschule Karlsruhe entlassen. Nach Kriegsende sofort rehabilitiert, nahm er 1947 einen Ruf an die Universität München an, wo er bis zur Emeritierung 1962 lehrte.Thomas Hertfelder untersucht das gesamte wissenschaftliche und publizistische Werk Schnabels bis 1945 und ordnet es in verschiedene diskursive Bezüge ein. Er verbindet geistesgeschichtliche Ansätze mit wissenschaftssoziologischen und textanalytischen Methoden. Eine werkbiographische Analyse zeigt, wie sich aus dem späthistoristischen Deutungshorizont die für das gesamte Werk Schnabels zentrale Fragestellung nach der Entstehung und Krise der »modernen Welt« herausschälte. Diese für die zwanziger Jahre ungewöhnliche Fragestellung zeichnete Schnabel ebenso aus wie der Umfang und die darstellerische Qualität seines uvres. Dennoch war Schnabel unter den Historikern ein Außenseiter, der sich schon in der Weimarer Republik einem akademischen Ausgrenzungsprozeß ausgesetzt sah. Die Entlassung 1936 beendete seine wissenschaftliche Produktivität. Der fünfte Band seines Hauptwerkes »Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« wurde nicht mehr gedruckt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998Werden Sie Historist!
Franz Schnabel stellte sein Schicksal den Kräften der Geschichte anheim / Von Patrick Bahners
Ende 1934 ließ der Berliner Historiker Hermann Oncken ein Buch mit vier Studien über Oliver Cromwell erscheinen. Die Bilanz fiel kritisch aus. Der starke Mann hatte den Staat zerschlagen und doch nicht zerstört. Die überragende Persönlichkeit hatte sich mit den alten Institutionen nicht versöhnt, aber auch keine neuen geschaffen. Cromwells Regime und Cromwells Partei verschwanden mit Cromwells Tod. "Mit einem Male war die Revolution nur noch eine Episode in der nationalen Geschichte, abgeschlossen in sich, gleichsam auf Nimmerwiedersehen."
Wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Buches mußte der Verfasser seine Lehrtätigkeit einstellen, als er zum Objekt einer Attacke des "Völkischen Beobachters" wurde. Walter Frank denunzierte Oncken als Exponenten eines bürgerlichen Liberalismus, der hinter der Pose der Objektivität seine Distanz zur nationalen Revolution verberge. Onckens Betrachtungen über die "Führung einer Nation" las Frank als Spitzen gegen den "Führer"; als Zeugen bemühte er einen Schüler Onckens. ",Dieses Werk', so schreibt der klerikale Historiker Franz Schnabel in einer Besprechung, ,denkt nicht nur an Cromwell und die englische Revolution des siebzehnten Jahrhunderts, aber es hält sich frei von Parallelen. Um so reizvoller ist seine andeutende Haltung.' Gewiß, der ,Prophete' hat das ,Weltkind', der ,Klerikale' den ,Liberalen' gut verstanden!" Es gibt wenig, was Thomas Hertfelder in seiner monumentalen Untersuchung über das Werk Franz Schnabels nicht belegen, beschreiben und begründen kann. Die von Frank angeführte Rezension bleibt verschollen. Hertfelder kann den Brief zitieren, in dem Schnabel sich bei Oncken für den "Cromwell" bedankte: "Wie meisterhaft Sie im übrigen die Gegenwart mitklingen ließen, indem Sie niemals und nirgends von ihr gesprochen haben."
Ein Jahr nach seinem Doktorvater verlor auch Schnabel seine Lehrerlaubnis. Sein Lehrstuhl an der Technischen Hochschule Karlsruhe wurde eingezogen. Die politische Säuberung drapierte sich als zeitgemäße Hochschulreform: Das historische Ordinariat sollte einem technischen Fachgebiet zugeschlagen werden. Schnabel wußte, daß er für "den angeblichen Konfessionalismus" seines Werkes bestraft wurde. Einem deutschnationalen Kollegen schrieb er: "Wer meine Bücher wirklich gelesen hat, wird erschüttert sein über die absurde Situation, in die ich geraten bin."
Mit dieser Klage gab sich nicht etwa ein Anhänger des Nationalsozialismus zu erkennen, der sich als Opfer eines schrecklichen Mißverständnisses fühlte. Daß ein katholischer Historiker, der Abstand zu kirchlichen Zirkeln gewahrt hatte und um die Vermittlung zwischen katholischer Überlieferung und moderner Gesellschaft bemüht gewesen war, als Klerikaler beschimpft wurde, bewies die Absurdität der Weltsicht der neuen Herren. Absurd in einem tieferen Sinne erscheint dem durch Hertfelder belehrten Leser Schnabels die Lage des Autors der "Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert" nach jenem "Durchbruch" zu einer "neuen Zeit gewaltiger revolutionärer Umwälzungen", als den er im Vorwort zum zweiten Band, datiert auf den 1. Juni 1933, die Errichtung der Herrschaft Hitlers charakterisierte.
Der Band handelte über den Gegensatz von Konservatismus und Liberalismus in dem Moment, da beide entmachtet worden waren. Der dritte und vierte Band, über die Wissenschaften und die Religion, konnten 1934 und 1935 noch erscheinen. Den Druck des fünften, über die Nationalbewegung, verhinderte die Zensur. Dem Werk lag ein Plan zugrunde, der ehrgeiziger nicht hätte entworfen sein können. Hertfelder hat ihn in eindrucksvoller Gründlichkeit rekonstruiert. Seine Münchner Dissertation stellt Schnabels Texte in eine Vielzahl geisteshistorischer Kontexte. Wo vergleichbare Arbeiten darunter leiden, daß die Verfasser zwar das Gesamtwerk ihrer Helden Wort für Wort studiert haben, sich aber bei Zeitgenossen und Vorläufern auf Forschungsstände verlassen, da hat Hertfelder Anregendes zu Max Webers Methodologie oder Carl Schmitts Begrifflichkeit zu sagen.
Den Impuls hinter Schnabels enormer Produktivität wird man mit Hertfelder "kulturkritisch" nennen müssen. Wer Schnabel viele Leser oder besser vielen Lesern Schnabel wünscht, wird über diesen Begriff nicht restlos glücklich sein. Er hat einen muffigen Beigeschmack: Kulturkritik, das ist mißvergnügter Protest gegen die Moderne. Selbstkritik der Moderne wäre ein freundlicherer Begriff. So ist ja etwa die Intellektuellenkritik seit jeher Sache von Intellektuellen - auch Schnabel wollte kein Fachgelehrter sein, sondern meinte von allem etwas zu verstehen. Daß er 1933 seine Hoffnung für die Rettung des Parlamentarismus auf "unabhängige Schriftsteller" setzte, obwohl er die Schuld für die Radikalisierung des Meinungsklimas bei entfremdeten "Literaten" suchte, ist nicht so seltsam, wie Hertfelder meint.
Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? Zu Schnabels Zeit wurde diese Frage unter dem Schlagwort des "Historismus" diskutiert. Daß die Gegenwart von der Tradition erdrückt werde, war die Sorge einer Generation, die in ihrer Jugend - Schnabel wurde 1887 geboren - unter den saturierten Verhältnissen des Kaiserreiches litt. Als "Flucht in die Geschichte" tadelte der Dreiundzwanzigjährige in seiner Dissertation über die Anfänge des politischen Katholizismus, daß die Konfessionsparteien 1848 jahrhundertealte Gravamina aus den Schubladen zogen. Die Geschichten, die Schnabel erzählte, in seinem weitverbreiteten Schulbuch oder in der Biographie des Freiherrn vom Stein, ließen die Leser erfahren, daß die Vergangenheit sich nicht festhalten ließ. Sein im Wortsinn mitreißender Stil brachte das Unvermeidliche des historischen Wandels zu rhetorischer Evidenz.
Ausführlicher könnte Hertfelders Kapitel zur Form sein, das gegen Hayden White eine Theorie des poetischen Moments in der Historie skizziert, die den Unterschied zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Rede rettet. Man hätte die Mimesis des Werdens in Schnabels Erzählungen zu analysieren, die Simulation der unendlichen Veränderung durch den Sprachfluß. In den Schriften Friedrich Naumanns, den er die "Liebe" seiner Jugendjahre nannte, war es "der Rhythmus seiner Sätze", der sich einprägte, das Versprechen einer so beherrschten wie beschwingten Bewegung. Nicht ganz fair ist es, daß Hertfelder Schnabels Kritik der Romantiker, "in der Verwirrtheit eines völlig aufgelösten Kulturdaseins" seien sie "in die Einheit der mittelalterlichen Welt" geflüchtet, auf Schnabel zurückfallen läßt. Zwar bildet die Einheit des geistlich-weltlichen "Ordo" den goldenen Hintergrund, vor dem Schnabel das Epos der neuzeitlichen Entzweiungen entrollt. Aber die von Hertfelder gerügte Idealisierung des Mittelalters läßt sich auch modern als Konstruktion eines Typus auffassen, als Setzung eines Anfangs, wie sie auch heutige Theorien sozialer Differenzierung vornehmen. Schnabel hat eben nicht wie Friedrich Hurter ein Jahrhundert vorher seine Zuflucht zu Innozenz III. genommen, sondern die Geschichte der Neuzeit geschrieben - und das hieß für ihn: die Zwangsläufigkeit der Entwicklung demonstriert.
Scharfsichtig arbeitet Hertfelder das Dilemma heraus, daß diese Notwendigkeit die Züge eines Verhängnisses annahm, als der Geschichtsprozeß die mit Chiffren wie "Jugend" und "Leben" verbundene Hoffnung nicht erfüllte, er werde neue Werte hervorbringen. Schnabel erlebte, welche Konsequenzen eine "Bewegung", deren Programm die Flucht aus der Geschichte war, aus der Kulturkritik zog. Seine Lage war absurd, weil jener Sinn, den er in der Geschichte gesucht hatte, sich in tödlichen Widersinn verkehrte. Der nationale Aufbruch, den der von Frank verhöhnte "Prophete" gepredigt hatte, führte ins Nichts.
Hertfelder legt überzeugend dar, daß in der Kritik des "Apparats" im Namen des "Geistes", die Schnabel 1919 zum Advokaten der republikanischen Neugründung machte, die Möglichkeit einer Annäherung an den nationalsozialistischen Voluntarismus lag. Bemerkenswert bleibt gerade dann, daß Schnabel der Versuchung widerstand. Hertfelder bringt einige wenige Belege für "rhetorische Verbeugungen" vor Hitler aus den Jahren 1934 und 1935 bei, die sich nicht zu einem "Fall" Schnabel summieren. Die Sachlichkeit des Autors ist wohltuend. Selbst der fünfte Band, über den Hertfelder aus Druckfahnen und Typoskripten unterrichtet, enthielt noch Spuren jener Entlarvung des Nationalismus als eines Produkts der "Studierstube", die Theorien der "invention of tradition" vorwegnahm. "Die nationale Konzentration vernichtet die Freiheit der Fremdvölker, oft auch die Freiheit überhaupt. Der Staat unterwirft sich die Menschen auch innerlich." Franz Schnabel blieb ein freier Mann.
Thomas Hertfelder: "Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft". Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910-1945). Veröffentlichungen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 60. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. Zwei Teilbände, zus. VI, 835 S., 1 Frontispiz, br., 180,- DM.
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Franz Schnabel stellte sein Schicksal den Kräften der Geschichte anheim / Von Patrick Bahners
Ende 1934 ließ der Berliner Historiker Hermann Oncken ein Buch mit vier Studien über Oliver Cromwell erscheinen. Die Bilanz fiel kritisch aus. Der starke Mann hatte den Staat zerschlagen und doch nicht zerstört. Die überragende Persönlichkeit hatte sich mit den alten Institutionen nicht versöhnt, aber auch keine neuen geschaffen. Cromwells Regime und Cromwells Partei verschwanden mit Cromwells Tod. "Mit einem Male war die Revolution nur noch eine Episode in der nationalen Geschichte, abgeschlossen in sich, gleichsam auf Nimmerwiedersehen."
Wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Buches mußte der Verfasser seine Lehrtätigkeit einstellen, als er zum Objekt einer Attacke des "Völkischen Beobachters" wurde. Walter Frank denunzierte Oncken als Exponenten eines bürgerlichen Liberalismus, der hinter der Pose der Objektivität seine Distanz zur nationalen Revolution verberge. Onckens Betrachtungen über die "Führung einer Nation" las Frank als Spitzen gegen den "Führer"; als Zeugen bemühte er einen Schüler Onckens. ",Dieses Werk', so schreibt der klerikale Historiker Franz Schnabel in einer Besprechung, ,denkt nicht nur an Cromwell und die englische Revolution des siebzehnten Jahrhunderts, aber es hält sich frei von Parallelen. Um so reizvoller ist seine andeutende Haltung.' Gewiß, der ,Prophete' hat das ,Weltkind', der ,Klerikale' den ,Liberalen' gut verstanden!" Es gibt wenig, was Thomas Hertfelder in seiner monumentalen Untersuchung über das Werk Franz Schnabels nicht belegen, beschreiben und begründen kann. Die von Frank angeführte Rezension bleibt verschollen. Hertfelder kann den Brief zitieren, in dem Schnabel sich bei Oncken für den "Cromwell" bedankte: "Wie meisterhaft Sie im übrigen die Gegenwart mitklingen ließen, indem Sie niemals und nirgends von ihr gesprochen haben."
Ein Jahr nach seinem Doktorvater verlor auch Schnabel seine Lehrerlaubnis. Sein Lehrstuhl an der Technischen Hochschule Karlsruhe wurde eingezogen. Die politische Säuberung drapierte sich als zeitgemäße Hochschulreform: Das historische Ordinariat sollte einem technischen Fachgebiet zugeschlagen werden. Schnabel wußte, daß er für "den angeblichen Konfessionalismus" seines Werkes bestraft wurde. Einem deutschnationalen Kollegen schrieb er: "Wer meine Bücher wirklich gelesen hat, wird erschüttert sein über die absurde Situation, in die ich geraten bin."
Mit dieser Klage gab sich nicht etwa ein Anhänger des Nationalsozialismus zu erkennen, der sich als Opfer eines schrecklichen Mißverständnisses fühlte. Daß ein katholischer Historiker, der Abstand zu kirchlichen Zirkeln gewahrt hatte und um die Vermittlung zwischen katholischer Überlieferung und moderner Gesellschaft bemüht gewesen war, als Klerikaler beschimpft wurde, bewies die Absurdität der Weltsicht der neuen Herren. Absurd in einem tieferen Sinne erscheint dem durch Hertfelder belehrten Leser Schnabels die Lage des Autors der "Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert" nach jenem "Durchbruch" zu einer "neuen Zeit gewaltiger revolutionärer Umwälzungen", als den er im Vorwort zum zweiten Band, datiert auf den 1. Juni 1933, die Errichtung der Herrschaft Hitlers charakterisierte.
Der Band handelte über den Gegensatz von Konservatismus und Liberalismus in dem Moment, da beide entmachtet worden waren. Der dritte und vierte Band, über die Wissenschaften und die Religion, konnten 1934 und 1935 noch erscheinen. Den Druck des fünften, über die Nationalbewegung, verhinderte die Zensur. Dem Werk lag ein Plan zugrunde, der ehrgeiziger nicht hätte entworfen sein können. Hertfelder hat ihn in eindrucksvoller Gründlichkeit rekonstruiert. Seine Münchner Dissertation stellt Schnabels Texte in eine Vielzahl geisteshistorischer Kontexte. Wo vergleichbare Arbeiten darunter leiden, daß die Verfasser zwar das Gesamtwerk ihrer Helden Wort für Wort studiert haben, sich aber bei Zeitgenossen und Vorläufern auf Forschungsstände verlassen, da hat Hertfelder Anregendes zu Max Webers Methodologie oder Carl Schmitts Begrifflichkeit zu sagen.
Den Impuls hinter Schnabels enormer Produktivität wird man mit Hertfelder "kulturkritisch" nennen müssen. Wer Schnabel viele Leser oder besser vielen Lesern Schnabel wünscht, wird über diesen Begriff nicht restlos glücklich sein. Er hat einen muffigen Beigeschmack: Kulturkritik, das ist mißvergnügter Protest gegen die Moderne. Selbstkritik der Moderne wäre ein freundlicherer Begriff. So ist ja etwa die Intellektuellenkritik seit jeher Sache von Intellektuellen - auch Schnabel wollte kein Fachgelehrter sein, sondern meinte von allem etwas zu verstehen. Daß er 1933 seine Hoffnung für die Rettung des Parlamentarismus auf "unabhängige Schriftsteller" setzte, obwohl er die Schuld für die Radikalisierung des Meinungsklimas bei entfremdeten "Literaten" suchte, ist nicht so seltsam, wie Hertfelder meint.
Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? Zu Schnabels Zeit wurde diese Frage unter dem Schlagwort des "Historismus" diskutiert. Daß die Gegenwart von der Tradition erdrückt werde, war die Sorge einer Generation, die in ihrer Jugend - Schnabel wurde 1887 geboren - unter den saturierten Verhältnissen des Kaiserreiches litt. Als "Flucht in die Geschichte" tadelte der Dreiundzwanzigjährige in seiner Dissertation über die Anfänge des politischen Katholizismus, daß die Konfessionsparteien 1848 jahrhundertealte Gravamina aus den Schubladen zogen. Die Geschichten, die Schnabel erzählte, in seinem weitverbreiteten Schulbuch oder in der Biographie des Freiherrn vom Stein, ließen die Leser erfahren, daß die Vergangenheit sich nicht festhalten ließ. Sein im Wortsinn mitreißender Stil brachte das Unvermeidliche des historischen Wandels zu rhetorischer Evidenz.
Ausführlicher könnte Hertfelders Kapitel zur Form sein, das gegen Hayden White eine Theorie des poetischen Moments in der Historie skizziert, die den Unterschied zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Rede rettet. Man hätte die Mimesis des Werdens in Schnabels Erzählungen zu analysieren, die Simulation der unendlichen Veränderung durch den Sprachfluß. In den Schriften Friedrich Naumanns, den er die "Liebe" seiner Jugendjahre nannte, war es "der Rhythmus seiner Sätze", der sich einprägte, das Versprechen einer so beherrschten wie beschwingten Bewegung. Nicht ganz fair ist es, daß Hertfelder Schnabels Kritik der Romantiker, "in der Verwirrtheit eines völlig aufgelösten Kulturdaseins" seien sie "in die Einheit der mittelalterlichen Welt" geflüchtet, auf Schnabel zurückfallen läßt. Zwar bildet die Einheit des geistlich-weltlichen "Ordo" den goldenen Hintergrund, vor dem Schnabel das Epos der neuzeitlichen Entzweiungen entrollt. Aber die von Hertfelder gerügte Idealisierung des Mittelalters läßt sich auch modern als Konstruktion eines Typus auffassen, als Setzung eines Anfangs, wie sie auch heutige Theorien sozialer Differenzierung vornehmen. Schnabel hat eben nicht wie Friedrich Hurter ein Jahrhundert vorher seine Zuflucht zu Innozenz III. genommen, sondern die Geschichte der Neuzeit geschrieben - und das hieß für ihn: die Zwangsläufigkeit der Entwicklung demonstriert.
Scharfsichtig arbeitet Hertfelder das Dilemma heraus, daß diese Notwendigkeit die Züge eines Verhängnisses annahm, als der Geschichtsprozeß die mit Chiffren wie "Jugend" und "Leben" verbundene Hoffnung nicht erfüllte, er werde neue Werte hervorbringen. Schnabel erlebte, welche Konsequenzen eine "Bewegung", deren Programm die Flucht aus der Geschichte war, aus der Kulturkritik zog. Seine Lage war absurd, weil jener Sinn, den er in der Geschichte gesucht hatte, sich in tödlichen Widersinn verkehrte. Der nationale Aufbruch, den der von Frank verhöhnte "Prophete" gepredigt hatte, führte ins Nichts.
Hertfelder legt überzeugend dar, daß in der Kritik des "Apparats" im Namen des "Geistes", die Schnabel 1919 zum Advokaten der republikanischen Neugründung machte, die Möglichkeit einer Annäherung an den nationalsozialistischen Voluntarismus lag. Bemerkenswert bleibt gerade dann, daß Schnabel der Versuchung widerstand. Hertfelder bringt einige wenige Belege für "rhetorische Verbeugungen" vor Hitler aus den Jahren 1934 und 1935 bei, die sich nicht zu einem "Fall" Schnabel summieren. Die Sachlichkeit des Autors ist wohltuend. Selbst der fünfte Band, über den Hertfelder aus Druckfahnen und Typoskripten unterrichtet, enthielt noch Spuren jener Entlarvung des Nationalismus als eines Produkts der "Studierstube", die Theorien der "invention of tradition" vorwegnahm. "Die nationale Konzentration vernichtet die Freiheit der Fremdvölker, oft auch die Freiheit überhaupt. Der Staat unterwirft sich die Menschen auch innerlich." Franz Schnabel blieb ein freier Mann.
Thomas Hertfelder: "Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft". Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910-1945). Veröffentlichungen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 60. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. Zwei Teilbände, zus. VI, 835 S., 1 Frontispiz, br., 180,- DM.
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