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Produktdetails
  • Steidl Taschenbücher Nr.109
  • Verlag: Steidl
  • 1998.
  • Deutsch
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 206g
  • ISBN-13: 9783882435696
  • ISBN-10: 3882435690
  • Artikelnr.: 07322394
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.1995

Pfeifende Beine in Jeans
Die Freizeit ist das Ritual: Christine Scherrmann kennt sich aus

Die "Frau mit grünen Schuhen" arbeitet nach dem Schulabbruch als Buchverkäuferin in einer westdeutschen Kleinstadt. Sie lebt mit einem Mann zusammen, der wegen seiner Ähnlichkeit zu einem Filmkomiker "Feldman" genannt wird. Feldman jobbt nach einer abgebrochenen Lehre in einer Autowerkstatt, unregelmäßig, denn nachts geht es auf Tour, und morgens braucht man seinen Schlaf. Nicht die Arbeit, die Freizeit ist das Ritual: Erst zum Billard in die Kneipe, dann ins "Spider" zum Tanzen und schließlich zum Baccara ins Parkhotel. Im Morgengrauen fährt man heim, um einige Illusionen und etliches Geld ärmer.

"Von morgens bis abends zur Arbeit zu gehen, sagt Feldman, ist was für Leute, die keinen Spaß am Leben haben, er findet, sie sollte am Spieltisch mehr investieren, sie verdient nicht besonders bei Maier, vor allem brauche er Geld. Geld, das er für sie vermehren und immer wieder einsetzen könne." Diese Passage aus Christine Scherrmanns Roman "Frau mit grünen Schuhen" enthält in nuce nicht nur den zentralen Konflikt im Leben des porträtierten Paars, sondern auch eine Allegorie auf die Geschlechterrollen. Obwohl es die namenlose Buchverkäuferin ist, die mit zusätzlichen Jobs in den Ferien oder nach Feierabend die Eskapaden ihres Freundes finanziert, geriert sich Feldman als ihr Versorger, der am Roulettetisch Fron für seine Geliebte leistet. Doch umsonst, und "weil sie nicht ewig die fetten Scheine in den Hosentaschen herumtragen, sind die Kerle immer irgendwie sauer, ziemlich in ihrer Ehre gekränkt".

Scherrmanns erster Roman ist ganz aus der Perspektive der Buchverkäuferin geschrieben, sie spricht sich im inneren Monolog selbst an, und wir dürfen sie dabei belauschen. Es ist die Geschichte einer Heimkehr; das Buch beginnt mit der Rückkehr von einem morgendlichen Einkauf, im Nebenzimmer schlafen nach einer Pokerrunde noch die Saufkumpane von Feldman. Es endet, nachdem sie alles aufgeräumt, sich abgeschminkt und gebadet hat. In diesen wenigen ruhigen Stunden jenseits des Rituals und doch innerhalb der Routine stellen sich die Erinnerungen ein. Die Pinnwand im Flur, die Poster im Bad, kleine Handlungen - alles ist konnotiert mit Reminiszenzen an die Vergangenheit, Gedanken an Freunde, die in freier Assoziation wieder zu neuen Erinnerungsfetzen führen. Am Ende liegt da ein großer Lumpenhaufen: Abfall eines Lebens, das Leben selbst.

Den Verlauf der Assoziationen seiner Protagonistin vermag der Roman eindrucksvoll nachzuvollziehen. In kürzesten Episoden - keine geht über eine Seite hinaus - vervollständigt sich ein Mosaik. Einige Steinchen kehren wortwörtlich wieder und ergänzen sich in anderem Kontext zu neuen Motiven. Ganze Ketten von Gedanken beginnen mit denselben Sätzen. Wo jedoch die rhetorische Texttheorie unter der Figur der Anapher das Bemühen eines Autors faßt, durch Wiederholungen am Satzanfang die Aufmerksamkeit des Lesers zu erlangen und diesen Gedanken in ihm zu verankern, ist es bei Scherrmanns Buch gerade umgekehrt. Die Wiederkehr derselben Anfänge ist hier Folge einer eingebrannten Erinnerung, die immer neu zu veränderten Gedankengängen führt. Es gibt kein freies Denken auf ein Ziel hin, die Assoziationen strahlen radial aus.

Dabei erhellen sie den Mikrokosmos um Feldman und seine Freundin: gescheite und gescheiterte Männer wie Rich, der geschiedene Architekt, Frank, der desillusionierte Lokalreporter, Tom, der talentierte Künstler, oder Lupus, der Langzeitstudent auf Elternkosten. Alle leben nur für die Nacht, für die Kugeln und die Karten und für die Musik. Und da sind die Frauen: Dany, die einstmals drogensüchtige Kollegin im Buchgeschäft, Ruth, das exotische Fotomodell, die allen den Kopf verdreht. Und vor allem Mona, die selbstbewußte Schönheit, die die Hälfte des Jahres in Rom bei ihrem Freund verlebt, doch daheim bisweilen am Fließband einer Autofabrik schuftet, um ihren aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Alle diese Frauen leben für die Männer, schmücken sich, kaufen teure Klamotten und edles Make-up, doch sie bekommen wenig dafür geboten.

Die Raster und Verhaltensweisen einer Generation, die sich noch zu jung für das Establishment fühlt und doch längst festgefahren ist, sind das Thema des Romans. Wenn der Klappentext schon so indiskret ist, das Alter seiner Autorin zu verraten, dann darf man sich auch wundern, wie perfekt es einer fast Fünfzigjährigen gelingt, sich in Jargon und Lebensgefühl von Endzwanzigern einzufühlen. Sie kennt die gängigen Themen dieser Generation: Motorräder, Filme und Musik. Zudem verfügt Scherrmann über das Auge für die Banalitäten des Alltags: "Seit ihrer Kindheit waren die Schenkel nie mehr so schlank, daß sie beim Gehen nicht aneinanderrieben, das gibt diesen schleppenden Pfeifton bei Jeans."

"Mit ein bißchen Pfeffer im Arsch bist du längst fort von hier", sagt die Protagonistin sich mehrfach, doch sie wird bleiben, denn neben aller Enttäuschung sind da auch die schönen Erinnerungen an die Anfänge mit Feldman und an dessen Liebenswürdigkeiten. Scherrmann erzählt ein Leben, das kaum glaubwürdiger denkbar ist, denn die Mischung stimmt, auch hinsichtlich der Erzähltechnik: Splitterprosa wie bei Andreas Neumeister - und doch kein bemühter Tiefgang. Detailverliebtheit wie bei Brigitte Kronauer - und doch kein Nouveau Roman. Vielmehr abermals in zwei Sätzen die Essenz einer Existenz: "Die Katze stolziert in die Küche, die Dienerin folgt, sie nimmt ihre Handtasche mit. Sie stellt frisches Wasser bereit, sie reinigt das Näpfchen und lobt in höchsten Tönen das Futter, dann fühlt sich die Katze beneidet, dann schmeckt es ihr besser, beide lieben sie schnurrend das Ritual." Die Katze war ein Geschenk von Feldman. ANDREAS PLATTHAUS

Christine Scherrmann: "Frau mit grünen Schuhen". Roman. Steidl Verlag, Göttingen 1995. 202 S., geb., 28,- DM.

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