Nachwort Franz Kafka traf im Herbst 1923 im Steglitzer Stadtpark in Berlin ein etwa sechsjähriges, weinendes Mädchen. Es hatte seine Puppe verloren. Er erzählte dem Mädchen, dass die Puppe nur auf Reisen gegangen sei. Drei Wochen lang traf er sich täglich mit ihr im Park und brachte ihr Briefe "von ihrer Puppe" mit. Diese hatte er natürlich zu Hause selbst verfasst. Dieser Stoff hat mich sofort gefesselt. Der nach seinem Tod international zu Ruhm gekommene Schriftsteller, der alles tut, was in seiner Macht steht, um die Welt eines kleinen Mädchens zu retten. Intuitiv erkennt er, dass man das Mädchen mit seinem immensen Verlustgefühl nicht alleinlassen darf. Auf höchst originelle und auch humorvolle Weise spendet er dem Mädchen Trost. Franz schenkt dem Kind etwas, was ungleich wertvoller ist als die eigentliche Puppe. Er lässt es in eine andere Geschichte eintauchen, nämlich in die seiner lebendig gewordenen Puppe Pauline. So hilft er dem Mädchen, ihr eigenes Leben zu meistern und mit der Verlustsituation fertig zu werden. Das Buch enthält also eine Geschichte in der Geschichte. Letztlich verschenkt Kafka den Schatz der Fantasie. Dora Diamant schreibt hierzu: "Er machte sich mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen. Er war in demselben gespannten Zustand, in dem er sich immer befand, sobald er an seinem Schreibtisch saß (...) Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor der Enttäuschung bewahrt und wirklich zufriedengestellt werden musste. Die Lüge musste also durch die Wahrheit der Fiktion in Wahrheit verwandelt werden." 1 Da die Puppenbriefe Kafkas bis heute als verschollen gelten, musste ich sie, um den Kindern die Geschichte anschaulich erzählen zu können, neu erfinden. Der Text verbindet also historische Begebenheiten mit fantastischen Elementen. Hauptpersonen sind zum einen Franz Kafka, dessen heitere doch zugleich nachdenkliche Seite ich den Kindern aufzeige. Sein empfindsames und kindliches Gemüt bringt ihn gleich in die natürliche Nähe zur nächsten Hauptperson: zur sechsjährigen Lilli. Als typisches Kind im Vorschulalter ist sie noch ganz der kindlichen Vorstellungswelt verhaftet. Das Magische ist für sie vorstellbar. Das lesende Kind teilt mit ihr das Staunen über die fantastischen Abenteuer ihrer lebendig gewordenen Puppe Pauline, der dritten Protagonistin. Da Pauline aber zugleich menschliche Züge trägt (sie wächst, sie kommt in die Schule, sie verliebt sich sogar) kann sich das Kind auch mit ihr identifizieren. Die Puppe verkörpert gewissermaßen die Abenteuerlust in jedem von uns. Zwischen Franz und Lilli entspinnt sich eine Freundschaft. Täglich trifft sich Franz mit Lilli im Park und bringt ihr einen neuen Brief mit, in dem Pauline von den unglaublichsten Abenteuern berichtet. Der Spannungsbogen der Geschichte lebt von den Gefahrenmomenten, in die die Puppe gerät. Stets sind es Kinder, die sie aus dieser Gefahr befreien. Sie sind also die eigentlichen Helden der Geschichte. Franz wird es langsam, aber sicher unbehaglich zumute. Wie soll er aus diesem Spiel je wieder herauskommen? Er muss ein gutes Ende für die Puppengeschichte von Pauline finden, das Lilli einsichtig macht, dass Pauline nicht wieder zu ihr zurückkehren kann. Kurzerhand entschließt er sich, die Puppe wachsen und heiraten zu lassen ... Den Abschied von ihrer Puppe und auch von Franz kann Lilli gut verkraften, da ein neuer Lebensabschnitt auf sie wartet. Sie kommt in die Schule. Wenn sie erst mal lesen kann, kann sie jederzeit in neue Abenteuer eintauchen oder auch in die ihrer Puppe Pauline. 1 Dora Diamant, Mein Leben mit Franz Kafka in Als Kafka mir entgegenkam. Hrsg. Hans-Gerd Koch, Wagenbach-Verlag 2005, Berlin
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