Im Dezember 2012 wird eine 23-jährige Studentin in einem Bus in Delhi zum Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Ihr Tod kurz darauf löst wochenlange Proteste in Indien aus. Katharina Kakars bewegendes Buch erschließt uns die Lebensrealität der Frauen auf dem Subkontinent, die millionenfaches Unrecht erleiden, aber häufig auch unvorstellbaren Mut aufbringen, um sich zu wehren.
Dabei kennt die Gewalt viele Gestalten: Ehrenmorde und häusliche Gewalt, Mitgiftmorde und Vergewaltigungen, die Abtreibung weiblicher Föten und die Tötung kleiner Mädchen sind in Indien an der Tagesordnung. Sucht man nach den Gründen, begegnet man zwei gleichermaßen erdrückenden Realitäten: den patriarchalen Strukturen in den höheren Kasten und dem ökonomischen Überlebenskampf der unteren Schichten. Katharina Kakar zeichnet ein vielfältiges Bild der Welt indischer Frauen, die Lichtseiten eingeschlossen: So ist der berufliche Weg von gut ausgebildeten Frauen in Indien oft leichter als vielerorts im Westen. Die Heldinnen dieses Buches aber sind die Frauen, die sich findig und furchtlos gegen das Unrecht stellen.
Dabei kennt die Gewalt viele Gestalten: Ehrenmorde und häusliche Gewalt, Mitgiftmorde und Vergewaltigungen, die Abtreibung weiblicher Föten und die Tötung kleiner Mädchen sind in Indien an der Tagesordnung. Sucht man nach den Gründen, begegnet man zwei gleichermaßen erdrückenden Realitäten: den patriarchalen Strukturen in den höheren Kasten und dem ökonomischen Überlebenskampf der unteren Schichten. Katharina Kakar zeichnet ein vielfältiges Bild der Welt indischer Frauen, die Lichtseiten eingeschlossen: So ist der berufliche Weg von gut ausgebildeten Frauen in Indien oft leichter als vielerorts im Westen. Die Heldinnen dieses Buches aber sind die Frauen, die sich findig und furchtlos gegen das Unrecht stellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2015Das Kollektiv straft mit Gewalt und Isolation
Die Macht tradierter Regeln dient der Unterdrückung: Katharina Kakar beschreibt die Lage von Frauen in Indien und sucht nach Zeichen des Wandels.
Im Jahr 2012 verursachten die Gruppenvergewaltigung und der anschließende Tod einer jungen Frau aus dem Mittelstand in Delhi einen weltweiten Aufschrei. Die Täter wurden zum Tode verurteilt, die indischen Gesetze verschärft, und seitdem hat die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Gewalt gegen Frauen beziehungsweise deren Suche nach Gerechtigkeit und Emanzipation nicht nachgelassen. Auch im deutschen Sprachraum gab es viele Reportagen, oft sensationsheischend aufgemacht, die ihre Geschichten ohne gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext erzählten. Die notwendigen Maßstäbe liefert nun das Buch einer deutschen Anthropologin und Indologin, die seit Jahren in Indien lebt und mit dem indischen Alltag vertraut ist.
Katharina Kakar ist verheiratet mit dem bekanntesten indischen Psychoanalytiker, Sudhir Kakar, der seit Jahrzehnten die Probleme der indischen Gesellschaft erforscht. Ihr Buch ist ein erschütterndes Dokument darüber, was eine Gesellschaft durch starre Hierarchiegläubigkeit und Leibfeindlichkeit aus dem Leben ihrer Frauen gemacht hat.
Einerseits vergöttlichen Hindus Frauen als Präsentationen der Muttergottheit, andererseits entmenschlichen sie sie durch restriktive soziale Regeln und Rollenbilder, die meist der Mythologie entnommen sind. Beide Extreme sind antiliberale Haltungen, die die persönliche Verwirklichung in Familie und Beruf nicht fördern. Die Darstellungen beschränken sich auf den hinduistischen Teil der Bevölkerung, schließen also Muslime, Stammesangehörige, Christen, Sikhs und andere Minderheiten aus. Gerade die Stammesangehörigen pflegen einen wesentlich liberaleren Lebensstil.
Als Einstieg wählt Katharina Kakar zwei Bereiche, die vielen Lesern vertraut sein dürften: die städtische Mittelschicht - eben jenes Indien, das Touristen erleben - und die Bollywood-Filme. Die städtische Mittelschicht wächst nach westlichen Vorbildern auf, doch dürfen und können sich die Frauen nicht von alten Rollenbildern trennen: Auch wenn sie eine Karriere anstreben, wird von ihnen erwartet, erwarten sie von sich selbst, dass sie heiraten und eine Familie gründen, dem Ehemann und dessen Familie zu Diensten sind und Kinder aufziehen. Erst als Mutter, vor allem als Mutter von Söhnen, erfüllen sie die Rolle einer Frau.
In den Kapiteln über Ehe, Status der Frauen innerhalb der Großfamilie, über männliche Macht und daraus entstehende Gewalt gegenüber den Frauen entfaltet die Autorin ein Szenario, in dem Knechtung durch Hierarchie und Demütigung durch Gewalt zum Zusammenleben gehören. Flexibilität, Toleranz, Verständnis für Andersartigkeit und Vergebung haben kaum eine Chance, zumindest sind sie keine traditionell sanktionierten Mittel. "Das Kollektiv", sei es die Großfamilie, die Kaste, der Klan, die Dorfgemeinschaft, straft bis heute zuwiderhandelnde Mitglieder durch Gewalt und Isolation. Dabei, so zeigt Katharina Kakar, reißen die Älteren des Kollektivs das Gesetz an sich und sprechen selbstherrlich Strafe und Ächtung aus, bis hin zu Strafvergewaltigung und Mord.
Die Situation der Frauen wird nicht notwendig besser, je wohlhabender und gebildeter sie sind. Mit Hilfe von antimodernen, frauenfeindlichen Werten versichern sich wirtschaftlich aufstrebende Familien oft ihrer indischen Identität. Allerdings ist gerade in der Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten eine Vielfalt von Bewegungen aufgebrochen, in denen Frauen um die Freiheit ihrer Entscheidungen kämpfen. Wird dieser Aktivismus die Gewaltstrukturen aufbrechen können - zumindest auf längere Sicht? Die Tatsache, dass auch diese Frauen nicht frei sind vom Rollenverständnis, das ihnen die Gesellschaft aufgedrängt hat, stimmt pessimistisch. Die Autorin betont, dass man Frauen nicht nur als Opfer ihrer sozialen Situation sehen darf, sondern auch als Täterinnen. Gerade Schwiegermütter und Mütter perpetuieren das System. Das positive Zeichen eines Wandels sieht sie in der Tendenz, dass sich Frauen in den Dörfern zu Selbsthilfegruppen verbinden und auf unterer Regierungsebene - den Panchayats - durch Quotenreglung politische Teilhabe erreichen.
Katharina Kakar schreibt unsentimental und doch engagiert. Sie betont die Extreme des thematischen Spektrums, die selbst dem geübten Beobachter verborgen bleiben, weil sie sich in der Privatsphäre abspielen. Sie hat die breite Literatur zum Thema in englischer Sprache aufgearbeitet, vertraut aber bei der Auswertung auf ihre eigenen Erfahrungen. Ihr Buch geht alle an, die sich für Indien, seine Gesellschaft und Korrektive jeder Idealisierung dieses Landes interessieren. In diesen Monaten verstärkt sich die Atmosphäre der Intoleranz, die inzwischen von Intellektuellen und Medien bekämpft wird. Kakar macht deutlich, dass die Emanzipationsbemühungen indischer Frauen nur innerhalb dieses Kampfes um Meinungsfreiheit und zivile Rechte der gesamten Bevölkerung Sinn und Aussicht auf Erfolg haben.
MARTIN KÄMPCHEN
Katharina Kakar: "Frauen
in Indien". Leben zwischen Unterdrückung und
Widerstand.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 232 S., br., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Macht tradierter Regeln dient der Unterdrückung: Katharina Kakar beschreibt die Lage von Frauen in Indien und sucht nach Zeichen des Wandels.
Im Jahr 2012 verursachten die Gruppenvergewaltigung und der anschließende Tod einer jungen Frau aus dem Mittelstand in Delhi einen weltweiten Aufschrei. Die Täter wurden zum Tode verurteilt, die indischen Gesetze verschärft, und seitdem hat die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Gewalt gegen Frauen beziehungsweise deren Suche nach Gerechtigkeit und Emanzipation nicht nachgelassen. Auch im deutschen Sprachraum gab es viele Reportagen, oft sensationsheischend aufgemacht, die ihre Geschichten ohne gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext erzählten. Die notwendigen Maßstäbe liefert nun das Buch einer deutschen Anthropologin und Indologin, die seit Jahren in Indien lebt und mit dem indischen Alltag vertraut ist.
Katharina Kakar ist verheiratet mit dem bekanntesten indischen Psychoanalytiker, Sudhir Kakar, der seit Jahrzehnten die Probleme der indischen Gesellschaft erforscht. Ihr Buch ist ein erschütterndes Dokument darüber, was eine Gesellschaft durch starre Hierarchiegläubigkeit und Leibfeindlichkeit aus dem Leben ihrer Frauen gemacht hat.
Einerseits vergöttlichen Hindus Frauen als Präsentationen der Muttergottheit, andererseits entmenschlichen sie sie durch restriktive soziale Regeln und Rollenbilder, die meist der Mythologie entnommen sind. Beide Extreme sind antiliberale Haltungen, die die persönliche Verwirklichung in Familie und Beruf nicht fördern. Die Darstellungen beschränken sich auf den hinduistischen Teil der Bevölkerung, schließen also Muslime, Stammesangehörige, Christen, Sikhs und andere Minderheiten aus. Gerade die Stammesangehörigen pflegen einen wesentlich liberaleren Lebensstil.
Als Einstieg wählt Katharina Kakar zwei Bereiche, die vielen Lesern vertraut sein dürften: die städtische Mittelschicht - eben jenes Indien, das Touristen erleben - und die Bollywood-Filme. Die städtische Mittelschicht wächst nach westlichen Vorbildern auf, doch dürfen und können sich die Frauen nicht von alten Rollenbildern trennen: Auch wenn sie eine Karriere anstreben, wird von ihnen erwartet, erwarten sie von sich selbst, dass sie heiraten und eine Familie gründen, dem Ehemann und dessen Familie zu Diensten sind und Kinder aufziehen. Erst als Mutter, vor allem als Mutter von Söhnen, erfüllen sie die Rolle einer Frau.
In den Kapiteln über Ehe, Status der Frauen innerhalb der Großfamilie, über männliche Macht und daraus entstehende Gewalt gegenüber den Frauen entfaltet die Autorin ein Szenario, in dem Knechtung durch Hierarchie und Demütigung durch Gewalt zum Zusammenleben gehören. Flexibilität, Toleranz, Verständnis für Andersartigkeit und Vergebung haben kaum eine Chance, zumindest sind sie keine traditionell sanktionierten Mittel. "Das Kollektiv", sei es die Großfamilie, die Kaste, der Klan, die Dorfgemeinschaft, straft bis heute zuwiderhandelnde Mitglieder durch Gewalt und Isolation. Dabei, so zeigt Katharina Kakar, reißen die Älteren des Kollektivs das Gesetz an sich und sprechen selbstherrlich Strafe und Ächtung aus, bis hin zu Strafvergewaltigung und Mord.
Die Situation der Frauen wird nicht notwendig besser, je wohlhabender und gebildeter sie sind. Mit Hilfe von antimodernen, frauenfeindlichen Werten versichern sich wirtschaftlich aufstrebende Familien oft ihrer indischen Identität. Allerdings ist gerade in der Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten eine Vielfalt von Bewegungen aufgebrochen, in denen Frauen um die Freiheit ihrer Entscheidungen kämpfen. Wird dieser Aktivismus die Gewaltstrukturen aufbrechen können - zumindest auf längere Sicht? Die Tatsache, dass auch diese Frauen nicht frei sind vom Rollenverständnis, das ihnen die Gesellschaft aufgedrängt hat, stimmt pessimistisch. Die Autorin betont, dass man Frauen nicht nur als Opfer ihrer sozialen Situation sehen darf, sondern auch als Täterinnen. Gerade Schwiegermütter und Mütter perpetuieren das System. Das positive Zeichen eines Wandels sieht sie in der Tendenz, dass sich Frauen in den Dörfern zu Selbsthilfegruppen verbinden und auf unterer Regierungsebene - den Panchayats - durch Quotenreglung politische Teilhabe erreichen.
Katharina Kakar schreibt unsentimental und doch engagiert. Sie betont die Extreme des thematischen Spektrums, die selbst dem geübten Beobachter verborgen bleiben, weil sie sich in der Privatsphäre abspielen. Sie hat die breite Literatur zum Thema in englischer Sprache aufgearbeitet, vertraut aber bei der Auswertung auf ihre eigenen Erfahrungen. Ihr Buch geht alle an, die sich für Indien, seine Gesellschaft und Korrektive jeder Idealisierung dieses Landes interessieren. In diesen Monaten verstärkt sich die Atmosphäre der Intoleranz, die inzwischen von Intellektuellen und Medien bekämpft wird. Kakar macht deutlich, dass die Emanzipationsbemühungen indischer Frauen nur innerhalb dieses Kampfes um Meinungsfreiheit und zivile Rechte der gesamten Bevölkerung Sinn und Aussicht auf Erfolg haben.
MARTIN KÄMPCHEN
Katharina Kakar: "Frauen
in Indien". Leben zwischen Unterdrückung und
Widerstand.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 232 S., br., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit großem Interesse hat Rezensent Martin Kämpchen Katharina Kakars Buch über "Frauen in Indien" gelesen. Erschüttert erfährt der Kritiker bei der deutschen in Indien lebenden Anthropologin, wie sehr die Hierarchiegläubigkeit und Leibfeindlichkeit der antiliberalen hinduistischen Gesellschaft das Leben indischer Frauen prägt: Frauen werden einerseits als Präsentationen der Muttergottheit verehrt, andererseits durch der Mythologie entnommene restriktive Rollenbilder entmenschlicht, informiert der Kritiker, der entsetzt liest, wie Frauen durch Gewalt, Isolation oder Strafvergewaltigung in der Ehe, Großfamilie oder dem Klan gedemütigt werden. Darüber hinaus erfährt der Rezensent, dass Frauen die Rollenbilder oft selbst mittragen, Selbsthilfegruppen und Emanzipationsbewegungen aber dennoch zunehmen. Nicht zuletzt lobt Kämpchen den engagierten und unsentimentalen Erzählton der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein überaus differenziertes Buch, das auch positiven Entwicklungen viel Raum gibt".
Kathrin Meier-Rust, NZZ, 24. April 2016
"Ihr Buch geht alle an, die sich für Indien, seine Gesellschaft und Korrektive jeder Idealisierung dieses Landes interessieren."
Martin Kämpchen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Dezember 2015
"Katharina Kakar ordnet die Gewalttaten [...] in einen größeren sozialen Zusammenhang ein."
dpa München, 3. November 2015
Kathrin Meier-Rust, NZZ, 24. April 2016
"Ihr Buch geht alle an, die sich für Indien, seine Gesellschaft und Korrektive jeder Idealisierung dieses Landes interessieren."
Martin Kämpchen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Dezember 2015
"Katharina Kakar ordnet die Gewalttaten [...] in einen größeren sozialen Zusammenhang ein."
dpa München, 3. November 2015