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Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Seitenzahl: 143
  • Abmessung: 193mm x 124mm x 17mm
  • Gewicht: 225g
  • ISBN-13: 9783455112719
  • ISBN-10: 3455112714
  • Artikelnr.: 24815457
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.1999

Versichern, aber nicht alles weitere der Versicherung überlassen
Durch alle einfachen Gedankengebäude muß dann und wann ein Ruck gehen: Wie Roman Herzog Marksteine der präsidialen Redekunst setzte

Krone und Szepter, Mercedes' Stern und Opels Blitz beweisen, Darstellung ist eine Urerfahrung. Alle Kommunikation zwingt die Beteiligten, sich selbst wie ihr Gegenüber zu vereinfachen und insofern Wirklichkeit - was immer das ist - zu verblenden. Das gilt für jeden einzelnen, erst recht für Organisationen. Da man Organisationen nicht sehen kann, werden sie nur in ihrer Darstellung wahrgenommen. Von ihrer Darstellung hängt für sie so viel ab, daß ihre Repräsentanten wegen ihrer Außenkontakte meist auch Einfluß nach innen gewinnen. Die Unterscheidung zwischen innen und außen läßt sich weder durchbrechen noch unterlaufen. Wenn das Fernsehen im Fernsehen über das Fernsehen berichtet, bleibt es Fernsehen. Es kann nicht aus sich heraustreten und deshalb nicht selbst seine Rolle in der Gesellschaft klären. Die Bitte des Bundespräsidenten Roman Herzog auf den Mainzer Tagen der Fernsehkritik 1998: "Sorgen Sie für eine Berichterstattung, die auch die Rolle der Medien selbst reflektiert" kann das Fernsehen nie erfüllen.

An diesen Grundsachverhalt ist zu erinnern, weil das Amt des Bundespräsidenten meist danach beurteilt wird, ob der Präsident Gesetze machen oder wenigstens aufheben und Steuergelder unter das Volk streuen kann. Beides kann und soll er nicht. Das Grundgesetz hat die Darstellung der Bundesrepublik zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten aufgeteilt. Der Kanzler muß Macht, der Präsident Kultur darstellen, und zwar möglichst so, daß sie dem Volk nicht auf den Geist geht. Was schwerer ist, weiß man nicht. Kultur ist mühsam. Aber Ohnmacht zu drapieren, ist auch nicht einfach, wie man an den vielen Machtworten sieht, die Staatsschauspieler Gerhard Schröder seit einiger Zeit dem Volk verspricht.

Da der Bundespräsident Kultur darstellen soll, muß er reden und reden. Reden kann Roman Herzog vortrefflich. Daß er so hochintelligent wie gebildet ist, erklärt seine Redeerfolge allerdings ebensowenig wie sein eher schlichter Stil und seine eher einfachen Theorien. Aber Herzog ist auf barocke, fürsorgliche Weise kommunikativ, pflegte als Präsident keine rückenklopfende Kumpelhaftigkeit, eher Distanz, aber einladende Freundlichkeit. Er mag die Menschen und geht auf sie zu. Das ist es.

Die Art seiner Menschenfreundlichkeit lassen schon seine Beiträge im voluminösen Grundgesetz-Kommentar von Theodor Maunz und Günter Dürig erkennen, den Herzog mitherausgibt. Gewiß, die Kommentierungen sind ein wenig ausladend, aber in ihnen steckt systematische Kraft, konstruktive Phantasie und eine selbstbewußte Praxisnähe. Beispiel: Das Grundgesetz verbietet Einzelfallgesetze. Das Verbot entspricht der deutschen Rechtsstaatstradition, läßt sich aber nicht ernsthaft durchführen, weil man nicht definieren kann, was ein "Fall" ist. Herzog meint, das Verbot betreffe klarerweise vor allem Einzelpersonengesetze und an denen könne man sich verdeutlichen, was "Einzelfall" besage. Von der klaren Bedeutung aus die unklare strukturieren, das ist gute Jurisprudenz.

Gute Jurisprudenz reicht freilich nicht ganz, die "Staaten der Frühzeit. Ursprünge und Herrschaftsformen" populärwissenschaftlich darzustellen. Schon der Titel des Buches zeigt das Problem. Das Wort "Staat" ist erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert bezeugt, nicht für die Frühzeit. Mit ihm beginnt eine welthistorische Unwahrscheinlichkeit: die Entpersönlichung politischer Macht. Herzog kennt die Diskussion um den Staatsbegriff natürlich, wischt sie aber mit seiner Kommentatoren-Jovialität beiseite. Eigentlich gehe es ihm um die "Herrschaft von Menschen über Menschen". Aber "Herrschaft" "Staat" zu nennen, ist keine bloß terminologische Frage. Der moderne Staat hat die Herrschaft von Menschen, jedenfalls dem Anspruch nach, durch die Herrschaft der Gesetze abgelöst. Deshalb denken wir ihn als Organisation, für Herzog die entscheidende Perspektive. Wenn Organisation eine moderne Vorstellung ist, dann ist nicht sicher, ob man aus ihrer Sicht die ältere Welt richtig versteht.

Allerdings versteht man sie leichter. Herzogs Ansatz ist einfach und leuchtet unmittelbar ein: "Deshalb ist es für das Verständnis der alten Staaten von entscheidender Bedeutung, sich klarzumachen, woher sie die riesigen Menschenmassen nahmen, ohne die ihre zivilisatorischen und militärischen Glanzleistungen nicht möglich gewesen wären, wie sie sie behandelten und vor allem auch, wie sie sie organisierten." Da schaut der Politiker dem Historiker über die Schulter. Immerhin werden Fragen wichtig und ebenso eingängig wie lehrreich erörtert, die im allgemeinen von Spezialisten bearbeitet werden, wie Nachrichten- und Verkehrsnetze, Kontrollsysteme und Finanzverwaltungen. Religion kommt vor. "Aber vielleicht läßt sich doch mancher Gehorsamsakt, der auf sie zurückgeführt wird, auch ganz rational erklären." Der wahre Glaube erscheint am Schluß: Staatsethik.

Man kann das Buch auch im Licht der Biographie des Verfassers sehen. Dann ist es eine rekordverdächtige Leistung an Selbstdisziplin und Organisation. Die erste Auflage erschien 1988. Herzog ist von Haus aus Rechtsprofessor, ging 1973 als Leiter der rheinland-pfälzischen Landesvertretung in die Politik, wurde 1978 Minister in Baden-Württemberg und 1983 zunächst Vizepräsident, 1987 dann Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Wissenschaftler mit einer solchen Karriere gelten im Fach meist als verschollen. Herzog legt nach Jahren ein selbstverfaßtes Werk vor. Wer einmal versucht hat, in der Politik an etwas anderes zu denken als an Politik, wird diese Leistung zu würdigen wissen.

Allerdings deutet sie auch an, daß sich Herzog im Bundesverfassungsgericht nicht uneingeschränkt zu Hause gefühlt haben kann. Bei der Beschäftigung mit den "Staaten der Frühzeit" war er ziemlich frei. Wie dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz und der Geschäftsordnung des Gerichtes zu entnehmen ist, hat der Präsident aber sonst nicht viel zu sagen. Er ist noch mehr bloßer Repräsentant als der Bundespräsident. In dem Senat, dem er angehört, ist seine Stimme eine von acht. Dem anderen Senat etwas zu empfehlen, ist undenkbar. Und in der Öffentlichkeit kann der Präsident lediglich die Rechtsprechung des Gerichtes repetieren. Von einem Richter erwartet ohnehin niemand etwas Aufregendes oder Bemerkenswertes. Im Vorwort zur Aufsatzsammlung "Staat und Recht im Wandel", die Herzog 1993 gegen Ende seiner Amtszeit als Gerichtspräsident publiziert hat, bedauert er ausdrücklich, daß ihn das Amt gehindert hat, "Forderungen zu formulieren, die mit seiner politischen Neutralität nicht vereinbar gewesen wären". Es ist auch nicht sicher, ob er wirklich mit allen Entscheidungen des Gerichtes einverstanden war, denen er als Senatsmitglied schließlich zugestimmt hat. Die Fachkollegen haben manchmal anderes erwartet, und das wird ihm nicht verborgen geblieben sein.

Die Aufsatzsammlung läßt jedenfalls kaum erkennen, daß er sich mit dem Gericht identifiziert hat. "Wir Verfassungsrichter" kommt zwar vor, aber auch unverblümte, fundamentale Kritik an einer "Theorie", auf die das Gericht sehr stolz ist, an der Ansicht, der Gesetzgeber müsse alles Wesentliche selbst regeln. Eher erkennt man dunkle Schatten, die die Entwicklung über die Gesellschaft wirft. Das Grundproblem der modernen Gesellschaft ist, daß alle Problemlösungen neue Probleme gebären. Wo das endet, weiß auch Herzog nicht. Er plädiert für einfache Grundsätze, mag es "auch pausbäckig klingen". Aber man kann statt "einfache Grundsätze" "entscheiden" sagen. Dann klingt das Plädoyer schneidiger und kommt der Wirklichkeit näher. Denn daß alle Lösungen neue Probleme nach sich ziehen, bedeutet nur, vorausgesetzt, man kennt die Folgen überhaupt, gibt es keine Vorteile ohne Nachteile. Man muß entscheiden, ob man den Vorteil will und den Nachteil in Kauf nimmt. Herzog knüpft an das bekannte Insulin-Beispiel an. Ohne Insulin müßten die meisten Zuckerkranken früher sterben, mit Insulin leben sie länger, werden aber vom politischen System abhängig.

Herzog schließt daraus, also müßten wir Demokratie und Rechtsstaat sichern. Nur, die haben auch ihre Probleme. Einem der Probleme, den Grenzen des Sozialstaates, begegnet man in diesem Buch immer wieder. Herzog kommt, wenn auch etwas unwillig, auf eine Lösung, die sich theoretisch gut begründen läßt: "Der Staat als Versicherung". In der Tat, der Staat kann Risiken nicht ausschließen, aber er kann sie abfedern. Für die Abfederung stehen ihm indessen nur begrenzte Mittel zur Verfügung, und die muß er fair verteilen. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Der größte Glückspilz, schreibt Herzog, sei der, der Versicherungsleistungen nicht in Anspruch zu nehmen brauche. Leider verstünden diese Glückspilze ihr eigenes Glück nicht, weil sie mißmutig auf die schauten, die Leistungen erhielten, obwohl sie nicht mehr eingezahlt hätten als die Glückspilze. Das ist eine treffliche Beobachtung. Nur ist der "Neid" der Glückspilze weder eine moralische Frage noch eine Folge davon, daß es uns zu gut geht. Er folgt vielmehr aus dem Unterschied zwischen einem Vergleich von Person zu Person in der Gegenwart und einem Vergleich auf der Zeitschiene. Im Rückblick verschwinden eben alle Risiken, weil man weiß, was die Zukunft gebracht hat. An dieser Differenz kann die Politik nichts ändern. Bei der Verteilung staatlicher Mittel darf sie daher nicht auf allgemeine Zustimmung hoffen, nicht einmal bei denen, die Leistungen erhalten. Sie muß sich vielmehr auf abstrakte, formale Verteilungsregeln berufen und ist dann immer noch dem Vorwurf ausgesetzt, die Ärmsten der Armen zu schröpfen oder die Faulenzer zu unterstützen, die "Sozialleistungsdrohnen", wie Herzog sie nennt. Da staatliche Mittel nicht zur allgemeinen Zufriedenheit verteilt werden können, muß die Politik schlicht entscheiden, auch das Bundesverfassungsgericht. Herzog sieht das und es beunruhigt ihn, weil er letztlich doch glaubt, die Menschen könnten harmonischer leben als sie es tun.

Als er 1994 für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, haben manche in Karlsruhe gefragt, wie man noch wollen könne, Bundespräsident zu werden, wenn man einmal Präsident des Bundesverfassungsgerichtes war. Tatsächlich hat die Kandidatur die informelle öffentliche Rangordnung der Verfassungsorgane berührt. Das Bundesverfassungsgericht gilt als Krönung des Rechtsstaates und es hält sich selbst dafür. Die früheren Bundespräsidenten waren alle unmittelbar aus der Politik gekommen. Bei ihnen stellte sich die Rangfrage nicht. Herzog hat sie im Sinne der formellen protokollarischen Rangordnung beantwortet. Für seine Kandidatur gab es allerdings menschlich verständliche Gründe. Herzog stand kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, war erst sechzig Jahre alt und nicht der Typ eines "Unruheständlers". Aber zu dem Schritt gehörte Mut. Als Gerichtspräsident durfte er die Wahl nicht verlieren. Gerade dieses Amt hatte ihn jedoch zum parteipolitischen Außenseiter gemacht. Die CDU betrachtete ihn als Verlegenheitslösung. Deshalb war zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher, daß er gewählt würde. Woher der Mut? Der krönende Abschluß einer politischen Karriere war das Amt für Herzog jedenfalls nicht. Aber es entspricht seinem Naturell, seiner Neigung, harmonisch zu ordnen. Das Amt verschafft ein großes, prinzipiell wohlwollendes Publikum, das formgebundene Volkstümlichkeit will, es bietet relative Freiheit im Reden über einfache, "pausbäckige" Grundsätze und es stellt Ansprüche an die Fähigkeit zu harmonisieren.

Bis auf Gustav Heinemann, der mit seinem Wort vom "Machtwechsel" mehr sich selbst als die Lage charakterisiert hat, haben alle Bundespräsidenten versucht, parteiübergreifend zu wirken. Stilbildend hat der erste Bundespräsident Theodor Heuss gewirkt, dessen heiteres Weltschwabentum der Niederbayer Herzog trotz seines Humors natürlich nie erreichen konnte. Dafür ist es Herzog gelungen, bis zum Ende seiner Amtszeit auffällige Reibungen mit seiner eigenen Partei, der CDU, und überhaupt mit dem politischen Establishment zu vermeiden, während sich Heuss zuletzt wegen der Frage seines Nachfolgers mit Konrad Adenauer überworfen hat. Auch Richard von Weizsäcker meinte zum Schluß, sich zum Anwalt der Parteiverdrossenen machen zu müssen. Von Herzog ist dergleichen nicht bekanntgeworden.

Noch in einem weiteren Punkt hat er sein Amt so verstanden, wie Heuss es geprägt hat. Herzog hat einige seiner Reden, Interviews und Aufsätze auch in Buchform publiziert, für fast jedes Jahr seiner Amtszeit einen schmalen, aber ansehnlich aufgemachten Band. Herausgeber ist jeweils Manfred Bissinger, Chefredakteur der "Woche", vielleicht, weil der Bundespräsident kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben darf, auch nicht den eines Schriftstellers.

Reden in Buchform zu präsentieren, ist nicht ungefährlich. Der Leser kann das Ambiente der Veranstaltung nicht miterleben. Das Buch bietet sie ihm in einem Kontext dar, den sie ursprünglich nicht hatten. Dadurch entstehen Effekte, die ernüchternd wirken. Einige Titel: "Der große Beitrag der kleineren Staaten - Ansprache anläßlich eines Mittagessens, gegeben vom Premierminister des Großherzogtums Luxemburg, Jacques Santer, am 13. Oktober 1994 im Schloß Septfontaines in Luxemburg". Oder: "Verjüngung der Gesellschaft durch Stärkung der Familie - Grußwort zur Abschiedsveranstaltung zum Internationalen Jahr der Familie am 30. November 1994 in Bonn". Oder: "Die Botschaft der Märchen - Internationaler Kongreß der Europäischen Märchengesellschaften am 20. September 1995 in Gelsenkirchen". Im Prinzip weiß man also, was der amtlich bestellte Darsteller einer der führenden Industrienationen bei welcher Gelegenheit sagen wird. Selbstverständlich ist es Chronistenpflicht, Ort, Zeit und Gelegenheit einer Ansprache zu verzeichnen. Trotzdem stört es. Bei der Veranstaltung ist man unter sich, freut sich, daß der Bundespräsident kommt, rechnet mit aufmunternden Worten und hofft sogar manchmal auf Wegweisendes, auf den unanstößigen Denkanstoß eines außenstehenden Beobachters. Der Leser dagegen ist weder Luxemburger noch Vater oder Märchenerzähler. Er sieht nur eine Reihung von Anlässen, die für die Beteiligten einmalig waren, im Sammelband aber zu einer Serie werden. Für ihn verstößt die Entsprechung von Sachthema und Gelegenheit gegen das Grundgesetz der Rhetorik: Die Herstellung darf in der Darstellung nicht erscheinen, weil sie Alternativen zeigt und deshalb Zweifel an der Darstellung weckt.

Die Reihung provoziert auch unangemessene Vergleiche. Am 9. Juni 1996 ruft Herzog zum fünfzigsten Todestag Gerhart Hauptmanns "nach Gerechtigkeit und Würde". Am 10. Februar 1998 konstatiert er zum hundertsten Geburtstag von Bertolt Brecht "die Fragen, die bleiben". Aber das ist das Dilemma des Amtes, bei allen Gelegenheiten reden und zu allen etwas Passendes sagen zu müssen. Das Dilemma wird noch dadurch verschärft, daß die Zeit die Gelegenheiten wieder und wieder neu bewertet. Nach der Asien-Krise lesen zu müssen, daß Herzog, damals gerade aus Asien kommend, den Deutschen die asiatischen Tigerstaaten als Beispiele für Dynamik und Zukunftsvisionen vorgehalten hat, erhöht nicht die Risikobereitschaft, sondern rät zur Vorsicht.

Freilich gibt es immer wieder Gelegenheiten, die zu nichts Bestimmtem verpflichten und bei denen der Bundespräsident ohne Vorgaben zur gesamten Nation sprechen kann. Solch eine Gelegenheit war die Wiedereröffnung des traditionsreichen Hotels Adlon in Berlin am 26. April 1997, bei der Herzog seine bekannte "Berliner Rede" gehalten hat, mit dem Kernsatz: "Durch Deutschland muß ein Ruck gehen". Spötter haben behauptet, jeder Zuhörer habe gedacht, die anderen müßten sich wirklich endlich einmal einen Ruck geben. Die Beispiele, die Herzog angeboten hat, wirken tatsächlich eher politisch korrekt als schlagend: "Alle müssen mitmachen: die Arbeitgeber, indem sie Kosten nicht nur durch Entlassungen senken; die Arbeitnehmer, indem sie Arbeitszeit und -löhne mit der Lage ihrer Betriebe in Einklang bringen; Bundestag und Bundesrat, indem sie die großen Reformprojekte jetzt rasch voran bringen; die Interessengruppen in unserem Land, indem sie nicht zu Lasten des Gemeininteresses wirken." Aber Herzog wußte, daß er sich nicht mehr leisten durfte als eine Gardinenpredigt an die Nation. Letztlich will er nur aufs Tempo drücken. Seine Strategie ist unverkennbar: sich als Person einsetzen, bis an die Grenze der Standpauke gehen und mit Samthandschuhen an die Urangst jeder Gruppe rühren, daß ihr Repräsentant aus der Rolle fallen könnte, in der Familie der Vater, im Staat das Oberhaupt. Betrachtet man die "Berliner Rede" aus dieser Sicht, kann man nur sagen: gut geredet. Die Gliederung macht den Stoff durchsichtig, die Sprache ist kraftvoll einfach, die Beispiele zeugen von Sachkenntnis, vermitteln also Autorität, sind aber trotzdem jedem Zuhörer geläufig, und die Grundsituation ist klar erfaßt: Ich erinnere euch an das, was ihr eigentlich wollt; Pausen ja, aber nicht ohne Konzerte.

Weil das Amt die Freiheit des Wortes eng begrenzt, kann der Bundespräsident seine Reden auch von fingerflinken Leuten schreiben lassen. Manchmal zwingt ihn die Knappheit an Zeit dazu. Aber Theodor Heuss war stolz darauf, alle bedeutenderen Reden selbst verfaßt zu haben. Auch Roman Herzog wird die meisten seiner Reden eigenhändig zu Papier gebracht haben. Ihr Stil, ihre Thematik und ihre Gedankenführung entsprechen deutlich denen seiner vorpräsidialen Reden. Allerdings können die meisten Redenschreiber so etwas kopieren, bis zur menschlichen Wärme. Darauf kommt es jedoch nicht an. Gefragt ist, was die Amtsperson, nicht, was der Mensch sagt. Wenn Roman Herzog Redenschreiber gehabt hat, waren sie gut. Das ist auch ein Verdienst.

Jedenfalls wirken seine Reden ehrlich und gebremst emotional. Was er unmittelbar nach seiner Wahl gesagt hat, könnte als Motto über allen stehen: "Ich will Deuschland in den nächsten fünf Jahren so repräsentieren, wie dieses Deutschland wirklich ist: friedliebend, freiheitsliebend, leistungsstark, um Gerechtigkeit zumindest bemüht, zur Solidarität bereit, tolerant, weltoffen und - was mir fast das Wichtigste erscheint - unverkrampft." In diesem festen Glauben an das Gute im Deutschen kann Herzog Abbitte tun, Resignation verscheuchen und Zuversicht verbreiten. Sich im Amt als Person glaubwürdig mit der Gruppe zu identifizieren, die man darstellen muß, ist eben das Geheimnis guter Repräsentation. "Bundeskanzler zu sein, macht Spaß" (Gerhard Schröder) hebt auch die Glaubwürdigkeit, ist aber krisenanfälliger als das klare Bekenntnis zur Gruppe und zeigt weniger Loyalitätsbereitschaft. Schlecht beraten war Richard von Weizsäcker, als er die Parteien öffentlich kritisierte, die ihn ins Amt getragen hatten. Zwar ist Dank ein Fremdwort in der Politik. Aber daß jemand auch dann zur Fahne steht, wenn er sie ohne Risiko verlassen kann, gehört zu den Grunderwartungen jedes Kegelvereins.

Sein Glaube an das Gute im Deutschen läßt Herzog gelegentlich zu stark vereinfachen: Die Westdeutschen standen unter dem Druck der Siegermächte. "Die Ostdeutschen dagegen haben ihre Demokratie selbst erkämpft." Warum haben die Ostdeutschen "ihre" Demokratie nicht ein paar Jahre früher erkämpft? Oder: Die Weimarer Republik sei vor allem daran gescheitert, daß sie "zu wenige Demokraten hatte, auf die sie sich hätte verlassen können". Hätte sich die Weimarer Nationalversammlung ein anderes Volk wählen sollen? Wichtiger ist jedoch, daß der Glaube es Herzog ermöglicht, stets seine politische Würde und damit die der Nation zu wahren. Die "Bitte um Vergebung" am fünfzigsten Jahrestag des Warschauer Aufstandes ist aufrecht und deshalb um so glaubwürdiger.

Die "Reden zur Kultur" betreffen den Kern des Bundespräsidenten. "Freiheit des Geistes" hat Herzog sie genannt. Vor Germanisten hat er einen neuen literarischen Kanon gefordert, eine Verständigung darüber, "welche Werke ein Abiturient nach seiner Schulzeit kennen sollte". Zur Wiedereröffnung des Frankfurter Goethe-Museums hat er seine beiden Hauptargumente zusammengefaßt: "gemeinsame Kenntnisse der Grunderzählungen unserer Kultur und die an Qualität geschulte Kritikfähigkeit". Die Notengebung in der Schule würde ein neuer Kanon unzweifelhaft erleichtern. Aber würde er auch der "Freiheit des Geistes" Flügel verleihen? Bei der weiteren Lektüre will der "neue Kanon" nicht mehr aus dem Kopf. Die Werke der Autoren, die Herzog zu feiern geholfen hat: Schiller, Brüder Grimm, Heine, Brecht, Fontane, Goethe und Gerhart Hauptmann, gehören nach seiner Ansicht gewiß dazu, wahrscheinlich vor allem Gerhart Hauptmann. Das Bild, das er von Hauptmann gezeichnet hat, ist ihm am besten gelungen. Bewegend zu lesen, wie die Politik den eigentlich unpolitischen Dichter, wie die Wirklichkeit den Anwalt der Wirklichkeit eingeholt hat. Aber muß man Hauptmann kennen? Im Fußballclub nicht, unter Professoren schon. Hängt also ein Bildungskanon nicht von den sozialen Verhältnissen ab? Lassen wir das heiße Eisen der Verständigung über Verständigungsmöglichkeiten lieber fallen.

Kultur bewegt Herzog aber nicht nur als Feinschmecker, auch als Koch. Eine Tübinger Vorlesung "Über Rhetorik in der Demokratie" bietet ihm Gelegenheit, über sein eigenes Reden zu sprechen. Natürlich sagt er, was alle schon wissen: Der Bundespräsident hat nichts zu sagen, als muß er reden, und die Rede ist das Lebenselixier der Demokratie. Aber Herzog skizziert auch seine Redestrategie: Der Bundespräsident "hat solche Fragen zu ,thematisieren', die im Moment nicht Gegenstand der allgemeinen Debatte sind (und die infolgedessen auch den Massenmedien als nebensächlich erscheinen), und er hat von Zeit zu Zeit ins Bewußtsein zu rufen, daß es zwischen den politischen Lagern auch breite Zonen der Übereinstimmung gibt - er hat also, wie man so schön sagt, ,das Gemeinsame zu betonen". Diese Sätze könnte man ins Grundgesetz, man sollte sie jedenfalls allen künftigen Bundespräsidenten ins Stammbuch schreiben. Edler kann man den präsidialen Dienst am Gemeinwesen kaum verstehen. Die Reden des Bundespräsidenten ergänzen die Diskussion zwischen Regierung und Opposition und stärken die Zusammenarbeit der Parteien. Das schließt ein: Regierung und Opposition machen ihre Sache prinzipiell gut, haben aber nicht stets für alles Zeit und bedürfen des Grundvertrauens. Der Bundespräsident kann nicht mehr tun, als ihnen zu helfen. Eine eigene Politik hat er nicht zu vertreten. Deshalb also ist Herzog während seiner Amtszeit mit dem politischen Establishment so gut ausgekommen.

"Wahrheit und Klarheit" hat er sich zum Motto seiner Amtszeit gewählt. Das war mehr als Vertrauenswerbung. Im Handelsrecht bedeuten Firmenwahrheit und -klarheit, daß der Name eines Handelsunternehmens den Kaufmann kennzeichnen und Unterscheidungskraft besitzen muß. Wenn ein Bundespräsident auch darauf beschränkt ist, mit Nichtssagendem etwas zu sagen, Herzog hat es fertig gebracht, in seinem Amt seine unverwechselbare Person so zur Geltung zu bringen, daß er das Grundvertrauen in die Demokratie vertieft und die Standards des politischen Umgangs erhöht hat. Vorbild nennt man das.

GERD ROELLECKE

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