In England beliebt und kanonisiert, hierzulande noch ein Geheimtipp: die Autorin Elizabeth GaskellGesellschaftliche Erwartungen und Verpflichtungen, Klassenunterschiede und Standesdünkel: Elizabeth Gaskell beschreibt das englische Landleben mit einem ausgeprägten Sinn für die kleinen Dramen des Alltags. Das Lieben, Verloben und Heiraten im Bannkreis sozialer Normen nimmt sie mit feiner Ironie in den Blick und steht der großen Jane Austen dabei in nichts nach. So zeichnet sie mit 'Frauen und Töchter' ein lebendiges Sittenbild des 19. Jahrhunderts, das als ihr bestes Werk gilt.Mit einem ausführlichen Nachwort.Mit Daten zu Leben und Werk.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Herzen in Aufruhr
Elizabeth Gaskells Roman "Frauen und Töchter" erzählt mit Witz und Charme von den Aufregungen des viktorianischen Landlebens.
Von Tobias Döring
Als gewissenhafter Landarzt ist Mr. Gibson zwar auch chirurgisch ausgebildet, doch nie hat er gelernt, das weibliche Herz zu sezieren. Die Aufgabe fällt daher der Erzählerin zu, die sich darin meisterlich bewährt. Detailgenau, behutsam und mit dezentem Witz entfaltet sie für ihre Leser eine Alltagswelt, deren ländlich abgeschiedenes Leben keineswegs von schicksalshaften Herzenswirren frei ist, wie sie sich nur in der ausschweifenden Fülle eines viktorianischen Romans erzählen lassen. Das Wunderbare ist, dass wir bei aller Anteilnahme auf Distanz gehalten werden und meist eher als die handelnden Figuren ahnen, was ihnen bevorsteht. Und das Ende der Geschichte müssen wir selbst imaginieren, denn die letzten Seiten wurden nie geschrieben. Kurz vor dem Finale ihres Fortsetzungsromans starb die Autorin.
Noch immer ist Elizabeth Gaskell (1810 bis 1865), deren Erzählkunst eine Brücke von Jane Austen zu Charles Dickens schlägt, bei uns zu entdecken. Ihre eindringlichen Industrieromane, die in England gleichermaßen Literatur- wie Sozialgeschichte schrieben und dafür von Karl Marx gerühmt wurden, sind so wenig in adäquaten Ausgaben greifbar wie ihre subtilen Erkundungen des vorindustriellen Landlebens, dem sie entstammte. Es ist an der Zeit, dass dieser Könnerin der Herzens- und Gesellschaftsanalyse eine deutsche Gesamtausgabe gewidmet wird. Immerhin lässt Manesse einem Band mit Erzählungen von 2010 jetzt eine Neuauflage ihres Vermächtnisromans folgen.
Heimliche Heldin des ausgedehnten Plots um die Heiratspolitik des Landadels ist Molly, Tochter besagten Landarztes. Der, früh verwitwet, heiratet aufs Neue, und mit der neuen Frau kommt eine Stieftochter ins Haus, die sämtlichen Männern den Kopf verdreht. Auch Mollys unstandesgemäße Leidenschaft für einen Adelsspross wird einer harten Probe unterzogen. Eingebettet wird dies in ein Beziehungsgeflecht der ländlichen Lebenswelt zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert, noch ehe die Eisenbahn für Abwechslung sorgen konnte. Alle Aufregung liegt hier im Unspektakulären. Kein Geringerer als Henry James rühmte 1866 den Roman, weil er sämtliche Figuren so lebhaft schildert, dass wir uns ihnen leibhaftig nahe fühlen. Und jetzt, da die Tage kürzer werden, kann man sich nichts Schöneres vornehmen, als lange Abende in dieser Gesellschaft zu verbringen.
Elizabeth Gaskell: "Frauen und Töchter". Roman.
Aus dem Englischen von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich 2015. 870 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elizabeth Gaskells Roman "Frauen und Töchter" erzählt mit Witz und Charme von den Aufregungen des viktorianischen Landlebens.
Von Tobias Döring
Als gewissenhafter Landarzt ist Mr. Gibson zwar auch chirurgisch ausgebildet, doch nie hat er gelernt, das weibliche Herz zu sezieren. Die Aufgabe fällt daher der Erzählerin zu, die sich darin meisterlich bewährt. Detailgenau, behutsam und mit dezentem Witz entfaltet sie für ihre Leser eine Alltagswelt, deren ländlich abgeschiedenes Leben keineswegs von schicksalshaften Herzenswirren frei ist, wie sie sich nur in der ausschweifenden Fülle eines viktorianischen Romans erzählen lassen. Das Wunderbare ist, dass wir bei aller Anteilnahme auf Distanz gehalten werden und meist eher als die handelnden Figuren ahnen, was ihnen bevorsteht. Und das Ende der Geschichte müssen wir selbst imaginieren, denn die letzten Seiten wurden nie geschrieben. Kurz vor dem Finale ihres Fortsetzungsromans starb die Autorin.
Noch immer ist Elizabeth Gaskell (1810 bis 1865), deren Erzählkunst eine Brücke von Jane Austen zu Charles Dickens schlägt, bei uns zu entdecken. Ihre eindringlichen Industrieromane, die in England gleichermaßen Literatur- wie Sozialgeschichte schrieben und dafür von Karl Marx gerühmt wurden, sind so wenig in adäquaten Ausgaben greifbar wie ihre subtilen Erkundungen des vorindustriellen Landlebens, dem sie entstammte. Es ist an der Zeit, dass dieser Könnerin der Herzens- und Gesellschaftsanalyse eine deutsche Gesamtausgabe gewidmet wird. Immerhin lässt Manesse einem Band mit Erzählungen von 2010 jetzt eine Neuauflage ihres Vermächtnisromans folgen.
Heimliche Heldin des ausgedehnten Plots um die Heiratspolitik des Landadels ist Molly, Tochter besagten Landarztes. Der, früh verwitwet, heiratet aufs Neue, und mit der neuen Frau kommt eine Stieftochter ins Haus, die sämtlichen Männern den Kopf verdreht. Auch Mollys unstandesgemäße Leidenschaft für einen Adelsspross wird einer harten Probe unterzogen. Eingebettet wird dies in ein Beziehungsgeflecht der ländlichen Lebenswelt zu Beginn des neunzehnten Jahrhundert, noch ehe die Eisenbahn für Abwechslung sorgen konnte. Alle Aufregung liegt hier im Unspektakulären. Kein Geringerer als Henry James rühmte 1866 den Roman, weil er sämtliche Figuren so lebhaft schildert, dass wir uns ihnen leibhaftig nahe fühlen. Und jetzt, da die Tage kürzer werden, kann man sich nichts Schöneres vornehmen, als lange Abende in dieser Gesellschaft zu verbringen.
Elizabeth Gaskell: "Frauen und Töchter". Roman.
Aus dem Englischen von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich 2015. 870 S., geb., 26,90 [Euro].
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