Swinging London, 1968. Frederica Potter wirft ihren Job an der Kunsthochschule hin und macht, fast durch Zufall, Karriere als Moderatorin beim Fernsehen. Die Beziehung zu ihrem Geliebten John geht in die Brüche. Krisen auch in ihrem Bekanntenkreis: die Verhaltensforscherin Jacqueline, ihr Kollege Luk, Marcus, Fredericas eigenwilliger Bruder alle sind sie auf der Suche nach dem richtigen Mann, der richtigen Frau, nach Sex, nach intellektueller Herausforderung und spiritueller Einsicht. In Fredericas Heimat Yorkshire treibt derweil der Zeitgeist seltsame Blüten. Eine Anti-Universität wirrer Protestler stellt sich gegen die etablierten Wissenschaften. Auf einer Farm zieht eine Kommune mit einem charismatischen Führer ein, abgeschottet vom Rest der Welt. Die Ereignisse überstürzen sich, ein Brand bricht aus, Menschen kommen ums Leben. Würde es einen neuen Anfang geben können?
Es sind nicht nur die vielfältigen Schicksale ihrer Figuren, durch die Antonia S. Byatt ihre Leser fesselt. Körper und Geist, Kunst und Wissenschaft, Psychoanalyse und Religion nichts Geringeres als die großen Fragen der westlichen Zivilisation verbindet sie in einem kunstvollen Spiel mit Genres und Motiven zu einem komplexen, schier unerschöpflichen Romankosmos.
Es sind nicht nur die vielfältigen Schicksale ihrer Figuren, durch die Antonia S. Byatt ihre Leser fesselt. Körper und Geist, Kunst und Wissenschaft, Psychoanalyse und Religion nichts Geringeres als die großen Fragen der westlichen Zivilisation verbindet sie in einem kunstvollen Spiel mit Genres und Motiven zu einem komplexen, schier unerschöpflichen Romankosmos.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2007Dreht Frauen und Hähnen beizeiten die Hälse um
Antonia S. Byatt schließt ihre gewaltige Roman-Tetralogie über das Emanzipationsdrama der Frau ab
Antonia S. Byatts vierbändiges Emanzipationsdrama ist abgeschlossen. Über eine Zeitspanne von vierundzwanzig Jahren, seit dem Erscheinen von „Eine Jungfrau im Garten” (1978), blieb sie ihrer Figur Frederica Potter von den fünfziger Jahren bis zum Jahr 1970 auf der Spur und kommentierte das Leben eines jungen Mädchens, das im Yorkshire aufwächst, Schauspielerin werden will, aber doch sehr solide und erfolgreich in Cambridge studiert. Während Fredericas ältere Schwester an der Seite eines Kleinstadtpfarrers im Yorkshire versackt, schafft Frederica, wie Antonia S. Byatt in „Stilleben” (1985) beschreibt, den Sprung nach London. Sie arbeitet als Rundfunkjournalistin. Im „Turm zu Babel” (1996) wird ihr Versuch, die Rolle einer Ehefrau und Mutter zu übernehmen, erzählt, der in einem Scheidungsgemetzel und einem Neuanfang endet. Im jetzt vorliegenden letzten Band der Tetralogie „Frauen, die pfeifen”, der im London der Jahre 1968 bis 1970 spielt, schafft Frederica alles.
Sie wird Moderatorin der anspruchvollen Sendung „Hinter den Spiegeln” aus den ersten Tagen des Farbfernsehens, lebt mit einer anderen Frau und deren Tochter und mit ihrem Sohn Leo in einer WG, ist anerkannt, selbständig, furchtlos und gefürchtet. Zum Abschluss der Tetralogie, für die Frederica Potters Biographie nicht das Zentrum, aber immerhin ein roter Faden ist, formuliert die 1936 im Yorkshire geborene und auf einer Quäkerschule erzogene Antonia S. Byatt indirekt ihre Überzeugung von der marginalen Bedeutung des Subjekts angesichts der Wissenschaften und besonders der Naturwissenschaften.
Der Sieg der Naturwissenschaft
Diese gescheite Autorin hat ein viel stärkeres Interesse an intellektuellen Debatten als an der Psyche einer Person. Oder anders gesagt: Sie interessiert sich für Fälle. Ihre Menschen gewinnen erst dann Kontur, wenn Fachleute über sie dozieren. Die Briefe zweier Psychoanalytiker über zwei „phosphorisierende” Fälle sind dafür das beste Beispiel. Antonia S. Byatt, früher selbst Dozentin, ist neben ihrer enormen schriftstellerischen Arbeit Literaturkritikerin und für einflussreiche Zeitungen und Zeitschriften tätig.
„Frauen, die pfeifen” ist auch eine Parodie auf das martialische Sprichwort von den pfeifenden Frauen und Hähnen, denen man beizeiten die Hälse umdrehen soll. Für Frauen, behauptet Frederica auf den letzten Seiten des monströsen Romans, sei alles schwerer. „Und wenn schon!”, antwortet Luk, „du musst eben lauter pfeifen. Einfach nur lauter.” Die drei bestimmenden Frauenfiguren des Buches, neben Frederica Potter die Verhaltensforscherin Jaqueline und die durchgeknallte Astrologin Eva Wijnnobel, pfeifen laut, Frederica und Jaqueline selbstbewusst und nüchtern, Eva Wijnnobel umwabert von metaphysischem Geraune.
Es geht in diesem Band um den Sieg der Naturwissenschaft und den Zerfall autoritärer Strukturen. Zerfall der Werte, des Patriarchats, der Familie, des herkömmlichen Sittenkodex. Der Roman ist aber weniger eine moralische Unterweisung als die Beschreibung eines mentalitätsgeschichtlichen Erdrutsches aus der Zeit der Studentenrevolte.
Vom deutschen Baader-Meinhof und RAF-Hintergrund aus betrachtet, gleicht Antonia Byatts Beschreibung einem Theaterspiel. Das ist auch so gemeint, die englische Studentenrevolte bezeichnet Byatt als eine „Komödie”. Und aus dieser Komödie schlägt sie Funken. Antonia Byatt kann das Chaos, kann versuchte Morde mit blankem Spaten, kann blutverkrustete Kinder und verstockte Täter, kann eine Versammlung von Sektenmitgliedern so gut beschreiben, dass jeder Filmregisseur nur noch die Kamera drauf halten muss. Da es in England wohl keinen Schriftsteller von Ansehen gibt, den das Gruselzeitalter der Gothic Novel unbeeindruckt gelassen hätte, ist auch Byatts Roman mit Unheimlichem und Schrecklichem ausgeschmückt, allerdings nie so, dass Mitleid oder Entsetzen einfließt. Man kann von einer britischen Variante der Pulp Fiction-Ästhetik sprechen, kühl bis zum äußersten und bisweilen ziemlich komisch. In einer großartigen Szene beschreibt Byatt die Verzweiflung schutzlos in Freiheit entlassener Tiere eines Versuchslabors.
Antonia Byatt erklärt und behauptet. Das ist oft langatmig, aber manchmal auch grandios, wenn sie zum Beispiel Analogien zwischen Schnecken und Menschen nahelegt, wenn sie anspielungsreiche Tableaus aus Tier und Menschenwelt entwirft. Anspielungsreichtum ist die schöne, aber überstrapazierte Qualität dieses Romans, der literaturwissenschaftlichen Seminaren für kommende Jahre viel Arbeitsstoff bieten dürfte. Aber auch Psychologen, Ornithologen und Bibelforscher werden fündig. Von Buch zu Buch hat sie Wissen akkumuliert und das Vergnügen am Selbstzitat ausgeweitet.
Die interessantesten Persönlichkeiten des Romans sind aber keineswegs die Frauen, denn weder Frederica noch die abweisende Jaqueline oder die ins Hexenhafte überzeichnete Eva Wijnnobel gewinnen Kontur. Dagegen dominieren die hünenhafte sanfte Figur des freiheitlich gesinnten Vizekanzlers Wijnnobel der University von North-Yorkshire und Josh Lamb, ein Mann mit schrecklicher Vergangenheit. Lamb war in Anstalten, hört Stimmen, kann die Geschichte seiner Kindheit als Sohn eines methodistischen Laienpredigers nicht erzählen und ist, wie sein Analytiker sagt, der sanftmütigste und gutherzigste Mensch, mehr Geist als Materie. Lamb wird zum charismatischen Anführer einer Sekte, die sich in einem Gutshof verschanzt und Lehrmeinungen des Manichäismus über die enge Verbindung von Geist und Licht mit lebensverachtendem Verhalten kombiniert. Kapitelweise wird Denkmaterial, werden kulturhistorische Querverweise, wird das Eindringen religiöser Gegenbewegungen, werden Sinn und Unsinn von Gruppentherapien und astrologischem Hokuspokus ausgebreitet.
Sind Engel Teufel?
Antonia Byatt legt ihrem Personal viele bekannte, kluge und triviale Fragen in den Mund. „Hat Wittgenstein Engel gehasst. Waren sie in seinen Augen in Wahrheit Teufel?” Wie bedeutend ist die Rolle der Soziologie oder der Psychoanalyse? Und da alles zu einem Forschungsgegenstand wird, gehört der Sex auch dazu. Wenn Jaqueline oder Frederica während Kongressreisen oder zufälligen Ausflügen mit Wissenschaftlern ins Bett fallen, ist das biologische Notwendigkeit, nicht emotionale Faszination. Aber komisch, beide Frauen werden sofort schwanger. „Wäre die menschliche Fortpflanzung ungeschlechtlich”, denkt der Schneckenforscher Luk, „dann würden die Leute in der U-Bahn einander gleich wie die schwarzen Nacktschnecken Arion ater.”
Antonia S. Byatts Exkursion in das Zeitalter, in dem Frauen entweder „Jungfrauen des Lichts” sein oder Karriere machen wollten, in dem Männer die Vorträge ihrer Assistentinnen hielten und ein deutscher Wissenschaftler mit brauner Weste als Buhmann in der Konferenz über „Körper und Geist” die Revolte in der University von North-Yorkshire zum Ausbruch führt, ist abgeschlossen. Und doch war für Antonia S. Byatt das Modell „Emanzipation” schon im Januar 1970, der Hochblüte der Bewegung, durch die alten romantischen Glücksvorstellungen von Mann und Frau und Kindern überdeckt, denn ihr Großprojekt endet merkwürdig hoffnungsfroh und zugleich resignativ. An einem Maitag zurück in Yorkshire legt zum Finale der Schneckenforscher seinen Arm um Frederica, und sie sagt, während sich ihr Laura-Ashley-Kleid im Wind über ihren schwangeren Körper bauscht, zu ihrem Sohn Leo: „Wir haben keine Ahnung. Was wir tun werden.” Und Luk Lysgaard-Peacock sagt: „Wir werden uns etwas ausdenken.”
Lieblicher und kompromissbereiter kann eine jahrzehntelange Beschäftigung mit den Umbrüchen und Mentalitätsveränderungen in Gesellschaft, Politik, Religion und Wissenschaft in den wilden sechziger Jahren nicht ausklingen. Hat Antonia Byatt die Einsicht, dass Fortpflanzung Bedingungen stellt und Unterordnung fordert, die Hand geführt, war es der Zynismus des neuen Jahrtausends oder einfach nur der Wunsch nach einem friedvollen Ende für ihre Tetralogie? Jedenfalls ist dieses Ende oder Fredericas neuer Anfang einigermaßen unerwartet.
„Frauen, die pfeifen” ist ein Roman über das Scheitern von Idealen. Ein Universitäts- und Emanzipationsroman, eine traurige Komödie religiös getönter Abirrungen und gruppentherapeutischer Appelle, jedenfalls ein Gebirge, in dem die Bäume wohlklingende Namen haben und alles repräsentieren, was Wachstum verspricht. „Frauen, die pfeifen” ist ein überfrachtetes Gruselmärchen und ein riesiger Topf, in dem die großen Themen und Bewegungen der sechziger Jahre noch einmal gründlich aufgekocht worden sind.VERENA AUFFERMANN
ANTONIA S. BYATT: Frauen, die pfeifen. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Heinrich, Andrea Stumpf und Melanie Walz. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006. 540 Seiten, 24,80 Euro.
Frauen müssen eben lauter pfeifen: Londoner Straßenszene 1971 Foto: Rita Strothjohann
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Antonia S. Byatt schließt ihre gewaltige Roman-Tetralogie über das Emanzipationsdrama der Frau ab
Antonia S. Byatts vierbändiges Emanzipationsdrama ist abgeschlossen. Über eine Zeitspanne von vierundzwanzig Jahren, seit dem Erscheinen von „Eine Jungfrau im Garten” (1978), blieb sie ihrer Figur Frederica Potter von den fünfziger Jahren bis zum Jahr 1970 auf der Spur und kommentierte das Leben eines jungen Mädchens, das im Yorkshire aufwächst, Schauspielerin werden will, aber doch sehr solide und erfolgreich in Cambridge studiert. Während Fredericas ältere Schwester an der Seite eines Kleinstadtpfarrers im Yorkshire versackt, schafft Frederica, wie Antonia S. Byatt in „Stilleben” (1985) beschreibt, den Sprung nach London. Sie arbeitet als Rundfunkjournalistin. Im „Turm zu Babel” (1996) wird ihr Versuch, die Rolle einer Ehefrau und Mutter zu übernehmen, erzählt, der in einem Scheidungsgemetzel und einem Neuanfang endet. Im jetzt vorliegenden letzten Band der Tetralogie „Frauen, die pfeifen”, der im London der Jahre 1968 bis 1970 spielt, schafft Frederica alles.
Sie wird Moderatorin der anspruchvollen Sendung „Hinter den Spiegeln” aus den ersten Tagen des Farbfernsehens, lebt mit einer anderen Frau und deren Tochter und mit ihrem Sohn Leo in einer WG, ist anerkannt, selbständig, furchtlos und gefürchtet. Zum Abschluss der Tetralogie, für die Frederica Potters Biographie nicht das Zentrum, aber immerhin ein roter Faden ist, formuliert die 1936 im Yorkshire geborene und auf einer Quäkerschule erzogene Antonia S. Byatt indirekt ihre Überzeugung von der marginalen Bedeutung des Subjekts angesichts der Wissenschaften und besonders der Naturwissenschaften.
Der Sieg der Naturwissenschaft
Diese gescheite Autorin hat ein viel stärkeres Interesse an intellektuellen Debatten als an der Psyche einer Person. Oder anders gesagt: Sie interessiert sich für Fälle. Ihre Menschen gewinnen erst dann Kontur, wenn Fachleute über sie dozieren. Die Briefe zweier Psychoanalytiker über zwei „phosphorisierende” Fälle sind dafür das beste Beispiel. Antonia S. Byatt, früher selbst Dozentin, ist neben ihrer enormen schriftstellerischen Arbeit Literaturkritikerin und für einflussreiche Zeitungen und Zeitschriften tätig.
„Frauen, die pfeifen” ist auch eine Parodie auf das martialische Sprichwort von den pfeifenden Frauen und Hähnen, denen man beizeiten die Hälse umdrehen soll. Für Frauen, behauptet Frederica auf den letzten Seiten des monströsen Romans, sei alles schwerer. „Und wenn schon!”, antwortet Luk, „du musst eben lauter pfeifen. Einfach nur lauter.” Die drei bestimmenden Frauenfiguren des Buches, neben Frederica Potter die Verhaltensforscherin Jaqueline und die durchgeknallte Astrologin Eva Wijnnobel, pfeifen laut, Frederica und Jaqueline selbstbewusst und nüchtern, Eva Wijnnobel umwabert von metaphysischem Geraune.
Es geht in diesem Band um den Sieg der Naturwissenschaft und den Zerfall autoritärer Strukturen. Zerfall der Werte, des Patriarchats, der Familie, des herkömmlichen Sittenkodex. Der Roman ist aber weniger eine moralische Unterweisung als die Beschreibung eines mentalitätsgeschichtlichen Erdrutsches aus der Zeit der Studentenrevolte.
Vom deutschen Baader-Meinhof und RAF-Hintergrund aus betrachtet, gleicht Antonia Byatts Beschreibung einem Theaterspiel. Das ist auch so gemeint, die englische Studentenrevolte bezeichnet Byatt als eine „Komödie”. Und aus dieser Komödie schlägt sie Funken. Antonia Byatt kann das Chaos, kann versuchte Morde mit blankem Spaten, kann blutverkrustete Kinder und verstockte Täter, kann eine Versammlung von Sektenmitgliedern so gut beschreiben, dass jeder Filmregisseur nur noch die Kamera drauf halten muss. Da es in England wohl keinen Schriftsteller von Ansehen gibt, den das Gruselzeitalter der Gothic Novel unbeeindruckt gelassen hätte, ist auch Byatts Roman mit Unheimlichem und Schrecklichem ausgeschmückt, allerdings nie so, dass Mitleid oder Entsetzen einfließt. Man kann von einer britischen Variante der Pulp Fiction-Ästhetik sprechen, kühl bis zum äußersten und bisweilen ziemlich komisch. In einer großartigen Szene beschreibt Byatt die Verzweiflung schutzlos in Freiheit entlassener Tiere eines Versuchslabors.
Antonia Byatt erklärt und behauptet. Das ist oft langatmig, aber manchmal auch grandios, wenn sie zum Beispiel Analogien zwischen Schnecken und Menschen nahelegt, wenn sie anspielungsreiche Tableaus aus Tier und Menschenwelt entwirft. Anspielungsreichtum ist die schöne, aber überstrapazierte Qualität dieses Romans, der literaturwissenschaftlichen Seminaren für kommende Jahre viel Arbeitsstoff bieten dürfte. Aber auch Psychologen, Ornithologen und Bibelforscher werden fündig. Von Buch zu Buch hat sie Wissen akkumuliert und das Vergnügen am Selbstzitat ausgeweitet.
Die interessantesten Persönlichkeiten des Romans sind aber keineswegs die Frauen, denn weder Frederica noch die abweisende Jaqueline oder die ins Hexenhafte überzeichnete Eva Wijnnobel gewinnen Kontur. Dagegen dominieren die hünenhafte sanfte Figur des freiheitlich gesinnten Vizekanzlers Wijnnobel der University von North-Yorkshire und Josh Lamb, ein Mann mit schrecklicher Vergangenheit. Lamb war in Anstalten, hört Stimmen, kann die Geschichte seiner Kindheit als Sohn eines methodistischen Laienpredigers nicht erzählen und ist, wie sein Analytiker sagt, der sanftmütigste und gutherzigste Mensch, mehr Geist als Materie. Lamb wird zum charismatischen Anführer einer Sekte, die sich in einem Gutshof verschanzt und Lehrmeinungen des Manichäismus über die enge Verbindung von Geist und Licht mit lebensverachtendem Verhalten kombiniert. Kapitelweise wird Denkmaterial, werden kulturhistorische Querverweise, wird das Eindringen religiöser Gegenbewegungen, werden Sinn und Unsinn von Gruppentherapien und astrologischem Hokuspokus ausgebreitet.
Sind Engel Teufel?
Antonia Byatt legt ihrem Personal viele bekannte, kluge und triviale Fragen in den Mund. „Hat Wittgenstein Engel gehasst. Waren sie in seinen Augen in Wahrheit Teufel?” Wie bedeutend ist die Rolle der Soziologie oder der Psychoanalyse? Und da alles zu einem Forschungsgegenstand wird, gehört der Sex auch dazu. Wenn Jaqueline oder Frederica während Kongressreisen oder zufälligen Ausflügen mit Wissenschaftlern ins Bett fallen, ist das biologische Notwendigkeit, nicht emotionale Faszination. Aber komisch, beide Frauen werden sofort schwanger. „Wäre die menschliche Fortpflanzung ungeschlechtlich”, denkt der Schneckenforscher Luk, „dann würden die Leute in der U-Bahn einander gleich wie die schwarzen Nacktschnecken Arion ater.”
Antonia S. Byatts Exkursion in das Zeitalter, in dem Frauen entweder „Jungfrauen des Lichts” sein oder Karriere machen wollten, in dem Männer die Vorträge ihrer Assistentinnen hielten und ein deutscher Wissenschaftler mit brauner Weste als Buhmann in der Konferenz über „Körper und Geist” die Revolte in der University von North-Yorkshire zum Ausbruch führt, ist abgeschlossen. Und doch war für Antonia S. Byatt das Modell „Emanzipation” schon im Januar 1970, der Hochblüte der Bewegung, durch die alten romantischen Glücksvorstellungen von Mann und Frau und Kindern überdeckt, denn ihr Großprojekt endet merkwürdig hoffnungsfroh und zugleich resignativ. An einem Maitag zurück in Yorkshire legt zum Finale der Schneckenforscher seinen Arm um Frederica, und sie sagt, während sich ihr Laura-Ashley-Kleid im Wind über ihren schwangeren Körper bauscht, zu ihrem Sohn Leo: „Wir haben keine Ahnung. Was wir tun werden.” Und Luk Lysgaard-Peacock sagt: „Wir werden uns etwas ausdenken.”
Lieblicher und kompromissbereiter kann eine jahrzehntelange Beschäftigung mit den Umbrüchen und Mentalitätsveränderungen in Gesellschaft, Politik, Religion und Wissenschaft in den wilden sechziger Jahren nicht ausklingen. Hat Antonia Byatt die Einsicht, dass Fortpflanzung Bedingungen stellt und Unterordnung fordert, die Hand geführt, war es der Zynismus des neuen Jahrtausends oder einfach nur der Wunsch nach einem friedvollen Ende für ihre Tetralogie? Jedenfalls ist dieses Ende oder Fredericas neuer Anfang einigermaßen unerwartet.
„Frauen, die pfeifen” ist ein Roman über das Scheitern von Idealen. Ein Universitäts- und Emanzipationsroman, eine traurige Komödie religiös getönter Abirrungen und gruppentherapeutischer Appelle, jedenfalls ein Gebirge, in dem die Bäume wohlklingende Namen haben und alles repräsentieren, was Wachstum verspricht. „Frauen, die pfeifen” ist ein überfrachtetes Gruselmärchen und ein riesiger Topf, in dem die großen Themen und Bewegungen der sechziger Jahre noch einmal gründlich aufgekocht worden sind.VERENA AUFFERMANN
ANTONIA S. BYATT: Frauen, die pfeifen. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Heinrich, Andrea Stumpf und Melanie Walz. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006. 540 Seiten, 24,80 Euro.
Frauen müssen eben lauter pfeifen: Londoner Straßenszene 1971 Foto: Rita Strothjohann
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Alexandra Kedves feiert die gerade siebzig Jahre alt gewordene Autorin als postmoderne Königin viktorianischer Erzählvirtuosität. Dass Antonia S. Byatt in ihrer Prosa wie niemand sonst "sense and sensibility", "tiefgründige Romanzen samt Dickens'scher Wendungen" und "Eliot'sche Ethik" zu verbinden versteht, zeigt Kedves auch dieser 2002 im Original erschienene Roman. In diesem Buch, das Kedves zufolge der Abschluss eines aus insgesamt vier Romanen bestehenden "Großbritannien-Panoramas" der Jahre 1957-1970 ist, geht es um eine alleinerziehende Mutter, die Karriere beim gerade zu seiner Form findenden Fernsehen Karriere zu machen versucht. Auch diesmal beweist sich Byatt der Rezensentin als ausgreifende, aber sichere Erzählerin. Nur ganz selten sieht Kedves die autobiografisch grundierte Handlung in einem gewissen "Pointillismus" verschwimmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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