Sommer 1967. Die Welt ist in Aufruhr. Die Jugend geht auf die Straße. Doch die Fischers neigen nicht dazu, aus der Reihe zu tanzen. Ihre kleine Welt in einem Londoner Vorort ist grundsolide: Die hübsche Phyllis kümmert sich rührend um den Haushalt und um die beiden Kinder, den neunjährigen Hugh, ihren Goldjungen, und die fünfzehnjährige Colette, während Gatte Roger im Außenministerium Karriere macht. Doch als der kaum zwanzigjährige Nicholas Knight in einer schwülen Sommernacht heftig mit Phyllis flirtet und sie schließlich leidenschaftlich küsst, gerät alles durcheinander. Phyllis nimmt die Welt mit neuen Augen wahr und trifft eine Entscheidung, die allen Erwartungen an eine brave Ehefrau und Mutter zuwiderläuft.Scharfsinnig und mit großer Empathie erforscht Tessa Hadley das Innenleben ihrer Figuren, ihre Ängste und Sehnsüchte. Freie Liebe erzählt auf unwiderstehlich sinnliche, einfühlsame und kluge Weise von einer Frau, die sich aus dem Korsett eines bürgerlichen Lebens zu befreien versucht, von den Möglichkeiten und Grenzen romantischer Liebe, von Pflichten und Auf- brüchen - und den Folgen, die das Streben nach Selbstverwirklichung haben kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Vor allem die "ausgereifte Figurenprosa" schätzt Rezensentin Emilia Kröger im neuen Roman der britischen Schriftstellerin Tessa Hadley. Die Handlung ist im London der sechziger Jahre angesiedelt und dreht sich um die Fischers, eine klassische, gutbürgerliche Kleinfamilie, so die Kritikerin. Eigentlich fühlt sich Mutter Phyllis ganz wohl in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, oder denkt es zumindest, bis ihre Welt durch den Linksintellektuellen Nicholas durcheinandergewirbelt wird. Die geistige und sexuelle Entwicklung, die sie in der Folge durchmacht, spiegeln die gesellschaftlichen Umbrüche der Epoche wider, merkt die Rezensentin an. Große Knalleffekte gibt es in Hadleys detailliertem Realismus nicht, teilweise wird die Geduld der Kritikerin vom langsamen Erzähltempo ein bisschen auf die Probe gestellt. Dafür wird sie aber mit "lebhaften und facettenreichen" Figuren belohnt, die zur Identifikation einladen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2023Die Vorstadt gerät aus den Fugen
Moderne Welt,
geschildert im alten Stil:
Tessa Hadley siedelt ihren Roman "Freie
Liebe" im London der Sechzigerjahre an.
Ein realistischer Erzählstil, bei dem Beschreibungen von Räumen, Landschaften oder auch Gedanken ebenso viel Erzählzeit gewidmet wird wie der Handlung, ist in der Gegenwartsliteratur eine seltene Erscheinung. Und doch gibt es einige Autoren, die beweisen, dass eine solche Erzählweise noch immer wirkungsvoll sein kann, wenn sie denn gut gemacht ist. Dazu zählt die britische Autorin Tessa Hadley, deren neuester Roman "Free Love" nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Freie Liebe" erschienen ist. Hadley hat eine etwas unübliche literarische Karriere hingelegt, veröffentlichte in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts ihren Romanerstling, als sie bereits Mitte vierzig war. Doch sie hatte Erfolg: 2009 wurde sie Fellow der Royal Society of Literature. Im deutschen Sprachraum erscheinen ihre Werke seit 2017 in Übersetzung und gewinnen langsam an Bekanntheit.
Thematisch ist Hadley sich treu geblieben, schon in ihren früheren Roman geht es um das Familienleben und die Liebe, allerdings nicht nur aus einer romantisch-verkitschten, sondern auch aus einer nüchternen beobachtenden Perspektive. In dem 2020 auf Deutsch veröffentlichten Titel "Zwei und zwei" lotet Hadley die Beziehungen von zwei lange miteinander befreundeten Paaren aus, die im mittleren Alter durcheinander- gewirbelt werden, als einer der Männer überraschend stirbt. 2021 erschien "Hin und zurück" in Übersetzung, auch darin sind die Protagonisten "Best Ager", deren festgefügte Familienbünde noch mal ins Wanken geraten.
Im Zentrum des aktuellen Romans stehen die Fischers, eingeführt als klassische Kleinfamilie der späten Sechzigerjahre aus einem Vorort Londons. Der Ehemann Roger arbeitet in hoher Position beim Außenministerium, seine Frau Phyllis sorgt sich um den Haushalt, die beiden Kinder und organisiert das Familienleben, indem sie Kontakt zur Verwandtschaft hält und zu Dinners einlädt. In diesen durchaus drögen familiären Verpflichtungen bewegt sich anfänglich auch Phyllis' Denken: "Neuerdings amüsierte sie bisweilen der Gedanke, dass sie nunmehr auf dem Weg war, eine alte Frau zu werden. Sie malte sich aus, wie sie heiteren Gemüts ins mittlere Alter überging, das erfüllt wäre vom Haushalt und ihren Hobbys - und damit ausgefüllt."
Die Familienkonstellation in ihrer scheinbaren Unerschütterlichkeit wird allerdings direkt zu Beginn des Romans ins Schwanken gebracht. Nicholas, der Sohn eines befreundeten Ehepaars, ist zu einem Essen bei den Fischers eingeladen. Obwohl die Unterschiede zwischen dem jungen antikapitalistischen Intellektuellen und den fest in die bürgerliche Gesellschaft integrierten Fischers deutlicher nicht sein könnten, entwickelt sich eine Anziehung zwischen Nicky und Phyllis. In einem unbeobachteten Moment küssen sie sich. Und plötzlich: "Unter der stillen Vorstadtoberfläche war etwas aus den Fugen geraten." Denn die Konsequenzen der Liebschaft sind folgenschwerer als erwartet: Sie verändern Phyllis' Art, die Welt wahrzunehmen, und rufen in ihr den Wunsch wach, ihr Leben fortan auf völlig andere Weise zu führen.
Dabei passt Phyllis' Lebenswandel gewissermaßen zu den äußeren Umständen der Epoche, in der die Geschichte situiert ist. Gesellschaftliche Umbrüche bestimmen ganz verschiedene Bereiche, von denen einige auch im Roman anklingen: Die Friedensbewegung und deren Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, Veränderungen in Kunst und Mode wie beispielsweise der Minirock, der konservative Empörung hervorrief, oder - und das bestimmt die Romanhandlung hauptsächlich - die sexuelle Revolution, die unter dem Slogan der "freien Liebe" für Liberalisierungen in puncto Sexualität und romantische Beziehungen eintrat. In diesem Sinne stellt der Roman auch ein gesellschaftliches Panorama dar, in dem gelegentlich von den individuellen Schicksalen auf eine höhere Ebene verwiesen wird.
Doch als rein zeitgeschichtlicher Roman über das London der Sechziger kann sich der Roman leider nicht lesen lassen, dafür liegt der Fokus zu sehr auf den einzelnen Figuren, ihren Wünschen und Gedanken. Hierbei verlangt die Darstellung den Lesern teilweise schon einiges an Geduld ab, wenn selbst die erschütterndsten Ereignisse in behäbigem Erzählton und gelassenem Tempo geschildert werden. Wer einen großen Knall oder eine dramatische Zuspitzung erwartet, geht leer aus; wer sich allerdings auf Hadleys realistische Erzählweise einlassen kann, wird mit ausgereifter Figurenprosa belohnt. Der Autorin gelingt es, ihr Personal lebhaft und facettenreich auszugestalten, denn die Perspektivierung beschränkt sich niemals auf eine Figur, sondern lässt gedanklich fast alle zu Wort kommen und ihre Beweggründe ausführen, sodass es zum Ende hin unmöglich ist, Figuren für ihr Fehlverhalten zu verurteilen. Stellenweise wird dieser schöne multiperspektivische Effekt geschmälert durch einige Landschaftsbeschreibungen, die im Heraufbeschwören der inneren Atmosphäre der Figuren kitschig anmuten - "das satte Licht kam ihr irgendwie kompakt und rätselhaft wie Bernstein vor". Und doch fügen sich selbst diese Passagen in den Text ein, passen sie doch zu dem Realismus-Effekt, den Tessa Hadley in "Freie Liebe" wirksam macht. EMILIA KRÖGER
Tessa Hadley:
"Freie Liebe". Roman.
Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kampa Verlag, Zürich 2022. 384 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Moderne Welt,
geschildert im alten Stil:
Tessa Hadley siedelt ihren Roman "Freie
Liebe" im London der Sechzigerjahre an.
Ein realistischer Erzählstil, bei dem Beschreibungen von Räumen, Landschaften oder auch Gedanken ebenso viel Erzählzeit gewidmet wird wie der Handlung, ist in der Gegenwartsliteratur eine seltene Erscheinung. Und doch gibt es einige Autoren, die beweisen, dass eine solche Erzählweise noch immer wirkungsvoll sein kann, wenn sie denn gut gemacht ist. Dazu zählt die britische Autorin Tessa Hadley, deren neuester Roman "Free Love" nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Freie Liebe" erschienen ist. Hadley hat eine etwas unübliche literarische Karriere hingelegt, veröffentlichte in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts ihren Romanerstling, als sie bereits Mitte vierzig war. Doch sie hatte Erfolg: 2009 wurde sie Fellow der Royal Society of Literature. Im deutschen Sprachraum erscheinen ihre Werke seit 2017 in Übersetzung und gewinnen langsam an Bekanntheit.
Thematisch ist Hadley sich treu geblieben, schon in ihren früheren Roman geht es um das Familienleben und die Liebe, allerdings nicht nur aus einer romantisch-verkitschten, sondern auch aus einer nüchternen beobachtenden Perspektive. In dem 2020 auf Deutsch veröffentlichten Titel "Zwei und zwei" lotet Hadley die Beziehungen von zwei lange miteinander befreundeten Paaren aus, die im mittleren Alter durcheinander- gewirbelt werden, als einer der Männer überraschend stirbt. 2021 erschien "Hin und zurück" in Übersetzung, auch darin sind die Protagonisten "Best Ager", deren festgefügte Familienbünde noch mal ins Wanken geraten.
Im Zentrum des aktuellen Romans stehen die Fischers, eingeführt als klassische Kleinfamilie der späten Sechzigerjahre aus einem Vorort Londons. Der Ehemann Roger arbeitet in hoher Position beim Außenministerium, seine Frau Phyllis sorgt sich um den Haushalt, die beiden Kinder und organisiert das Familienleben, indem sie Kontakt zur Verwandtschaft hält und zu Dinners einlädt. In diesen durchaus drögen familiären Verpflichtungen bewegt sich anfänglich auch Phyllis' Denken: "Neuerdings amüsierte sie bisweilen der Gedanke, dass sie nunmehr auf dem Weg war, eine alte Frau zu werden. Sie malte sich aus, wie sie heiteren Gemüts ins mittlere Alter überging, das erfüllt wäre vom Haushalt und ihren Hobbys - und damit ausgefüllt."
Die Familienkonstellation in ihrer scheinbaren Unerschütterlichkeit wird allerdings direkt zu Beginn des Romans ins Schwanken gebracht. Nicholas, der Sohn eines befreundeten Ehepaars, ist zu einem Essen bei den Fischers eingeladen. Obwohl die Unterschiede zwischen dem jungen antikapitalistischen Intellektuellen und den fest in die bürgerliche Gesellschaft integrierten Fischers deutlicher nicht sein könnten, entwickelt sich eine Anziehung zwischen Nicky und Phyllis. In einem unbeobachteten Moment küssen sie sich. Und plötzlich: "Unter der stillen Vorstadtoberfläche war etwas aus den Fugen geraten." Denn die Konsequenzen der Liebschaft sind folgenschwerer als erwartet: Sie verändern Phyllis' Art, die Welt wahrzunehmen, und rufen in ihr den Wunsch wach, ihr Leben fortan auf völlig andere Weise zu führen.
Dabei passt Phyllis' Lebenswandel gewissermaßen zu den äußeren Umständen der Epoche, in der die Geschichte situiert ist. Gesellschaftliche Umbrüche bestimmen ganz verschiedene Bereiche, von denen einige auch im Roman anklingen: Die Friedensbewegung und deren Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, Veränderungen in Kunst und Mode wie beispielsweise der Minirock, der konservative Empörung hervorrief, oder - und das bestimmt die Romanhandlung hauptsächlich - die sexuelle Revolution, die unter dem Slogan der "freien Liebe" für Liberalisierungen in puncto Sexualität und romantische Beziehungen eintrat. In diesem Sinne stellt der Roman auch ein gesellschaftliches Panorama dar, in dem gelegentlich von den individuellen Schicksalen auf eine höhere Ebene verwiesen wird.
Doch als rein zeitgeschichtlicher Roman über das London der Sechziger kann sich der Roman leider nicht lesen lassen, dafür liegt der Fokus zu sehr auf den einzelnen Figuren, ihren Wünschen und Gedanken. Hierbei verlangt die Darstellung den Lesern teilweise schon einiges an Geduld ab, wenn selbst die erschütterndsten Ereignisse in behäbigem Erzählton und gelassenem Tempo geschildert werden. Wer einen großen Knall oder eine dramatische Zuspitzung erwartet, geht leer aus; wer sich allerdings auf Hadleys realistische Erzählweise einlassen kann, wird mit ausgereifter Figurenprosa belohnt. Der Autorin gelingt es, ihr Personal lebhaft und facettenreich auszugestalten, denn die Perspektivierung beschränkt sich niemals auf eine Figur, sondern lässt gedanklich fast alle zu Wort kommen und ihre Beweggründe ausführen, sodass es zum Ende hin unmöglich ist, Figuren für ihr Fehlverhalten zu verurteilen. Stellenweise wird dieser schöne multiperspektivische Effekt geschmälert durch einige Landschaftsbeschreibungen, die im Heraufbeschwören der inneren Atmosphäre der Figuren kitschig anmuten - "das satte Licht kam ihr irgendwie kompakt und rätselhaft wie Bernstein vor". Und doch fügen sich selbst diese Passagen in den Text ein, passen sie doch zu dem Realismus-Effekt, den Tessa Hadley in "Freie Liebe" wirksam macht. EMILIA KRÖGER
Tessa Hadley:
"Freie Liebe". Roman.
Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kampa Verlag, Zürich 2022. 384 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein ganz erstaunlich großartiger Liebes- und Lebensroman!« Elke Heidenreich / WDR »Ein betörend schöner Roman, ein easy read, könnte man sagen, sollte sich aber nicht täuschen lassen, denn untergründig wimmelt es hier von verstörenden, uralten Fragen danach, was Freiheit ist und was Schicksal.« Hilary Mantel »Großartig gebaut und rasant erzählt. Freie Liebe zeigt Tessa Hadleys außerordentliche Fähigkeit, alles ans Licht zu holen, jede noch so verborgene Empfindung.« Colm Tóibín »Es gibt nur wenige Schriftsteller*innen, die zuverlässig solche Freude machen.« Zadie Smith »Tessa Hadley gelingt es, Gefühle so lebendig, so umfassend darzustellen, dass sie das eigene Innenleben erweitern, steigern.« Lily King »Tessa Hadleys Einfühlungsvermögen ist nahezu einmalig. Sie zählt zu den besten Autor*innen unserer Zeit.« Chimamanda Ngozi Adichie »Ich habe diesen Roman absolut GELIEBT!!!!!« Marian Keyes