Der Westen richtet sich neu aus: Europa und die USA beobachten sich mit Misstrauen, Großbritannien sucht nach seiner Sonderrolle, und noch ist überhaupt nicht absehbar, wie die Europäische Union nach der Osterweiterung funktionieren wird. Trotzdem beansprucht dieser Westen, weltweit an der Lösung politischer Konflikte mitzuwirken. Es ist seine moralische Pflicht, die Interessen der Menschen wahrzunehmen, die in Unfreiheit leben. Ein leidenschaftliches Plädoyer, die Krise als Chance zu nutzen - für eine wirklich freie Welt.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Timothy Garton Ash versteht es "hervorragend zu schreiben und zu argumentieren", lobt Heinrich August Winkler in seiner eingehenden Besprechung dieses Buchs über die Krise im Verhältnis zwischen Europa und Amerika und den daraus erwachsenden Chancen. Der Autor konstatiert, dass der jüngste Irakkrieg eine "tiefe" Spaltung zwischen Amerika und Europa verursacht, gleichzeitig aber auch innerhalb Europas zu Differenzen geführt hat, fasst der Rezensent zusammen. Insbesondere die "extreme Sprunghaftigkeit" in der Haltung Deutschlands gegenüber Amerika findet Garton Ash "beunruhigend", erklärt Winkler, aber auch Amerika muss sich Kritik gefallen lassen, indem er die Umweltpolitik und die Umgehensweise mit den Entwicklungsländern in seinem Buch scharf angreift, so der Rezensent weiter. Hat ihn die Analyse der Krise durch den Autor noch überzeugt, bemängelt er den zweiten Teil des Buches, der sich mit den Chancen dieser Krise für den Westen befasst, als weit "schwächer". Hier scheint ihm der Begriff "Westen", wie Garton Ash ihn verwendet, "eigentümlich konturlos", und er vermerkt eine "Abneigung des Autors, den Westen historisch und geografisch genauer einzugrenzen", was Winkler zwar "politisch" nachvollziehbar, "intellektuell" aber nicht überzeugend findet. Insgesamt ist der Band dennoch eine "brillante Leistung", weil er insbesondere das Verhältnis zwischen Europa und Amerika seit dem 11. September verständlich macht, lobt der Rezensent. Er ist davon überzeugt, dass Garton Ash damit einer weiteren "Entfremdung" zwischen Amerika und Europa "entgegenwirken" kann und bekräftigt, dass das Buch "zur rechten Zeit" erscheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2004Die größte Brücke der Welt
Wie Timothy Garton Ash Armut und Unfreiheit tilgen möchte
Timothy Garton Ash, Historiker in Oxford und Fellow der Hoover Institution in den USA, hat sich als politischer Kommentator international einen Namen gemacht. Das ist ihm bewusst, weshalb er es nun für geboten hält, dem Publikum Vorschläge für eine Verbesserung der Welt vorzutragen. Sein Ziel ist „die globale Ausbreitung von Freiheit und Demokratie”. In der Einleitung sagt er: „Wenn wir frei sind, können wir gemeinsam mit anderen freien Menschen auf eine freie Welt hinarbeiten.”
Die Chancen stehen gut, wie die Rechnung ergibt, die Garton Ash aufmacht: Der politisch-gesellschaftliche Einfluss eines „Bettlers in Kalkutta” tendiere zwar „in der Praxis (. . .) gegen Null”, doch viele andere Individuen könnten sich einbringen, um „mehr als zwei Milliarden Menschen aus ihrem Zustand der Armut und Unfreiheit” herauszuholen. Er zählt auf, wer alles zu dieser Allianz der Willigen gehören könne: die Bevölkerung der westlichen Welt, die „Bürger anderer freier Industrienationen” wie Japan und Australien, die „kleinere Gruppe der Wohlhabenden (. . .) , die in partiell freien respektive unfreien Staaten leben”, und die politischen Gefangenen, die „ungebrochen, geistig frei” seien. Sie zusammen machen nach Garton Ashs Berechnung „alles in allem etwa eine Milliarde Bürger” aus.
Was müssen die konkret tun? Zunächst klar denken: „Je klarer wir denken, desto eher lassen sich Dinge zum Besseren wenden.” Außerdem sollten wir uns vor Generalisierungen hüten: „Die” Amerikaner gebe es schließlich ebensowenig wie „die” Europäer. Damit das globale Freiheits- und Armutsproblem mit voller Kraft angepackt werden kann, müssten Europa, Großbritannien und die Vereinigten Staaten ein Verhältnis zueinander finden: Die Briten hätten zu erkennen, dass sie nicht nur auf Amerika bauen dürfen („Churchillismus”). Europa dürfe sich nicht auf Dauer gegen die USA stellen („Euro-Gaullismus”). Allerdings dürfe es sich auch nicht ganz den USA verschreiben („Euro-Atlantizismus”). Viel wäre geholfen, wenn Deutschland „die Rolle des ehrlichen Vermittlers zwischen Franzosen und Briten” übernähme. Letzteres hält Garton Ash für möglich: Außenminister Fischer habe bei einem Treffen im Jahr 2003 „kluge und reife Bemerkungen zur Überbrückung der Spaltungen im Westen” gemacht. Nebenbei ruft der Autor dazu auf, den im Westen lebenden Muslimen das Gefühl zu geben, „angenommen” zu sein.
Einzelnen Adressaten gibt Garton Ash folgende Empfehlungen: Die Briten sollten ihre Kinder mehr Fremdsprachen lernen lassen, die Berichterstattung in den britischen Zeitungen müsse besser werden, im Rahmen der Armutsbekämpfung brauche Großbritannien „eine nationale Strategie dafür, uns an allen Fronten beherzt in der Welt zu engagieren”. Kontinentaleuropa für sein Teil müsse erkennen, dass „die Grundwerte, Ziele und langfristigen Interessen der Vereinigten Staaten auch seine eigenen sind”. Im Gegenzug müssten die USA „sich wünschen”, dass Europa „korrigierend und ausgleichend auf seine elitäre Hypermacht einwirkt”. Die USA, die derzeit noch zwischen „Unilateralismus” und „Multilateralismus” schwankten, „sollten sich ein Herz fassen und sagen: ,Wir treten aufrichtig und rückhaltlos für die Einigung Europas ein.” Fazit: „Was wir brauchen, ist eine Brücke zwischen ganz Europa und Amerika, und es muss die größte der Welt sein: sechstausend Kilometer lang und noch einmal so viele Spuren breit.”
Auch im Namen der Frauen
Garton Ash schreibt, dass er den „hohen moralischen Anspruch der amerikanischen Zielsetzungen” und den „Idealismus” der US-Außenpolitik bewundere. Er meint damit die Erklärungen der
Regierung Bush, der Irak-Krieg werde für Freiheit und Demokratie und auch im Namen der Frauen geführt. Europa müsse endlich einsehen, fährt der Autor fort, „dass die amerikanische Außenpolitik von Werten und Interessen gleichermaßen bestimmt wird”. Dass der Verfolg der Interessen der amerikanischen Regierung im Irak-Krieg die Werte untergräbt, die dabei ins Feld geführt wurden, hält Garton Ash nicht für erwähnenswert. Den USA gibt er indes den Tipp, ihren nächsten Krieg nicht gegen
einen Staat oder Diktator, sondern „gegen die entsetzliche Armut” in der Welt zu führen.
Drei Ratschläge erteilt der Historiker, wie die Armut bekämpft werden soll: Erhöhung der Entwicklungshilfe, Vermehrung privater Spenden und Abbau der Handelsbeschränkungen für die ärmsten Staaten. Letzteres beißt sich zwar ein wenig mit seiner zuvor gemachten Empfehlung für die Errichtung einer transatlantischen Freihandelszone zugunsten Europas und der USA. Aber dem nachzugehen, lohnt sich nicht. Zwei andere Fragen sind nämlich vordringlich: Warum verbreitet dieser ehedem scharfsinnig argumentierende Autor jetzt süßliche politische Sonntagsreden? Und warum hat er einen Abriss der politischen Entwicklung im Westen gegeben, der jedem halbwegs aufmerksamen Zeitungsleser bekannt sein wird? Könnte es, so fragt sich die ermüdete Rezensentin, daran liegen, dass Timothy Garton Ash - auf Veranstaltungen der (von ihm eigens erwähnten) Atlantikbrücke offenbar ebenso gern gesehen wie bei den (von ihm gleichfalls erwähnten) exklusiven Gesprächsrunden in Ditchley Park - sich endlich im staatsmännischen Insider-Smalltalk ganz zu Hause fühlt und eine grundsätzliche Wesenseinheit unterstellt zwischen dem, was er sagt, und dem, was bedeutsam ist?
So vage und unrealistisch des Autors Vorschläge für die Verbreitung von Freiheit und Wohlstand in der Welt sind, so banal sind sie auch: Polit-Esoterik und Großwetterlagengeplauder, das niemandem weh tut. Die miserable deutsche Übersetzung des Buches streicht seine unfreiwillig parodistischen Züge heraus. Wie die Welt befreit werden soll, und wer die „zwei Milliarden Menschen” sind, sagt Garton Ash nicht so genau, doch beruhigt er alle: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und viele steile Berge zu erklimmen, aber heute ist es keine operettenhafte Utopie mehr, das Ziel einer freien Welt in den Blick zu nehmen.”
FRANZISKA AUGSTEIN
TIMOTHY GARTON ASH: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise. Carl Hanser Verlag, München 2004. 317 Seiten, 23,50 Euro.
Den „hohen moralischen Anspruch der amerikanischen Zielsetzungen” und den „Idealismus” der US-Außenpolitik bewundert Garton Ash.
Foto: Ferdi Hartung
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wie Timothy Garton Ash Armut und Unfreiheit tilgen möchte
Timothy Garton Ash, Historiker in Oxford und Fellow der Hoover Institution in den USA, hat sich als politischer Kommentator international einen Namen gemacht. Das ist ihm bewusst, weshalb er es nun für geboten hält, dem Publikum Vorschläge für eine Verbesserung der Welt vorzutragen. Sein Ziel ist „die globale Ausbreitung von Freiheit und Demokratie”. In der Einleitung sagt er: „Wenn wir frei sind, können wir gemeinsam mit anderen freien Menschen auf eine freie Welt hinarbeiten.”
Die Chancen stehen gut, wie die Rechnung ergibt, die Garton Ash aufmacht: Der politisch-gesellschaftliche Einfluss eines „Bettlers in Kalkutta” tendiere zwar „in der Praxis (. . .) gegen Null”, doch viele andere Individuen könnten sich einbringen, um „mehr als zwei Milliarden Menschen aus ihrem Zustand der Armut und Unfreiheit” herauszuholen. Er zählt auf, wer alles zu dieser Allianz der Willigen gehören könne: die Bevölkerung der westlichen Welt, die „Bürger anderer freier Industrienationen” wie Japan und Australien, die „kleinere Gruppe der Wohlhabenden (. . .) , die in partiell freien respektive unfreien Staaten leben”, und die politischen Gefangenen, die „ungebrochen, geistig frei” seien. Sie zusammen machen nach Garton Ashs Berechnung „alles in allem etwa eine Milliarde Bürger” aus.
Was müssen die konkret tun? Zunächst klar denken: „Je klarer wir denken, desto eher lassen sich Dinge zum Besseren wenden.” Außerdem sollten wir uns vor Generalisierungen hüten: „Die” Amerikaner gebe es schließlich ebensowenig wie „die” Europäer. Damit das globale Freiheits- und Armutsproblem mit voller Kraft angepackt werden kann, müssten Europa, Großbritannien und die Vereinigten Staaten ein Verhältnis zueinander finden: Die Briten hätten zu erkennen, dass sie nicht nur auf Amerika bauen dürfen („Churchillismus”). Europa dürfe sich nicht auf Dauer gegen die USA stellen („Euro-Gaullismus”). Allerdings dürfe es sich auch nicht ganz den USA verschreiben („Euro-Atlantizismus”). Viel wäre geholfen, wenn Deutschland „die Rolle des ehrlichen Vermittlers zwischen Franzosen und Briten” übernähme. Letzteres hält Garton Ash für möglich: Außenminister Fischer habe bei einem Treffen im Jahr 2003 „kluge und reife Bemerkungen zur Überbrückung der Spaltungen im Westen” gemacht. Nebenbei ruft der Autor dazu auf, den im Westen lebenden Muslimen das Gefühl zu geben, „angenommen” zu sein.
Einzelnen Adressaten gibt Garton Ash folgende Empfehlungen: Die Briten sollten ihre Kinder mehr Fremdsprachen lernen lassen, die Berichterstattung in den britischen Zeitungen müsse besser werden, im Rahmen der Armutsbekämpfung brauche Großbritannien „eine nationale Strategie dafür, uns an allen Fronten beherzt in der Welt zu engagieren”. Kontinentaleuropa für sein Teil müsse erkennen, dass „die Grundwerte, Ziele und langfristigen Interessen der Vereinigten Staaten auch seine eigenen sind”. Im Gegenzug müssten die USA „sich wünschen”, dass Europa „korrigierend und ausgleichend auf seine elitäre Hypermacht einwirkt”. Die USA, die derzeit noch zwischen „Unilateralismus” und „Multilateralismus” schwankten, „sollten sich ein Herz fassen und sagen: ,Wir treten aufrichtig und rückhaltlos für die Einigung Europas ein.” Fazit: „Was wir brauchen, ist eine Brücke zwischen ganz Europa und Amerika, und es muss die größte der Welt sein: sechstausend Kilometer lang und noch einmal so viele Spuren breit.”
Auch im Namen der Frauen
Garton Ash schreibt, dass er den „hohen moralischen Anspruch der amerikanischen Zielsetzungen” und den „Idealismus” der US-Außenpolitik bewundere. Er meint damit die Erklärungen der
Regierung Bush, der Irak-Krieg werde für Freiheit und Demokratie und auch im Namen der Frauen geführt. Europa müsse endlich einsehen, fährt der Autor fort, „dass die amerikanische Außenpolitik von Werten und Interessen gleichermaßen bestimmt wird”. Dass der Verfolg der Interessen der amerikanischen Regierung im Irak-Krieg die Werte untergräbt, die dabei ins Feld geführt wurden, hält Garton Ash nicht für erwähnenswert. Den USA gibt er indes den Tipp, ihren nächsten Krieg nicht gegen
einen Staat oder Diktator, sondern „gegen die entsetzliche Armut” in der Welt zu führen.
Drei Ratschläge erteilt der Historiker, wie die Armut bekämpft werden soll: Erhöhung der Entwicklungshilfe, Vermehrung privater Spenden und Abbau der Handelsbeschränkungen für die ärmsten Staaten. Letzteres beißt sich zwar ein wenig mit seiner zuvor gemachten Empfehlung für die Errichtung einer transatlantischen Freihandelszone zugunsten Europas und der USA. Aber dem nachzugehen, lohnt sich nicht. Zwei andere Fragen sind nämlich vordringlich: Warum verbreitet dieser ehedem scharfsinnig argumentierende Autor jetzt süßliche politische Sonntagsreden? Und warum hat er einen Abriss der politischen Entwicklung im Westen gegeben, der jedem halbwegs aufmerksamen Zeitungsleser bekannt sein wird? Könnte es, so fragt sich die ermüdete Rezensentin, daran liegen, dass Timothy Garton Ash - auf Veranstaltungen der (von ihm eigens erwähnten) Atlantikbrücke offenbar ebenso gern gesehen wie bei den (von ihm gleichfalls erwähnten) exklusiven Gesprächsrunden in Ditchley Park - sich endlich im staatsmännischen Insider-Smalltalk ganz zu Hause fühlt und eine grundsätzliche Wesenseinheit unterstellt zwischen dem, was er sagt, und dem, was bedeutsam ist?
So vage und unrealistisch des Autors Vorschläge für die Verbreitung von Freiheit und Wohlstand in der Welt sind, so banal sind sie auch: Polit-Esoterik und Großwetterlagengeplauder, das niemandem weh tut. Die miserable deutsche Übersetzung des Buches streicht seine unfreiwillig parodistischen Züge heraus. Wie die Welt befreit werden soll, und wer die „zwei Milliarden Menschen” sind, sagt Garton Ash nicht so genau, doch beruhigt er alle: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und viele steile Berge zu erklimmen, aber heute ist es keine operettenhafte Utopie mehr, das Ziel einer freien Welt in den Blick zu nehmen.”
FRANZISKA AUGSTEIN
TIMOTHY GARTON ASH: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise. Carl Hanser Verlag, München 2004. 317 Seiten, 23,50 Euro.
Den „hohen moralischen Anspruch der amerikanischen Zielsetzungen” und den „Idealismus” der US-Außenpolitik bewundert Garton Ash.
Foto: Ferdi Hartung
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
"Flammendes Plädoyer (...) klug und kenntnisreich (...)" Olaf Ihlau, Der Spiegel, 4.10.2004 "(...) ein intellektuelles Vergnügen (...) "Freie Welt" ist, ähnlich wei seine inzwischen klassischen Werke zur deutschen Ostpolitik der siebziger und achtziger Jahre und zur Epochenwende von 1989 eine brillante Leistung." Heinrich August Winkler, Die Zeit, 07.10.2004 "Der Autor rekonstruiert die Risse im transatlantischen Bündnis mit seltener Feinheit und Tiefenchärfe." Ernst Köhler, Südkurier, 12.10.2004 "Es lohnt sich, dieses Buch aufmerksam zu lesen. Es enthält eine Vielzahl brisanter Fakten und mutiger Vorschläge, die aufzugreifen und umzusetzen unumgänglich sind, wenn der bittere Weg in die sich anbahnende globale Ausweglosigkeit noch verhindert werden soll." Thilo Castner, Das Parlament, 04.10. 2004
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2023Am Küchentisch mit dem zukünftigen Präsidenten
Mit Sinn für produktive Widersprüche: Timothy Garton Ash erzählt entlang persönlicher Begegnungen von europäischen Entwicklungen
In keinem Land wird die Zeitgeschichte Europas so intensiv reflektiert und publikumswirksam erzählt wie in England. Die Werke der britischen Historiker Tony Judt, Ian Kershaw und Paul Betts sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Auch nach dem Brexit ist dieser Erzählfluss nicht abgebrochen, ganz im Gegenteil: Timothy Garton Ash, Geschichtsprofessor am St Anthony's College in Oxford, hat jetzt ein besonderes Buch geschrieben: über Europa als persönliche Geschichte.
Es handelt sich nicht um eine herkömmliche Autobiographie, sondern um ein eigenwilliges Genre. Ash macht die Geschichte Europas, die er von der Zeit der totalitären Diktaturen bis in die Gegenwart erzählt, durch seine persönlichen Erinnerungen plastisch. So verbinden sich seine individuellen Erfahrungen - seine Begegnungen mit historischen Akteuren und seine Augenzeugenbeobachtungen von Ereignissen wie der Samtenen Revolution - mit der Deutung des Geschichtsverlaufs.
Ashs Erzählung ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam und zuweilen witzig, sie stimmt aber auch nachdenklich und enthält eindringliche Warnungen. Sie handelt von der Geschichte der europäischen Institutionen, des politischen Denkens und der großen Wendepunkte der europäischen Geschichte wie dem Jahr 1989, deren Bedeutungen Ash in persönlichen Begegnungen und im scharf beobachteten Wandel von Stimmungen abliest. Darin liegt der große Vorzug seiner Methode: Im Kleinen macht er das Große sichtbar.
Ash schöpft aus einem einzigartigen Fundus von Begegnungen, die in das Buch eingeflossen sind. Er hat amerikanische Präsidenten beraten, europäische Regierungschefs getroffen und Freundschaften mit polnischen, tschechischen und ungarischen Dissidenten gepflegt, die von den sozialistischen Regimen im Ostblock verfolgt wurden. Eines der schönsten Kapitel des Buchs erzählt von der Begegnung mit dem tschechischen Schriftsteller und späteren Staatspräsidenten Václav Havel, den Ash in der bleiernen Zeit der Achtzigerjahre einmal unangemeldet in einem Bauernhaus in Nordböhmen besuchte.
Irgendwie gelang es Ash, die Wachposten der Polizei zu umgehen. Unbemerkt von den Staatsorganen entfaltete sich am Küchentisch ein politisches und philosophisches Gespräch mit Havel: über die Anspannung des Schreibens, wenn jeden Moment das Typoskript von der Polizei beschlagnahmt werden konnte, und über die moralische Zweideutigkeit der westlichen Entspannungspolitik, die mehr auf gute Beziehungen zu den Regierungen setzte, als sie den verfolgten Dissidenten und den Menschenrechten Beachtung schenkte. Die Szene aus dem Kalten Krieg ist von einer bedrückenden Aktualität.
Ashs Geschichte beginnt mit dem völligen Ruin Europas im Zweiten Weltkrieg. Um auch diese Zeit in ihrer Erfahrungsdimension einzufangen, bedient sich Ash eines Kunstgriffs: Er spricht mit den Bewohnern zweier Dörfer - des in Niedersachsen gelegenen Orts "Westen", an dessen Befreiung sein Vater als britischer Armeeoffizier im April 1945 beteiligt gewesen war, und des westpolnischen Przysieczyn, das bis 1945 den deutschen Namen "Osten" trug - über ihre Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Vertreibung. Daraus entsteht auf wenigen Seiten eine Skizze der verflochtenen Geschichte des Weltkriegs und der lokalen Erinnerungen an ihn. Nicht nur an dieser Stelle lässt Ash Gespräche einfließen, die er mit "einfachen" Leuten geführt hat.
Für Europas Weg aus dem Ruin des Weltkriegs war die Erinnerung an die Gräueltaten eine Voraussetzung. Ash spricht vom "Erinnerungsmotor", der die europäische Geschichte nach 1945 angetrieben hat. Es sind Persönlichkeiten wie Bronislaw Geremek, eine der Schlüsselfiguren für Polens Freiheitskampf in den Achtzigerjahren, oder die französische Politikerin Simone Veil, die durch die Traumata von Krieg, Besatzung und Holocaust geprägt waren, welche die europäische Politik in einem Geist des "Nie wieder" vorangetrieben haben. Die "Generation von 1939" erweitert Ash um jüngere Politiker, deren politische Laufbahn erst später begann, für die aber der Krieg der Angelpunkt ihres europäischen Engagements blieb. Auf Helmut Kohl schaut Ash nicht unkritisch, aber seine politische Leistung strahlt bei ihm heller als in mancher deutschen Darstellung.
Ashs Buch trägt im Englischen den Titel "My Homelands". Tatsächlich ist der britische Historiker in vielen europäischen Ländern durch Sprachbeherrschung, lange Aufenthalte und Freundschaften heimisch geworden. Die europäische Geschichte, die er erzählt, nimmt unterschiedliche Sichtweisen ein, die sich aus der Beschäftigung mit seinen "Heimatländern" ergeben. Daraus entsteht ein vielschichtiger und kaleidoskopartiger Text. Wer Ashs Geschichte liest, lässt die eingefahrenen Lesarten einer deutschen, englischen oder polnischen Geschichte Europas hinter sich.
Ob Großbritannien, Polen oder Deutschland, Ashs europäische "Homelands" haben in der jüngsten Zeitgeschichte sehr unterschiedliche und problematische Wege eingeschlagen: Polens einstweilige Abkehr von der liberalen Demokratie, Deutschlands Moskau-Connection bis zur "Zeitenwende", der englische Brexit. An den Debatten, die diese europäischen Prozesse begleiteten, hat Ash als politischer Kommentator teilgenommen, im Falle des Brexits als engagierter Fürsprecher des "Remain". Als Historiker zeichnet er nun die Entwicklungen nach, die zu den Weichenstellungen geführt haben, und nimmt die Herausforderungen der Gegenwart in den Blick: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Chinas Aufstieg als globale autoritäre Macht, die Klimakrise.
Ash nimmt die Risiken der gegenwärtigen Entwicklung sehr genau wahr, lässt sich aber nicht von einem allgemeinen Krisendiskurs überwältigen. Vielmehr schreibt er Geschichte mit einem Sinn für die produktiven Widersprüche, die sich etwa in der Geschichte und Gegenwart Ostmitteleuropas beobachten lassen. Dass Polen, Vorreiter der Demokratisierung in den Achtzigerjahren, sich unter der Führung der PiS-Partei vom demokratischen Rechtsstaat abwandte, ist für ihn "zutiefst deprimierend".
Aber diese Krise der Demokratie hat für ihn auch eine andere Seite: In den Neunzigerjahren hatte Polen die Demokratie nur übernommen und von der EU vorgegebene Rechtsstaatskriterien erfüllt, jetzt, da die Polen für die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung kämpfen mussten, machten sie sich die Institutionen des Verfassungsstaats wirklich zu eigen. Zum ersten Mal seit langer Zeit, so Ash, konzentriert sich der polnische Patriotismus wieder auf die Verteidigung der Verfassung.
Ashs Buch endet mit einem Kapitel über die Aussagekraft der Geschichte für die Gegenwart - zwölf Seiten, die man jedem Politiker zur Lektüre empfehlen möchte. Ashs Europäische Geschichte erzählt Geschichten, zugleich ist sie ein starkes Plädoyer für die historische Urteilskraft. MARTIN SCHULZE WESSEL
Timothy Garton Ash:
"Europa". Eine persönliche Geschichte.
Carl Hanser Verlag, München 2023. 448 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Sinn für produktive Widersprüche: Timothy Garton Ash erzählt entlang persönlicher Begegnungen von europäischen Entwicklungen
In keinem Land wird die Zeitgeschichte Europas so intensiv reflektiert und publikumswirksam erzählt wie in England. Die Werke der britischen Historiker Tony Judt, Ian Kershaw und Paul Betts sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Auch nach dem Brexit ist dieser Erzählfluss nicht abgebrochen, ganz im Gegenteil: Timothy Garton Ash, Geschichtsprofessor am St Anthony's College in Oxford, hat jetzt ein besonderes Buch geschrieben: über Europa als persönliche Geschichte.
Es handelt sich nicht um eine herkömmliche Autobiographie, sondern um ein eigenwilliges Genre. Ash macht die Geschichte Europas, die er von der Zeit der totalitären Diktaturen bis in die Gegenwart erzählt, durch seine persönlichen Erinnerungen plastisch. So verbinden sich seine individuellen Erfahrungen - seine Begegnungen mit historischen Akteuren und seine Augenzeugenbeobachtungen von Ereignissen wie der Samtenen Revolution - mit der Deutung des Geschichtsverlaufs.
Ashs Erzählung ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam und zuweilen witzig, sie stimmt aber auch nachdenklich und enthält eindringliche Warnungen. Sie handelt von der Geschichte der europäischen Institutionen, des politischen Denkens und der großen Wendepunkte der europäischen Geschichte wie dem Jahr 1989, deren Bedeutungen Ash in persönlichen Begegnungen und im scharf beobachteten Wandel von Stimmungen abliest. Darin liegt der große Vorzug seiner Methode: Im Kleinen macht er das Große sichtbar.
Ash schöpft aus einem einzigartigen Fundus von Begegnungen, die in das Buch eingeflossen sind. Er hat amerikanische Präsidenten beraten, europäische Regierungschefs getroffen und Freundschaften mit polnischen, tschechischen und ungarischen Dissidenten gepflegt, die von den sozialistischen Regimen im Ostblock verfolgt wurden. Eines der schönsten Kapitel des Buchs erzählt von der Begegnung mit dem tschechischen Schriftsteller und späteren Staatspräsidenten Václav Havel, den Ash in der bleiernen Zeit der Achtzigerjahre einmal unangemeldet in einem Bauernhaus in Nordböhmen besuchte.
Irgendwie gelang es Ash, die Wachposten der Polizei zu umgehen. Unbemerkt von den Staatsorganen entfaltete sich am Küchentisch ein politisches und philosophisches Gespräch mit Havel: über die Anspannung des Schreibens, wenn jeden Moment das Typoskript von der Polizei beschlagnahmt werden konnte, und über die moralische Zweideutigkeit der westlichen Entspannungspolitik, die mehr auf gute Beziehungen zu den Regierungen setzte, als sie den verfolgten Dissidenten und den Menschenrechten Beachtung schenkte. Die Szene aus dem Kalten Krieg ist von einer bedrückenden Aktualität.
Ashs Geschichte beginnt mit dem völligen Ruin Europas im Zweiten Weltkrieg. Um auch diese Zeit in ihrer Erfahrungsdimension einzufangen, bedient sich Ash eines Kunstgriffs: Er spricht mit den Bewohnern zweier Dörfer - des in Niedersachsen gelegenen Orts "Westen", an dessen Befreiung sein Vater als britischer Armeeoffizier im April 1945 beteiligt gewesen war, und des westpolnischen Przysieczyn, das bis 1945 den deutschen Namen "Osten" trug - über ihre Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Vertreibung. Daraus entsteht auf wenigen Seiten eine Skizze der verflochtenen Geschichte des Weltkriegs und der lokalen Erinnerungen an ihn. Nicht nur an dieser Stelle lässt Ash Gespräche einfließen, die er mit "einfachen" Leuten geführt hat.
Für Europas Weg aus dem Ruin des Weltkriegs war die Erinnerung an die Gräueltaten eine Voraussetzung. Ash spricht vom "Erinnerungsmotor", der die europäische Geschichte nach 1945 angetrieben hat. Es sind Persönlichkeiten wie Bronislaw Geremek, eine der Schlüsselfiguren für Polens Freiheitskampf in den Achtzigerjahren, oder die französische Politikerin Simone Veil, die durch die Traumata von Krieg, Besatzung und Holocaust geprägt waren, welche die europäische Politik in einem Geist des "Nie wieder" vorangetrieben haben. Die "Generation von 1939" erweitert Ash um jüngere Politiker, deren politische Laufbahn erst später begann, für die aber der Krieg der Angelpunkt ihres europäischen Engagements blieb. Auf Helmut Kohl schaut Ash nicht unkritisch, aber seine politische Leistung strahlt bei ihm heller als in mancher deutschen Darstellung.
Ashs Buch trägt im Englischen den Titel "My Homelands". Tatsächlich ist der britische Historiker in vielen europäischen Ländern durch Sprachbeherrschung, lange Aufenthalte und Freundschaften heimisch geworden. Die europäische Geschichte, die er erzählt, nimmt unterschiedliche Sichtweisen ein, die sich aus der Beschäftigung mit seinen "Heimatländern" ergeben. Daraus entsteht ein vielschichtiger und kaleidoskopartiger Text. Wer Ashs Geschichte liest, lässt die eingefahrenen Lesarten einer deutschen, englischen oder polnischen Geschichte Europas hinter sich.
Ob Großbritannien, Polen oder Deutschland, Ashs europäische "Homelands" haben in der jüngsten Zeitgeschichte sehr unterschiedliche und problematische Wege eingeschlagen: Polens einstweilige Abkehr von der liberalen Demokratie, Deutschlands Moskau-Connection bis zur "Zeitenwende", der englische Brexit. An den Debatten, die diese europäischen Prozesse begleiteten, hat Ash als politischer Kommentator teilgenommen, im Falle des Brexits als engagierter Fürsprecher des "Remain". Als Historiker zeichnet er nun die Entwicklungen nach, die zu den Weichenstellungen geführt haben, und nimmt die Herausforderungen der Gegenwart in den Blick: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Chinas Aufstieg als globale autoritäre Macht, die Klimakrise.
Ash nimmt die Risiken der gegenwärtigen Entwicklung sehr genau wahr, lässt sich aber nicht von einem allgemeinen Krisendiskurs überwältigen. Vielmehr schreibt er Geschichte mit einem Sinn für die produktiven Widersprüche, die sich etwa in der Geschichte und Gegenwart Ostmitteleuropas beobachten lassen. Dass Polen, Vorreiter der Demokratisierung in den Achtzigerjahren, sich unter der Führung der PiS-Partei vom demokratischen Rechtsstaat abwandte, ist für ihn "zutiefst deprimierend".
Aber diese Krise der Demokratie hat für ihn auch eine andere Seite: In den Neunzigerjahren hatte Polen die Demokratie nur übernommen und von der EU vorgegebene Rechtsstaatskriterien erfüllt, jetzt, da die Polen für die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung kämpfen mussten, machten sie sich die Institutionen des Verfassungsstaats wirklich zu eigen. Zum ersten Mal seit langer Zeit, so Ash, konzentriert sich der polnische Patriotismus wieder auf die Verteidigung der Verfassung.
Ashs Buch endet mit einem Kapitel über die Aussagekraft der Geschichte für die Gegenwart - zwölf Seiten, die man jedem Politiker zur Lektüre empfehlen möchte. Ashs Europäische Geschichte erzählt Geschichten, zugleich ist sie ein starkes Plädoyer für die historische Urteilskraft. MARTIN SCHULZE WESSEL
Timothy Garton Ash:
"Europa". Eine persönliche Geschichte.
Carl Hanser Verlag, München 2023. 448 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main