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Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • Seitenzahl: 320
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 510g
  • ISBN-13: 9783827002518
  • ISBN-10: 3827002516
  • Artikelnr.: 24055393
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.1999

Jeder Freak trägt das Modellkleid von Foucault
Jamake Highwater will sich und seinesgleichen eine tolle gesellschaftliche Stellung schaffen

Es ist schwierig, nicht konformistisch über Individualiät zu sprechen. Noch schwieriger ist es, wenn es um die eigene geht. Wer sagt "Ich bin anders als alle anderen", sagt einerseits etwas Triviales und steht andererseits in Gefahr zu übertreiben. Fataler noch: Er sagt etwas, das schon so oft gesagt wurde, daß man ihm zwar glauben mag, dabei aber doch darauf hinweisen möchte, daß leider gerade diese Behauptung kein geeignetes Mittel ist, das Behauptete zu unterstreichen.

Dieser Vorgang der Sabotage von Individualität durch ihre Behauptung ist schon öfter vorgekommen. So haben Künstler im Zeichen der Programmatik eines "l'art pour l'art" versucht, die Einzigartigkeit der Kunst zu demonstrieren. Vergeblich - denn zwar gibt es einzigartige Werke, aber die Einzigartigkeit selbst ließ sich nicht malen. Genauer: Sie ließ sich nur, etwa präraffaelitisch, stilisieren. Das umgekehrte Beispiel ist die Mode, in der die Selbstsabotage der Einzigartigkeitsbehauptung - die Unmöglichkeit, keine Kopie zu sein - geradezu genossen wird. "Ich trage anderes als alle anderen", das sagt erst eine, dann mehrere, dann beinahe alle. Die Mode macht mit der Zeit alle zu Innenseitern.

"Ich bin ein Außenseiter", lautet der erste Satz des vorliegenden Buches. Der Autor hat durchaus Motive, das zu sagen. Er ist Amerikaner indianischer Abstammung, Waise, im Waisenhaus sexuell mißbraucht worden, homosexuell und laut Klappentext ein "außergewöhnlicher Künstler". Die Theorie der Individualität, die er liefern möchte, gibt sich als Verarbeitung dieser biographischen Elemente. Es ist eine Theorie der Individuation durch Ausschluß. Behauptet wird, daß die aus der Welt der normalen Menschen Ausgeschlossenen, die Marginalisierten, größere Chancen auf Individualität besitzen als diejenigen, die normkonform leben. Dies jedenfalls dann, wenn es ihnen, wie dem Autor, gelingt, aus dem Ausgeschlossensein eine Suche nach dem eigenen Selbst zu machen. Seine Begründung ist, daß es sich bei den von der Gruppe Abgewiesenen - Highwater stellt sich die Gesellschaft stammesförmig vor - um die "Entfremdeten" handelt. Entfremdet seien sie sich selbst noch mehr als der Gesellschaft, deshalb aber dazu befähigt, mehr zu sehen als alle, die sich über die eigene Entfremdung täuschen.

Dieser Theoriestil ist seit längerem eingeführt. Highwater redet über die "Freaks" - vorzugsweise Homosexuelle und Frauen - so, wie früher über das Proletariat und später dann über die politische Avantgarde geredet wurde. Er vermutet die besten Chancen auf soziologische Erkenntnis am Rand der Gesellschaft. Auch wenn nicht wirklich klar wird, warum dort die Frauen leben, könnte eine solche kulturhistorisch informierte Theorie des abweichenden Verhaltens interessant sein. Unter Verwendung der Mosaiksteine, die Highwater aus allen möglichen Mythen, Literaturen, Philosophien herausbricht, könnte sie etwa fragen, wie es verschiedenen Gesellschaften gelingt, bei außergewöhnlichen Individuen, die die Normalerwartungen verletzen, zwischen Künstlern, Verbrechern oder Erfindern zu unterscheiden. Denn es ist ja unzutreffend, wenn Highwater behauptet, Außenseiter würden heute nicht verehrt, sondern durchweg bestraft, gemieden und geächtet. Der bloße Tatbestand der Abweichung gibt keinen Aufschluß auf die Reaktion der Normalen. Wann wird einer ein Individuum, wann ein Schurke, wann einfach nur geisteskrank genannt?

Highwater umgeht diese Frage, indem er zwischen Normen überhaupt und moralischen Normen gar keinen Unterschied macht. Wer immer außergewöhnlich ist, fällt seiner Ansicht nach für die Gesellschaft auf die Seite der Bösen, Sündigen, Gefährlichen. Man wird den Verdacht nicht los, daß dem so ist, weil er für sich selbst als Außergewöhnlichem den Platz des Guten reservieren will, was wiederum sehr gewöhnlich wäre. Wer so spricht, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, sich selbst mit primitiveren Unterscheidungen zufriedenzugeben, als die Gesellschaft es tut, die der Nivellierung geziehen wird.

Diesem Vorwurf entgeht Highwater auch deshalb nicht, weil er nicht zwischen der moralischen und rechtlichen Sanktion bestimmter, etwa sexueller, Handlungen und dem Ausschluß von Personen unterscheiden kann. Man macht sich gewiß nicht der Parteinahme für die "westliche Welt" schuldig, wenn man darauf hinweist, daß auch in ihr nicht immer gleich der ganze Mensch marginalisiert und unterdrückt wird, sondern oft nur einzelne seiner Äußerungsformen. Es sei denn, Highwater wollte behaupten, die Sexualität, das sei der ganze Mensch.

Aber Highwater will gar nicht im einzelnen unterscheiden. Ihm genügt die Unterscheidung zwischen denen, die so sind wie er, und allen anderen. Von den von ihm so bezeichneten normalen Menschen spricht er als Sklaven gesellschaftlich definierter Erwartungen. "Wissenschaften, Religionen und Regierungen" seien ein Bündnis eingegangen, "um ungewöhnliche Menschen auszuschließen", und vermutlich auch, um jene Sklaven unter Kontrolle zu halten, indem sie gemeinsam die Normalitätsgrenzen der Gesellschaft abschreiten. Highwater schreibt, als würde er die Welt nur vom Hörensagen oder aus dem Albtraum eines Foucault-Lesers kennen, als habe er auch noch nie einen Roman in der Hand gehabt, der ihn darüber aufgeklärt hätte, wie wenig Normales es überhaupt gibt. Und gar keine Sklaven. Er behandelt die Phrase vom normkonformen Verhalten als soziologischen Befund; so, als gebe es in der gegenwärtigen Gesellschaft auch nur die Möglichkeit, allen ihren einander widerstreitenden Normen zu genügen. Mache Karriere, erziehe deine Kinder, sei ehrlich, sei gesellig, hör uns zu, sei ein Individuum - wer wollte das alles zugleich erfüllen?

Highwater läßt sich durch seine bloße Umkehr aller Stereotypen, die er angreift, den viel stärker irritierenden Befund entgehen, daß die moderne Gesellschaft den Konformismus und den Nonkonformismus zugleich steigert. In vielerlei Hinsicht sind ihre Verhaltensanforderungen deutlich rigider als die früherer Epochen, in vielen ist sie aber auch erheblich durchlässiger. Unter den interessanten Fragen, die das Buch zugunsten von Verschwörungsszenarien links liegen läßt, ist nicht zuletzt die, welcher Logik diese simultane Erhöhung von Freiheit und Zwang gehorcht.

JÜRGEN KAUBE.

Jamake Highwater: "Freaks". Die Mythologie der Übertretung. Aus dem Amerikanischen von Kathrin Menke. Berlin Verlag, Berlin 1998. 256 S., geb., 39,80 DM.

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