Versteckt, verboten, zensiert: Wo in der Literatur der Goethezeit Freigeisterei, Sinnlichkeit oder gar Sex Erwähnung fanden, war die Zensurschere schnell zur Hand. Und doch gab es eine erstaunliche Menge an libertinen Texten - oft anonym gedruckt, unterm Ladentisch gehandelt: Hier sind sie, lest und staunt!
Ähnlich wie 1968 fand schon im 18. Jahrhundert eine Art Revolution des Denkens und Schreibens statt: Man besann sich auf das Hier und Jetzt (statt aufs Jenseits), man feierte Körper und Dasein, man schwor der Erbsünde ab und dachte »über den Trieb, sich zu gatten« (Johann Reinhold Lenz) nach - oder man beschrieb ihn gar. Freilich meist im Verborgenen, in anonymen Schriften oder - zu Zeiten der Französischen Revolution - in einer Flut von Büchern, die heimlich gehandelt wurden.
Zentren dieser Bewegung waren der freigeistige Hof Friedrichs des Großen, Großstädte (»Du Sodomsort, Du neues Gomorrha«) wie Wien und Berlin und die Schreibstuben der Dichter, die aufdie Unverkrampftheit heidnisch-antiker Autoren gestoßen waren. Erst mit der Restauration verschwand dieses Schrifttum wieder - um hinfort von der Germanistik ignoriert zu werden.
Doch unsere Zeiten sind frei: Und so versammeln diese Bände, was es an libertiner Literatur in Deutschland gab, von obszönen anonymen Romanen wie Schwester Monika bis zu Werken berühmter Autoren wie Heinse, Goethe, Wieland und Lenz.
Ähnlich wie 1968 fand schon im 18. Jahrhundert eine Art Revolution des Denkens und Schreibens statt: Man besann sich auf das Hier und Jetzt (statt aufs Jenseits), man feierte Körper und Dasein, man schwor der Erbsünde ab und dachte »über den Trieb, sich zu gatten« (Johann Reinhold Lenz) nach - oder man beschrieb ihn gar. Freilich meist im Verborgenen, in anonymen Schriften oder - zu Zeiten der Französischen Revolution - in einer Flut von Büchern, die heimlich gehandelt wurden.
Zentren dieser Bewegung waren der freigeistige Hof Friedrichs des Großen, Großstädte (»Du Sodomsort, Du neues Gomorrha«) wie Wien und Berlin und die Schreibstuben der Dichter, die aufdie Unverkrampftheit heidnisch-antiker Autoren gestoßen waren. Erst mit der Restauration verschwand dieses Schrifttum wieder - um hinfort von der Germanistik ignoriert zu werden.
Doch unsere Zeiten sind frei: Und so versammeln diese Bände, was es an libertiner Literatur in Deutschland gab, von obszönen anonymen Romanen wie Schwester Monika bis zu Werken berühmter Autoren wie Heinse, Goethe, Wieland und Lenz.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein wichtiges, unterbelichtetes Stück Literaturgeschichte präsentieren die Herausgeber Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler laut Rezensent Niklas Bender in diesem philologisch wie bibliophil "vorzüglich" aufbereiteten Prachtband. Er versammelt deutsche Texte der literarischen Libertinage, mithin eines Genres, dessen größte Leistungen zumeist in Frankreich verortet werden. In aufwändigen Recherchen haben Bernauer und Kitzbichler nun deutschsprachige Texte zusammengestellt, die um 1800 herum erschienen sind und, wie Bender darstellt, ein breites Spektrum der Formen und Genres erotischer Literatur der Zeit abbilden. Der Rezensent weist auf einige Besonderheiten der deutschen literarischen Libertinage hin: So nähere sie sich etwa der Erotik oftmals über den Umweg der Antike an, teils auch vermittels Neuübersetzungen alter Klassiker. Im Folgenden unternimmt der Rezensent einen Streifzug durch den Band, weist auf mehrere Texte hin, die Charlotte Schuwitz und ihrem legendären Berliner Bordell gewidmet sind und gleicht die Texte mit heutigen Vorstellungen von Sexualmoral ab. Außerdem legt Bender dar, dass auch die deutsche Libertinage in einer aufklärerischen Tradition verortet war, dass sie also die Freiheit der Liebe stets als Teil der Freiheit des Denkens verstand und nicht selten mit Kirchenkritik verband. Vielleicht hätte er nicht jeden der hier versammelten Texte aufgenommen, insgesamt lobt Bender die Veröffentlichung jedoch als eine hervorragend gestaltete Grundlagenedition. Jetzt noch eine Taschenbuchausgabe, bittet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2024Vom schäumenden Becher der Wollust
Pionierarbeit zur Freizügigkeit im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts: Ein Prachtdoppelband sammelt Texte literarischer Libertinage.
Liebe und Erotik sind Kernthemen der Literatur, aber selten haben sie so große Sprengkraft entwickelt wie in der Aufklärung. In deren kontinentaleuropäischem Zentrum Frankreich gedeiht im achtzehnten Jahrhundert die libertine Literatur, die sexuellen Genuss mit aufklärerischer Schärfe amalgamiert. Klassiker wie "Thérèse philosophe" von Jean-Baptiste Boyer d'Argens attackieren nicht nur zarte Körperregionen, als moosiger Hügel, Grotte oder Tempel der Venus verbildlicht, mit martialischeren Gliedern, die Pfeilen, Lanzen oder Pfählen gleichen. Nein, sie greifen zudem die Sexualmoral und genereller das Menschenbild des Christentums an: Dem erlösungsbedürftigen Sünder stellen sie einen sinnlichen Naturmenschen gegenüber.
Die libertine Literatur in ihrer Verbindung von kultiviertem Genuss und scharfsinnigem Esprit wirkt urfranzösisch. Zweifellos hat sie links des Rheins ihre Glanzzeit gefeiert, mit Sade, dem "göttlichen Marquis", als Höhe- und Endpunkt. In der dortigen Literatur, ja in der Alltagskultur hat sie ein sichtbares Erbe hinterlassen; von Gustave Flauberts Briefwechsel über Guillaume Apollinaires Werke bis hin zu Theoretikern wie Georges Bataille lassen sich die Spuren leicht nachverfolgen. Dass es auch in Deutschland zumindest um 1800 nicht zu verachtende Werke teils bekannter, teils unbekannter oder anonymer Schriftsteller gab, macht nun eine prächtige und gelehrte Ausgabe erstmals nachvollziehbar.
Die zwei Bände von "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit - Literatur des Libertinismus in Deutschland" präsentieren auf mehr als tausend Seiten eine repräsentative Auswahl. Die Herausgeber Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler versuchen, unterschiedlichste Texte in sieben Abschnitte einzuteilen. Manche Gliederungspunkte liegen auf der Hand, wie die den Gattungen gewidmeten: "Romane, Bildungsgeschichten" oder "Bildgeschichten" bieten sich an, schließlich sind libertine Werke meist Erzähltexte, die zudem gern eine sexuelle Erziehung schildern und bebildern; auch "Gedichte" überraschen nicht, Liebe ist in der europäischen Lyrik das große Thema.
Eine deutsche Eigenheit führt jedoch gleich der erste Abschnitt ein, thematisch mit "Freiraum Antike" betitelt. Er trägt der Tatsache Rechnung, dass der deutsche Weg zur Sinnlichkeit über Griechenland und Rom führt. Christoph Martin Wieland erhält hier einen Ehrenplatz, den seine "Comischen Erzählungen" rechtfertigen: Sie erzählen die griechische Mythologie auf amüsant-prickelnde Weise neu. So werden die ehelichen Missverhältnisse im Haus von Juno und Jupiter berichtet: "Wer ihn für glüklich hielt, der sah die Dame nicht / Im Schlafgemach und hinter den Gardinen". Die Auseinandersetzungen kulminieren trotz Jupiters Schuldgeständnis (er sei ein "epicurisch Schwein") darin, dass Juno ihrem Gatten den süßen Ganymed entführt. Jupiter wird Zeuge der Liebesszene: "Nur wundert ihn, die ungemeine Gaben, / Die seine liebe Frau bey diesem Anlaß zeigt, / Noch nie an ihr entdekt zu haben."
Die Herausgeber gehen noch weiter: Sie sehen in Wilhelm Heinses Übersetzung von Petronius' "Satyrikon" das wichtigste Sotadicum deutscher Sprache und drucken die gut 150 Seiten vollständig ab. Das ist - bei aller Sprachmacht und Sinnesfreude - etwas viel des Guten. Ähnliches gilt für die dem Prominentesten erwiesene Ehre: Goethe ist mit den "Römischen Elegien" und den "Venezianischen Epigrammen" vertreten, beide durch die metrische Form der Antike verpflichtet; die Ersteren sind einschlägig bekannt. Bei den Epigrammen ist in der Tat aufschlussreich, wie Goethe sie überarbeitet und für die Veröffentlichung im "Musen-Almanach" beschnitten hat. Das wird dadurch sinnfällig, dass die Herausgeber Handschrift (1790) und Druckfassung (1795) nebeneinanderstellen: Man sieht die Schere am Werk, Selbstzensur und Zensur greifen ineinander. En passant finden sich radikale Texte: "Alle Weiber sind Waare mehr oder weniger kostet / Sie den begierigen Mann der sich zum Handel entschliest" (Epigramm 89). Allerdings werden hier sämtliche Epigramme geliefert, obwohl viele mit Libertinage nichts zu tun haben; das verwässert den Gehalt.
Auch die Abhandlung eines Franzosen wird aufgenommen: "Die Kunst die Wollust zu empfinden" (1751), von Julien Offray de La Mettrie. Der für seine Abhandlung über den "Homme Machine" bekannte Philosoph entwickelt hier die Vorstellung von Sinnesfreude als einem raffinierten Vergnügen: "die Wollust aber beschreibet er als den Geist und als die Quintessenz des Vergnügens, die Kunst dasselbe weißlich zu gebrauchen, es vermittelst der Vernunft zu schonen und vermittelst der Empfindung zu schmecken". Derartige Ausführungen entwerfen eine Stufenleiter der Sinnlichkeit, die viele Erzähltexte gliedert: Sex ist nur der Gipfel einer langen Reihe raffinierter Genüsse wie feiner Speisen, edler Getränke, geistreicher Reden, Musik und dergleichen mehr.
Die französische Präsenz rechtfertigt sich durch La Mettries Aufenthalt am Hofe Friedrichs II. Der Preußenkönig, der selbst unter den Autoren ist, bot Libertins Zuflucht, die sich in Frankreich unmöglich gemacht hatten, etwa Voltaire oder Boyer d'Argens; deren aufklärerische und libertine Ideen wollte er allerdings auf eine Elite beschränkt sehen, wie die Herausgeber betonen. Da kommt ein weiterer preußischer Abschnitt demokratischer daher: Er ist "Madame Schuwitz' Etablissement in der Friedrichstraße" gewidmet. In der Tat betrieb Charlotte Schuwitz ein europaweit bekanntes Freudenhaus und brachte es als Heldin diverser Werke (meist aus der Sparte Hurenbiographie) zu literarischer Berühmtheit. Sie tritt als Figur lockerer Moral auf: "Geld, Geld ist die Losung meiner Philosophie", gesteht sie, und: "Die Welt will betrogen sein, und es ist Weisheit, sie zu betrügen, wenn der Betrug angenehm ist." Dass er es ist, dafür sorgen exquisite Speisen, sprudelnde Getränke und ebensolche Damen. Demokratisch ist der Ort durch sein Publikum: "Ordensritter und Obristen, Geheimeräthe und Banquiers, Prediger und Consistorialräthe, Aerzte und Virtuosen, Schauspieler und Seiltänzer, Handwerksbursche und Edelleute, kurz alle Classen von Menschen, die der Adreßkalender nennt, oder nicht nennt, bunt durch einander, wie im Paradiese". Geschildert wird zwar das Etablissement von Madame ***, "getaufte Jüdin", bei der die Schuwitz lernt, ihr eigenes Haus wird es jedoch ähnlich halten.
Am Beispiel von Madame Schuwitz lernt der Leser diverse Gattungen und Handhabungen von Autorschaft kennen: Die Namen, die auf einer ihr gewidmeten "Apologie" oder gar einer "Standrede am Grab" prangen, sind Pseudonyme, der Verleger will ebenfalls nicht unbedingt erkannt werden; das "Leben der Madame Schuwitz von ihr selbst aufgesezt" ist 1792 in "Cythère" (dem Geburtsort der Venus) erschienen. Daran freut man sich sowie am Motiv der Flötenuhr, an Witz und Menschlichkeit der Heldin. Heikel hingegen ist die Schematisierung mancher Figuren - Judenfeindlichkeit findet sich in mehr als einem der Werke, einer der wenigen Punkte, zu denen man sich etwas mehr kommentierende Ausführungen gewünscht hätte.
Ansonsten sind die Bände philologisch vorzüglich gemacht und bibliophil gestaltet. Die Anmerkungen sind im rechten Grad informativ, es ist nur schade, dass sie komplett am Ende des zweiten Bandes stehen; die Lektüre des ersten Bandes wird so erschwert. Eine große Hilfestellung hingegen ist, dass die Herausgeber auch in der französischen Literatur zu Hause sind: Das ist nicht selbstverständlich, aber unumgänglich. Denn die französische Libertinage war (wenngleich als Erbin von Petronius und Pietro Aretino) Lektüre und Vorbild der deutschen Libertins und ist zudem weit besser erschlossen. Es gibt zwei Bände der Pléiade-Ausgabe zum Thema, einen preisgünstigen Ziegelstein der Reihe Bouquin - ganz zu schweigen von diversen Werkeditionen (Sade!) und Taschenbüchern. Das liegt daran, dass der "Enfer" (Hölle) genannte Bereich der Bibliothèque nationale de France quasi das gesamte Korpus enthielt. Es liegt jedoch auch an mutigen Verlegern und neugierigen Lesern sowie an einer Forschung, die sich auf schlüpfrige Pfade traut. Das haben Bernauer und Kitzbichler nun ebenfalls getan, mit ihrer Luxusausgabe, die unbedingt im Taschenbuch ergänzt werden müsste.
Die enthaltenen Werke mussten die Herausgeber mühselig aus Sammlungen zusammentragen, welche die Bücher vor der Zensur gerettet und es in Bibliotheken geschafft hatten. Die Auswahl enthält so schöne Klassiker der erotischen Literatur wie die "Denkwürdigkeiten des Herrn von H." (1787) oder "Ernst und Minette" (1791). Die zwei pikanten Reifeerzählungen berichten vom Erlernen der Sexualität - "iezt schäumte ihr Becher der Wollust und ich strömte Nektar hinein" -, das im ersten Fall in einer aristokratischen Ehe mit standesgemäßer Untreue, im zweiten in einer bürgerlichen Ehe erotisch erfüllter Zweisamkeit endet. "Priaps Normalschule" (1789) hingegen warnt: Ausgelebter jugendlicher Sexualdrang führt zu Abstieg, Krankheit oder gar Tod. Allerdings ist die Schilderung von Teenager-Lust so deftig, dass der pädagogische Nutzen entweder ein Feigenblatt oder überschaubar gewesen sein dürfte.
Die gezeigte Sexualität entspricht nicht immer (heutigen) Standardvorstellungen; es gibt Sexismus und Gewalt. Die Verhaltensregeln um 1800 erzwingen allerdings auch Simulation: Häufig muss die Frau überrascht werden, darf aus Gründen der Schicklichkeit oder der Verführung nicht einfach mitspielen. Rollentäusche sind dem heutigen Geschmack vermutlich näher: Männer wie "Eduard der Schöne" (1798) verkleiden sich als Frauen, um zu ihren wohlgehüteten Geliebten zu gelangen - und ziehen Lust daraus. Manchmal müssen sie selbst dienstbar sein, Herr von H. etwa sieht sich aus Gründen der Convenance gezwungen, eine begonnene Verführung abzuschließen: "Ich spielte den Galanten und entkleidete meine Donna ganz. Wahrlich der Anblik war so reizend eben nicht, ein langes hageres Knochengerüste vor sich zu sehen, an dem die starkbehaarten Lippen der Muschel die fleischigsten Theile waren." Er müht sich mehrmals daran ab: "Ich fühlte einige Tage die Anstrengung und hatte eigentlich kein Vergnügen genoßen", lautet die desillusionierte Moral eines Verführers in der Pflicht.
"Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit" illustriert aufs Trefflichste, was libertine Literatur will: Die Freizügigkeit der Sitten entspricht der Freiheit des Denkens, die Selbstbestimmung des aufgeklärten Erotikers gründet in seinem Verstandesgebrauch. Dieser führt ihn zur Kirchenkritik, Kleriker werden als lüsterne Heuchler entworfen, religiöse Sprache zweckentfremdet, "oft fand die Wollust ihr Grab, und oft ihre Auferstehung", heißt es in "Eduard der Schöne". Außerdem ist die Sexualität Teil eines materialistischen Kontinuums der Sinnesfreuden. Ein Denksystem ist damit nicht geschaffen, der Begriff "Libertinage" ist daher genauer als "Libertinismus".
Zentral ist die gern ironisch inszenierte Pädagogik. Der Libertin will erziehen: "Der Aeltern Neid will nicht, daß ihr den Ursprung wißet, / Wie jeder Mensch aus Lust zur Lust entsprießet." Die Werke zeigen - durchs Schlüsselloch! - Modelle und wollen selbst imitiert werden; Madame Schuwitz präsentiert ihren Lebensbericht "als ein heiliges Depot, zur Lehre und Nachahmung". Es ist konsequent, dass viele Libertins eine erotische Bibliothek haben: Das Genre transportiert seinen eigenen Kanon. Dem Leser wird dieser ebenso nähergebracht wie die Sprache der Liebe: "Das Wickelkind", "auf Zwitter-Art", "a la Dudelsack" - hinterher weiß man, was diese pittoresken Ausdrücke meinen. Diese sanfte, saftige Sprachdidaktik ist nicht der geringste der hier entwickelten Reize. NIKLAS BENDER
Markus Bernauer, Josefine Kitzbichler (Hrsg.): "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit". Literatur des Libertinismus in Deutschland.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 2 Bd., zus. 1208 S., Abb., geb. im Schuber, 128,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pionierarbeit zur Freizügigkeit im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts: Ein Prachtdoppelband sammelt Texte literarischer Libertinage.
Liebe und Erotik sind Kernthemen der Literatur, aber selten haben sie so große Sprengkraft entwickelt wie in der Aufklärung. In deren kontinentaleuropäischem Zentrum Frankreich gedeiht im achtzehnten Jahrhundert die libertine Literatur, die sexuellen Genuss mit aufklärerischer Schärfe amalgamiert. Klassiker wie "Thérèse philosophe" von Jean-Baptiste Boyer d'Argens attackieren nicht nur zarte Körperregionen, als moosiger Hügel, Grotte oder Tempel der Venus verbildlicht, mit martialischeren Gliedern, die Pfeilen, Lanzen oder Pfählen gleichen. Nein, sie greifen zudem die Sexualmoral und genereller das Menschenbild des Christentums an: Dem erlösungsbedürftigen Sünder stellen sie einen sinnlichen Naturmenschen gegenüber.
Die libertine Literatur in ihrer Verbindung von kultiviertem Genuss und scharfsinnigem Esprit wirkt urfranzösisch. Zweifellos hat sie links des Rheins ihre Glanzzeit gefeiert, mit Sade, dem "göttlichen Marquis", als Höhe- und Endpunkt. In der dortigen Literatur, ja in der Alltagskultur hat sie ein sichtbares Erbe hinterlassen; von Gustave Flauberts Briefwechsel über Guillaume Apollinaires Werke bis hin zu Theoretikern wie Georges Bataille lassen sich die Spuren leicht nachverfolgen. Dass es auch in Deutschland zumindest um 1800 nicht zu verachtende Werke teils bekannter, teils unbekannter oder anonymer Schriftsteller gab, macht nun eine prächtige und gelehrte Ausgabe erstmals nachvollziehbar.
Die zwei Bände von "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit - Literatur des Libertinismus in Deutschland" präsentieren auf mehr als tausend Seiten eine repräsentative Auswahl. Die Herausgeber Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler versuchen, unterschiedlichste Texte in sieben Abschnitte einzuteilen. Manche Gliederungspunkte liegen auf der Hand, wie die den Gattungen gewidmeten: "Romane, Bildungsgeschichten" oder "Bildgeschichten" bieten sich an, schließlich sind libertine Werke meist Erzähltexte, die zudem gern eine sexuelle Erziehung schildern und bebildern; auch "Gedichte" überraschen nicht, Liebe ist in der europäischen Lyrik das große Thema.
Eine deutsche Eigenheit führt jedoch gleich der erste Abschnitt ein, thematisch mit "Freiraum Antike" betitelt. Er trägt der Tatsache Rechnung, dass der deutsche Weg zur Sinnlichkeit über Griechenland und Rom führt. Christoph Martin Wieland erhält hier einen Ehrenplatz, den seine "Comischen Erzählungen" rechtfertigen: Sie erzählen die griechische Mythologie auf amüsant-prickelnde Weise neu. So werden die ehelichen Missverhältnisse im Haus von Juno und Jupiter berichtet: "Wer ihn für glüklich hielt, der sah die Dame nicht / Im Schlafgemach und hinter den Gardinen". Die Auseinandersetzungen kulminieren trotz Jupiters Schuldgeständnis (er sei ein "epicurisch Schwein") darin, dass Juno ihrem Gatten den süßen Ganymed entführt. Jupiter wird Zeuge der Liebesszene: "Nur wundert ihn, die ungemeine Gaben, / Die seine liebe Frau bey diesem Anlaß zeigt, / Noch nie an ihr entdekt zu haben."
Die Herausgeber gehen noch weiter: Sie sehen in Wilhelm Heinses Übersetzung von Petronius' "Satyrikon" das wichtigste Sotadicum deutscher Sprache und drucken die gut 150 Seiten vollständig ab. Das ist - bei aller Sprachmacht und Sinnesfreude - etwas viel des Guten. Ähnliches gilt für die dem Prominentesten erwiesene Ehre: Goethe ist mit den "Römischen Elegien" und den "Venezianischen Epigrammen" vertreten, beide durch die metrische Form der Antike verpflichtet; die Ersteren sind einschlägig bekannt. Bei den Epigrammen ist in der Tat aufschlussreich, wie Goethe sie überarbeitet und für die Veröffentlichung im "Musen-Almanach" beschnitten hat. Das wird dadurch sinnfällig, dass die Herausgeber Handschrift (1790) und Druckfassung (1795) nebeneinanderstellen: Man sieht die Schere am Werk, Selbstzensur und Zensur greifen ineinander. En passant finden sich radikale Texte: "Alle Weiber sind Waare mehr oder weniger kostet / Sie den begierigen Mann der sich zum Handel entschliest" (Epigramm 89). Allerdings werden hier sämtliche Epigramme geliefert, obwohl viele mit Libertinage nichts zu tun haben; das verwässert den Gehalt.
Auch die Abhandlung eines Franzosen wird aufgenommen: "Die Kunst die Wollust zu empfinden" (1751), von Julien Offray de La Mettrie. Der für seine Abhandlung über den "Homme Machine" bekannte Philosoph entwickelt hier die Vorstellung von Sinnesfreude als einem raffinierten Vergnügen: "die Wollust aber beschreibet er als den Geist und als die Quintessenz des Vergnügens, die Kunst dasselbe weißlich zu gebrauchen, es vermittelst der Vernunft zu schonen und vermittelst der Empfindung zu schmecken". Derartige Ausführungen entwerfen eine Stufenleiter der Sinnlichkeit, die viele Erzähltexte gliedert: Sex ist nur der Gipfel einer langen Reihe raffinierter Genüsse wie feiner Speisen, edler Getränke, geistreicher Reden, Musik und dergleichen mehr.
Die französische Präsenz rechtfertigt sich durch La Mettries Aufenthalt am Hofe Friedrichs II. Der Preußenkönig, der selbst unter den Autoren ist, bot Libertins Zuflucht, die sich in Frankreich unmöglich gemacht hatten, etwa Voltaire oder Boyer d'Argens; deren aufklärerische und libertine Ideen wollte er allerdings auf eine Elite beschränkt sehen, wie die Herausgeber betonen. Da kommt ein weiterer preußischer Abschnitt demokratischer daher: Er ist "Madame Schuwitz' Etablissement in der Friedrichstraße" gewidmet. In der Tat betrieb Charlotte Schuwitz ein europaweit bekanntes Freudenhaus und brachte es als Heldin diverser Werke (meist aus der Sparte Hurenbiographie) zu literarischer Berühmtheit. Sie tritt als Figur lockerer Moral auf: "Geld, Geld ist die Losung meiner Philosophie", gesteht sie, und: "Die Welt will betrogen sein, und es ist Weisheit, sie zu betrügen, wenn der Betrug angenehm ist." Dass er es ist, dafür sorgen exquisite Speisen, sprudelnde Getränke und ebensolche Damen. Demokratisch ist der Ort durch sein Publikum: "Ordensritter und Obristen, Geheimeräthe und Banquiers, Prediger und Consistorialräthe, Aerzte und Virtuosen, Schauspieler und Seiltänzer, Handwerksbursche und Edelleute, kurz alle Classen von Menschen, die der Adreßkalender nennt, oder nicht nennt, bunt durch einander, wie im Paradiese". Geschildert wird zwar das Etablissement von Madame ***, "getaufte Jüdin", bei der die Schuwitz lernt, ihr eigenes Haus wird es jedoch ähnlich halten.
Am Beispiel von Madame Schuwitz lernt der Leser diverse Gattungen und Handhabungen von Autorschaft kennen: Die Namen, die auf einer ihr gewidmeten "Apologie" oder gar einer "Standrede am Grab" prangen, sind Pseudonyme, der Verleger will ebenfalls nicht unbedingt erkannt werden; das "Leben der Madame Schuwitz von ihr selbst aufgesezt" ist 1792 in "Cythère" (dem Geburtsort der Venus) erschienen. Daran freut man sich sowie am Motiv der Flötenuhr, an Witz und Menschlichkeit der Heldin. Heikel hingegen ist die Schematisierung mancher Figuren - Judenfeindlichkeit findet sich in mehr als einem der Werke, einer der wenigen Punkte, zu denen man sich etwas mehr kommentierende Ausführungen gewünscht hätte.
Ansonsten sind die Bände philologisch vorzüglich gemacht und bibliophil gestaltet. Die Anmerkungen sind im rechten Grad informativ, es ist nur schade, dass sie komplett am Ende des zweiten Bandes stehen; die Lektüre des ersten Bandes wird so erschwert. Eine große Hilfestellung hingegen ist, dass die Herausgeber auch in der französischen Literatur zu Hause sind: Das ist nicht selbstverständlich, aber unumgänglich. Denn die französische Libertinage war (wenngleich als Erbin von Petronius und Pietro Aretino) Lektüre und Vorbild der deutschen Libertins und ist zudem weit besser erschlossen. Es gibt zwei Bände der Pléiade-Ausgabe zum Thema, einen preisgünstigen Ziegelstein der Reihe Bouquin - ganz zu schweigen von diversen Werkeditionen (Sade!) und Taschenbüchern. Das liegt daran, dass der "Enfer" (Hölle) genannte Bereich der Bibliothèque nationale de France quasi das gesamte Korpus enthielt. Es liegt jedoch auch an mutigen Verlegern und neugierigen Lesern sowie an einer Forschung, die sich auf schlüpfrige Pfade traut. Das haben Bernauer und Kitzbichler nun ebenfalls getan, mit ihrer Luxusausgabe, die unbedingt im Taschenbuch ergänzt werden müsste.
Die enthaltenen Werke mussten die Herausgeber mühselig aus Sammlungen zusammentragen, welche die Bücher vor der Zensur gerettet und es in Bibliotheken geschafft hatten. Die Auswahl enthält so schöne Klassiker der erotischen Literatur wie die "Denkwürdigkeiten des Herrn von H." (1787) oder "Ernst und Minette" (1791). Die zwei pikanten Reifeerzählungen berichten vom Erlernen der Sexualität - "iezt schäumte ihr Becher der Wollust und ich strömte Nektar hinein" -, das im ersten Fall in einer aristokratischen Ehe mit standesgemäßer Untreue, im zweiten in einer bürgerlichen Ehe erotisch erfüllter Zweisamkeit endet. "Priaps Normalschule" (1789) hingegen warnt: Ausgelebter jugendlicher Sexualdrang führt zu Abstieg, Krankheit oder gar Tod. Allerdings ist die Schilderung von Teenager-Lust so deftig, dass der pädagogische Nutzen entweder ein Feigenblatt oder überschaubar gewesen sein dürfte.
Die gezeigte Sexualität entspricht nicht immer (heutigen) Standardvorstellungen; es gibt Sexismus und Gewalt. Die Verhaltensregeln um 1800 erzwingen allerdings auch Simulation: Häufig muss die Frau überrascht werden, darf aus Gründen der Schicklichkeit oder der Verführung nicht einfach mitspielen. Rollentäusche sind dem heutigen Geschmack vermutlich näher: Männer wie "Eduard der Schöne" (1798) verkleiden sich als Frauen, um zu ihren wohlgehüteten Geliebten zu gelangen - und ziehen Lust daraus. Manchmal müssen sie selbst dienstbar sein, Herr von H. etwa sieht sich aus Gründen der Convenance gezwungen, eine begonnene Verführung abzuschließen: "Ich spielte den Galanten und entkleidete meine Donna ganz. Wahrlich der Anblik war so reizend eben nicht, ein langes hageres Knochengerüste vor sich zu sehen, an dem die starkbehaarten Lippen der Muschel die fleischigsten Theile waren." Er müht sich mehrmals daran ab: "Ich fühlte einige Tage die Anstrengung und hatte eigentlich kein Vergnügen genoßen", lautet die desillusionierte Moral eines Verführers in der Pflicht.
"Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit" illustriert aufs Trefflichste, was libertine Literatur will: Die Freizügigkeit der Sitten entspricht der Freiheit des Denkens, die Selbstbestimmung des aufgeklärten Erotikers gründet in seinem Verstandesgebrauch. Dieser führt ihn zur Kirchenkritik, Kleriker werden als lüsterne Heuchler entworfen, religiöse Sprache zweckentfremdet, "oft fand die Wollust ihr Grab, und oft ihre Auferstehung", heißt es in "Eduard der Schöne". Außerdem ist die Sexualität Teil eines materialistischen Kontinuums der Sinnesfreuden. Ein Denksystem ist damit nicht geschaffen, der Begriff "Libertinage" ist daher genauer als "Libertinismus".
Zentral ist die gern ironisch inszenierte Pädagogik. Der Libertin will erziehen: "Der Aeltern Neid will nicht, daß ihr den Ursprung wißet, / Wie jeder Mensch aus Lust zur Lust entsprießet." Die Werke zeigen - durchs Schlüsselloch! - Modelle und wollen selbst imitiert werden; Madame Schuwitz präsentiert ihren Lebensbericht "als ein heiliges Depot, zur Lehre und Nachahmung". Es ist konsequent, dass viele Libertins eine erotische Bibliothek haben: Das Genre transportiert seinen eigenen Kanon. Dem Leser wird dieser ebenso nähergebracht wie die Sprache der Liebe: "Das Wickelkind", "auf Zwitter-Art", "a la Dudelsack" - hinterher weiß man, was diese pittoresken Ausdrücke meinen. Diese sanfte, saftige Sprachdidaktik ist nicht der geringste der hier entwickelten Reize. NIKLAS BENDER
Markus Bernauer, Josefine Kitzbichler (Hrsg.): "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit". Literatur des Libertinismus in Deutschland.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 2 Bd., zus. 1208 S., Abb., geb. im Schuber, 128,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom schäumenden Becher der Wollust
Pionierarbeit zur Freizügigkeit im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts: Ein Prachtdoppelband sammelt Texte literarischer Libertinage.
Liebe und Erotik sind Kernthemen der Literatur, aber selten haben sie so große Sprengkraft entwickelt wie in der Aufklärung. In deren kontinentaleuropäischem Zentrum Frankreich gedeiht im achtzehnten Jahrhundert die libertine Literatur, die sexuellen Genuss mit aufklärerischer Schärfe amalgamiert. Klassiker wie "Thérèse philosophe" von Jean-Baptiste Boyer d'Argens attackieren nicht nur zarte Körperregionen, als moosiger Hügel, Grotte oder Tempel der Venus verbildlicht, mit martialischeren Gliedern, die Pfeilen, Lanzen oder Pfählen gleichen. Nein, sie greifen zudem die Sexualmoral und genereller das Menschenbild des Christentums an: Dem erlösungsbedürftigen Sünder stellen sie einen sinnlichen Naturmenschen gegenüber.
Die libertine Literatur in ihrer Verbindung von kultiviertem Genuss und scharfsinnigem Esprit wirkt urfranzösisch. Zweifellos hat sie links des Rheins ihre Glanzzeit gefeiert, mit Sade, dem "göttlichen Marquis", als Höhe- und Endpunkt. In der dortigen Literatur, ja in der Alltagskultur hat sie ein sichtbares Erbe hinterlassen; von Gustave Flauberts Briefwechsel über Guillaume Apollinaires Werke bis hin zu Theoretikern wie Georges Bataille lassen sich die Spuren leicht nachverfolgen. Dass es auch in Deutschland zumindest um 1800 nicht zu verachtende Werke teils bekannter, teils unbekannter oder anonymer Schriftsteller gab, macht nun eine prächtige und gelehrte Ausgabe erstmals nachvollziehbar.
Die zwei Bände von "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit - Literatur des Libertinismus in Deutschland" präsentieren auf mehr als tausend Seiten eine repräsentative Auswahl. Die Herausgeber Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler versuchen, unterschiedlichste Texte in sieben Abschnitte einzuteilen. Manche Gliederungspunkte liegen auf der Hand, wie die den Gattungen gewidmeten: "Romane, Bildungsgeschichten" oder "Bildgeschichten" bieten sich an, schließlich sind libertine Werke meist Erzähltexte, die zudem gern eine sexuelle Erziehung schildern und bebildern; auch "Gedichte" überraschen nicht, Liebe ist in der europäischen Lyrik das große Thema.
Eine deutsche Eigenheit führt jedoch gleich der erste Abschnitt ein, thematisch mit "Freiraum Antike" betitelt. Er trägt der Tatsache Rechnung, dass der deutsche Weg zur Sinnlichkeit über Griechenland und Rom führt. Christoph Martin Wieland erhält hier einen Ehrenplatz, den seine "Comischen Erzählungen" rechtfertigen: Sie erzählen die griechische Mythologie auf amüsant-prickelnde Weise neu. So werden die ehelichen Missverhältnisse im Haus von Juno und Jupiter berichtet: "Wer ihn für glüklich hielt, der sah die Dame nicht / Im Schlafgemach und hinter den Gardinen". Die Auseinandersetzungen kulminieren trotz Jupiters Schuldgeständnis (er sei ein "epicurisch Schwein") darin, dass Juno ihrem Gatten den süßen Ganymed entführt. Jupiter wird Zeuge der Liebesszene: "Nur wundert ihn, die ungemeine Gaben, / Die seine liebe Frau bey diesem Anlaß zeigt, / Noch nie an ihr entdekt zu haben."
Die Herausgeber gehen noch weiter: Sie sehen in Wilhelm Heinses Übersetzung von Petronius' "Satyrikon" das wichtigste Sotadicum deutscher Sprache und drucken die gut 150 Seiten vollständig ab. Das ist - bei aller Sprachmacht und Sinnesfreude - etwas viel des Guten. Ähnliches gilt für die dem Prominentesten erwiesene Ehre: Goethe ist mit den "Römischen Elegien" und den "Venezianischen Epigrammen" vertreten, beide durch die metrische Form der Antike verpflichtet; die Ersteren sind einschlägig bekannt. Bei den Epigrammen ist in der Tat aufschlussreich, wie Goethe sie überarbeitet und für die Veröffentlichung im "Musen-Almanach" beschnitten hat. Das wird dadurch sinnfällig, dass die Herausgeber Handschrift (1790) und Druckfassung (1795) nebeneinanderstellen: Man sieht die Schere am Werk, Selbstzensur und Zensur greifen ineinander. En passant finden sich radikale Texte: "Alle Weiber sind Waare mehr oder weniger kostet / Sie den begierigen Mann der sich zum Handel entschliest" (Epigramm 89). Allerdings werden hier sämtliche Epigramme geliefert, obwohl viele mit Libertinage nichts zu tun haben; das verwässert den Gehalt.
Auch die Abhandlung eines Franzosen wird aufgenommen: "Die Kunst die Wollust zu empfinden" (1751), von Julien Offray de La Mettrie. Der für seine Abhandlung über den "Homme Machine" bekannte Philosoph entwickelt hier die Vorstellung von Sinnesfreude als einem raffinierten Vergnügen: "die Wollust aber beschreibet er als den Geist und als die Quintessenz des Vergnügens, die Kunst dasselbe weißlich zu gebrauchen, es vermittelst der Vernunft zu schonen und vermittelst der Empfindung zu schmecken". Derartige Ausführungen entwerfen eine Stufenleiter der Sinnlichkeit, die viele Erzähltexte gliedert: Sex ist nur der Gipfel einer langen Reihe raffinierter Genüsse wie feiner Speisen, edler Getränke, geistreicher Reden, Musik und dergleichen mehr.
Die französische Präsenz rechtfertigt sich durch La Mettries Aufenthalt am Hofe Friedrichs II. Der Preußenkönig, der selbst unter den Autoren ist, bot Libertins Zuflucht, die sich in Frankreich unmöglich gemacht hatten, etwa Voltaire oder Boyer d'Argens; deren aufklärerische und libertine Ideen wollte er allerdings auf eine Elite beschränkt sehen, wie die Herausgeber betonen. Da kommt ein weiterer preußischer Abschnitt demokratischer daher: Er ist "Madame Schuwitz' Etablissement in der Friedrichstraße" gewidmet. In der Tat betrieb Charlotte Schuwitz ein europaweit bekanntes Freudenhaus und brachte es als Heldin diverser Werke (meist aus der Sparte Hurenbiographie) zu literarischer Berühmtheit. Sie tritt als Figur lockerer Moral auf: "Geld, Geld ist die Losung meiner Philosophie", gesteht sie, und: "Die Welt will betrogen sein, und es ist Weisheit, sie zu betrügen, wenn der Betrug angenehm ist." Dass er es ist, dafür sorgen exquisite Speisen, sprudelnde Getränke und ebensolche Damen. Demokratisch ist der Ort durch sein Publikum: "Ordensritter und Obristen, Geheimeräthe und Banquiers, Prediger und Consistorialräthe, Aerzte und Virtuosen, Schauspieler und Seiltänzer, Handwerksbursche und Edelleute, kurz alle Classen von Menschen, die der Adreßkalender nennt, oder nicht nennt, bunt durch einander, wie im Paradiese". Geschildert wird zwar das Etablissement von Madame ***, "getaufte Jüdin", bei der die Schuwitz lernt, ihr eigenes Haus wird es jedoch ähnlich halten.
Am Beispiel von Madame Schuwitz lernt der Leser diverse Gattungen und Handhabungen von Autorschaft kennen: Die Namen, die auf einer ihr gewidmeten "Apologie" oder gar einer "Standrede am Grab" prangen, sind Pseudonyme, der Verleger will ebenfalls nicht unbedingt erkannt werden; das "Leben der Madame Schuwitz von ihr selbst aufgesezt" ist 1792 in "Cythère" (dem Geburtsort der Venus) erschienen. Daran freut man sich sowie am Motiv der Flötenuhr, an Witz und Menschlichkeit der Heldin. Heikel hingegen ist die Schematisierung mancher Figuren - Judenfeindlichkeit findet sich in mehr als einem der Werke, einer der wenigen Punkte, zu denen man sich etwas mehr kommentierende Ausführungen gewünscht hätte.
Ansonsten sind die Bände philologisch vorzüglich gemacht und bibliophil gestaltet. Die Anmerkungen sind im rechten Grad informativ, es ist nur schade, dass sie komplett am Ende des zweiten Bandes stehen; die Lektüre des ersten Bandes wird so erschwert. Eine große Hilfestellung hingegen ist, dass die Herausgeber auch in der französischen Literatur zu Hause sind: Das ist nicht selbstverständlich, aber unumgänglich. Denn die französische Libertinage war (wenngleich als Erbin von Petronius und Pietro Aretino) Lektüre und Vorbild der deutschen Libertins und ist zudem weit besser erschlossen. Es gibt zwei Bände der Pléiade-Ausgabe zum Thema, einen preisgünstigen Ziegelstein der Reihe Bouquin - ganz zu schweigen von diversen Werkeditionen (Sade!) und Taschenbüchern. Das liegt daran, dass der "Enfer" (Hölle) genannte Bereich der Bibliothèque nationale de France quasi das gesamte Korpus enthielt. Es liegt jedoch auch an mutigen Verlegern und neugierigen Lesern sowie an einer Forschung, die sich auf schlüpfrige Pfade traut. Das haben Bernauer und Kitzbichler nun ebenfalls getan, mit ihrer Luxusausgabe, die unbedingt im Taschenbuch ergänzt werden müsste.
Die enthaltenen Werke mussten die Herausgeber mühselig aus Sammlungen zusammentragen, welche die Bücher vor der Zensur gerettet und es in Bibliotheken geschafft hatten. Die Auswahl enthält so schöne Klassiker der erotischen Literatur wie die "Denkwürdigkeiten des Herrn von H." (1787) oder "Ernst und Minette" (1791). Die zwei pikanten Reifeerzählungen berichten vom Erlernen der Sexualität - "iezt schäumte ihr Becher der Wollust und ich strömte Nektar hinein" -, das im ersten Fall in einer aristokratischen Ehe mit standesgemäßer Untreue, im zweiten in einer bürgerlichen Ehe erotisch erfüllter Zweisamkeit endet. "Priaps Normalschule" (1789) hingegen warnt: Ausgelebter jugendlicher Sexualdrang führt zu Abstieg, Krankheit oder gar Tod. Allerdings ist die Schilderung von Teenager-Lust so deftig, dass der pädagogische Nutzen entweder ein Feigenblatt oder überschaubar gewesen sein dürfte.
Die gezeigte Sexualität entspricht nicht immer (heutigen) Standardvorstellungen; es gibt Sexismus und Gewalt. Die Verhaltensregeln um 1800 erzwingen allerdings auch Simulation: Häufig muss die Frau überrascht werden, darf aus Gründen der Schicklichkeit oder der Verführung nicht einfach mitspielen. Rollentäusche sind dem heutigen Geschmack vermutlich näher: Männer wie "Eduard der Schöne" (1798) verkleiden sich als Frauen, um zu ihren wohlgehüteten Geliebten zu gelangen - und ziehen Lust daraus. Manchmal müssen sie selbst dienstbar sein, Herr von H. etwa sieht sich aus Gründen der Convenance gezwungen, eine begonnene Verführung abzuschließen: "Ich spielte den Galanten und entkleidete meine Donna ganz. Wahrlich der Anblik war so reizend eben nicht, ein langes hageres Knochengerüste vor sich zu sehen, an dem die starkbehaarten Lippen der Muschel die fleischigsten Theile waren." Er müht sich mehrmals daran ab: "Ich fühlte einige Tage die Anstrengung und hatte eigentlich kein Vergnügen genoßen", lautet die desillusionierte Moral eines Verführers in der Pflicht.
"Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit" illustriert aufs Trefflichste, was libertine Literatur will: Die Freizügigkeit der Sitten entspricht der Freiheit des Denkens, die Selbstbestimmung des aufgeklärten Erotikers gründet in seinem Verstandesgebrauch. Dieser führt ihn zur Kirchenkritik, Kleriker werden als lüsterne Heuchler entworfen, religiöse Sprache zweckentfremdet, "oft fand die Wollust ihr Grab, und oft ihre Auferstehung", heißt es in "Eduard der Schöne". Außerdem ist die Sexualität Teil eines materialistischen Kontinuums der Sinnesfreuden. Ein Denksystem ist damit nicht geschaffen, der Begriff "Libertinage" ist daher genauer als "Libertinismus".
Zentral ist die gern ironisch inszenierte Pädagogik. Der Libertin will erziehen: "Der Aeltern Neid will nicht, daß ihr den Ursprung wißet, / Wie jeder Mensch aus Lust zur Lust entsprießet." Die Werke zeigen - durchs Schlüsselloch! - Modelle und wollen selbst imitiert werden; Madame Schuwitz präsentiert ihren Lebensbericht "als ein heiliges Depot, zur Lehre und Nachahmung". Es ist konsequent, dass viele Libertins eine erotische Bibliothek haben: Das Genre transportiert seinen eigenen Kanon. Dem Leser wird dieser ebenso nähergebracht wie die Sprache der Liebe: "Das Wickelkind", "auf Zwitter-Art", "a la Dudelsack" - hinterher weiß man, was diese pittoresken Ausdrücke meinen. Diese sanfte, saftige Sprachdidaktik ist nicht der geringste der hier entwickelten Reize. NIKLAS BENDER
Markus Bernauer, Josefine Kitzbichler (Hrsg.): "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit". Literatur des Libertinismus in Deutschland.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 2 Bd., zus. 1208 S., Abb., geb. im Schuber, 128,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pionierarbeit zur Freizügigkeit im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts: Ein Prachtdoppelband sammelt Texte literarischer Libertinage.
Liebe und Erotik sind Kernthemen der Literatur, aber selten haben sie so große Sprengkraft entwickelt wie in der Aufklärung. In deren kontinentaleuropäischem Zentrum Frankreich gedeiht im achtzehnten Jahrhundert die libertine Literatur, die sexuellen Genuss mit aufklärerischer Schärfe amalgamiert. Klassiker wie "Thérèse philosophe" von Jean-Baptiste Boyer d'Argens attackieren nicht nur zarte Körperregionen, als moosiger Hügel, Grotte oder Tempel der Venus verbildlicht, mit martialischeren Gliedern, die Pfeilen, Lanzen oder Pfählen gleichen. Nein, sie greifen zudem die Sexualmoral und genereller das Menschenbild des Christentums an: Dem erlösungsbedürftigen Sünder stellen sie einen sinnlichen Naturmenschen gegenüber.
Die libertine Literatur in ihrer Verbindung von kultiviertem Genuss und scharfsinnigem Esprit wirkt urfranzösisch. Zweifellos hat sie links des Rheins ihre Glanzzeit gefeiert, mit Sade, dem "göttlichen Marquis", als Höhe- und Endpunkt. In der dortigen Literatur, ja in der Alltagskultur hat sie ein sichtbares Erbe hinterlassen; von Gustave Flauberts Briefwechsel über Guillaume Apollinaires Werke bis hin zu Theoretikern wie Georges Bataille lassen sich die Spuren leicht nachverfolgen. Dass es auch in Deutschland zumindest um 1800 nicht zu verachtende Werke teils bekannter, teils unbekannter oder anonymer Schriftsteller gab, macht nun eine prächtige und gelehrte Ausgabe erstmals nachvollziehbar.
Die zwei Bände von "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit - Literatur des Libertinismus in Deutschland" präsentieren auf mehr als tausend Seiten eine repräsentative Auswahl. Die Herausgeber Markus Bernauer und Josefine Kitzbichler versuchen, unterschiedlichste Texte in sieben Abschnitte einzuteilen. Manche Gliederungspunkte liegen auf der Hand, wie die den Gattungen gewidmeten: "Romane, Bildungsgeschichten" oder "Bildgeschichten" bieten sich an, schließlich sind libertine Werke meist Erzähltexte, die zudem gern eine sexuelle Erziehung schildern und bebildern; auch "Gedichte" überraschen nicht, Liebe ist in der europäischen Lyrik das große Thema.
Eine deutsche Eigenheit führt jedoch gleich der erste Abschnitt ein, thematisch mit "Freiraum Antike" betitelt. Er trägt der Tatsache Rechnung, dass der deutsche Weg zur Sinnlichkeit über Griechenland und Rom führt. Christoph Martin Wieland erhält hier einen Ehrenplatz, den seine "Comischen Erzählungen" rechtfertigen: Sie erzählen die griechische Mythologie auf amüsant-prickelnde Weise neu. So werden die ehelichen Missverhältnisse im Haus von Juno und Jupiter berichtet: "Wer ihn für glüklich hielt, der sah die Dame nicht / Im Schlafgemach und hinter den Gardinen". Die Auseinandersetzungen kulminieren trotz Jupiters Schuldgeständnis (er sei ein "epicurisch Schwein") darin, dass Juno ihrem Gatten den süßen Ganymed entführt. Jupiter wird Zeuge der Liebesszene: "Nur wundert ihn, die ungemeine Gaben, / Die seine liebe Frau bey diesem Anlaß zeigt, / Noch nie an ihr entdekt zu haben."
Die Herausgeber gehen noch weiter: Sie sehen in Wilhelm Heinses Übersetzung von Petronius' "Satyrikon" das wichtigste Sotadicum deutscher Sprache und drucken die gut 150 Seiten vollständig ab. Das ist - bei aller Sprachmacht und Sinnesfreude - etwas viel des Guten. Ähnliches gilt für die dem Prominentesten erwiesene Ehre: Goethe ist mit den "Römischen Elegien" und den "Venezianischen Epigrammen" vertreten, beide durch die metrische Form der Antike verpflichtet; die Ersteren sind einschlägig bekannt. Bei den Epigrammen ist in der Tat aufschlussreich, wie Goethe sie überarbeitet und für die Veröffentlichung im "Musen-Almanach" beschnitten hat. Das wird dadurch sinnfällig, dass die Herausgeber Handschrift (1790) und Druckfassung (1795) nebeneinanderstellen: Man sieht die Schere am Werk, Selbstzensur und Zensur greifen ineinander. En passant finden sich radikale Texte: "Alle Weiber sind Waare mehr oder weniger kostet / Sie den begierigen Mann der sich zum Handel entschliest" (Epigramm 89). Allerdings werden hier sämtliche Epigramme geliefert, obwohl viele mit Libertinage nichts zu tun haben; das verwässert den Gehalt.
Auch die Abhandlung eines Franzosen wird aufgenommen: "Die Kunst die Wollust zu empfinden" (1751), von Julien Offray de La Mettrie. Der für seine Abhandlung über den "Homme Machine" bekannte Philosoph entwickelt hier die Vorstellung von Sinnesfreude als einem raffinierten Vergnügen: "die Wollust aber beschreibet er als den Geist und als die Quintessenz des Vergnügens, die Kunst dasselbe weißlich zu gebrauchen, es vermittelst der Vernunft zu schonen und vermittelst der Empfindung zu schmecken". Derartige Ausführungen entwerfen eine Stufenleiter der Sinnlichkeit, die viele Erzähltexte gliedert: Sex ist nur der Gipfel einer langen Reihe raffinierter Genüsse wie feiner Speisen, edler Getränke, geistreicher Reden, Musik und dergleichen mehr.
Die französische Präsenz rechtfertigt sich durch La Mettries Aufenthalt am Hofe Friedrichs II. Der Preußenkönig, der selbst unter den Autoren ist, bot Libertins Zuflucht, die sich in Frankreich unmöglich gemacht hatten, etwa Voltaire oder Boyer d'Argens; deren aufklärerische und libertine Ideen wollte er allerdings auf eine Elite beschränkt sehen, wie die Herausgeber betonen. Da kommt ein weiterer preußischer Abschnitt demokratischer daher: Er ist "Madame Schuwitz' Etablissement in der Friedrichstraße" gewidmet. In der Tat betrieb Charlotte Schuwitz ein europaweit bekanntes Freudenhaus und brachte es als Heldin diverser Werke (meist aus der Sparte Hurenbiographie) zu literarischer Berühmtheit. Sie tritt als Figur lockerer Moral auf: "Geld, Geld ist die Losung meiner Philosophie", gesteht sie, und: "Die Welt will betrogen sein, und es ist Weisheit, sie zu betrügen, wenn der Betrug angenehm ist." Dass er es ist, dafür sorgen exquisite Speisen, sprudelnde Getränke und ebensolche Damen. Demokratisch ist der Ort durch sein Publikum: "Ordensritter und Obristen, Geheimeräthe und Banquiers, Prediger und Consistorialräthe, Aerzte und Virtuosen, Schauspieler und Seiltänzer, Handwerksbursche und Edelleute, kurz alle Classen von Menschen, die der Adreßkalender nennt, oder nicht nennt, bunt durch einander, wie im Paradiese". Geschildert wird zwar das Etablissement von Madame ***, "getaufte Jüdin", bei der die Schuwitz lernt, ihr eigenes Haus wird es jedoch ähnlich halten.
Am Beispiel von Madame Schuwitz lernt der Leser diverse Gattungen und Handhabungen von Autorschaft kennen: Die Namen, die auf einer ihr gewidmeten "Apologie" oder gar einer "Standrede am Grab" prangen, sind Pseudonyme, der Verleger will ebenfalls nicht unbedingt erkannt werden; das "Leben der Madame Schuwitz von ihr selbst aufgesezt" ist 1792 in "Cythère" (dem Geburtsort der Venus) erschienen. Daran freut man sich sowie am Motiv der Flötenuhr, an Witz und Menschlichkeit der Heldin. Heikel hingegen ist die Schematisierung mancher Figuren - Judenfeindlichkeit findet sich in mehr als einem der Werke, einer der wenigen Punkte, zu denen man sich etwas mehr kommentierende Ausführungen gewünscht hätte.
Ansonsten sind die Bände philologisch vorzüglich gemacht und bibliophil gestaltet. Die Anmerkungen sind im rechten Grad informativ, es ist nur schade, dass sie komplett am Ende des zweiten Bandes stehen; die Lektüre des ersten Bandes wird so erschwert. Eine große Hilfestellung hingegen ist, dass die Herausgeber auch in der französischen Literatur zu Hause sind: Das ist nicht selbstverständlich, aber unumgänglich. Denn die französische Libertinage war (wenngleich als Erbin von Petronius und Pietro Aretino) Lektüre und Vorbild der deutschen Libertins und ist zudem weit besser erschlossen. Es gibt zwei Bände der Pléiade-Ausgabe zum Thema, einen preisgünstigen Ziegelstein der Reihe Bouquin - ganz zu schweigen von diversen Werkeditionen (Sade!) und Taschenbüchern. Das liegt daran, dass der "Enfer" (Hölle) genannte Bereich der Bibliothèque nationale de France quasi das gesamte Korpus enthielt. Es liegt jedoch auch an mutigen Verlegern und neugierigen Lesern sowie an einer Forschung, die sich auf schlüpfrige Pfade traut. Das haben Bernauer und Kitzbichler nun ebenfalls getan, mit ihrer Luxusausgabe, die unbedingt im Taschenbuch ergänzt werden müsste.
Die enthaltenen Werke mussten die Herausgeber mühselig aus Sammlungen zusammentragen, welche die Bücher vor der Zensur gerettet und es in Bibliotheken geschafft hatten. Die Auswahl enthält so schöne Klassiker der erotischen Literatur wie die "Denkwürdigkeiten des Herrn von H." (1787) oder "Ernst und Minette" (1791). Die zwei pikanten Reifeerzählungen berichten vom Erlernen der Sexualität - "iezt schäumte ihr Becher der Wollust und ich strömte Nektar hinein" -, das im ersten Fall in einer aristokratischen Ehe mit standesgemäßer Untreue, im zweiten in einer bürgerlichen Ehe erotisch erfüllter Zweisamkeit endet. "Priaps Normalschule" (1789) hingegen warnt: Ausgelebter jugendlicher Sexualdrang führt zu Abstieg, Krankheit oder gar Tod. Allerdings ist die Schilderung von Teenager-Lust so deftig, dass der pädagogische Nutzen entweder ein Feigenblatt oder überschaubar gewesen sein dürfte.
Die gezeigte Sexualität entspricht nicht immer (heutigen) Standardvorstellungen; es gibt Sexismus und Gewalt. Die Verhaltensregeln um 1800 erzwingen allerdings auch Simulation: Häufig muss die Frau überrascht werden, darf aus Gründen der Schicklichkeit oder der Verführung nicht einfach mitspielen. Rollentäusche sind dem heutigen Geschmack vermutlich näher: Männer wie "Eduard der Schöne" (1798) verkleiden sich als Frauen, um zu ihren wohlgehüteten Geliebten zu gelangen - und ziehen Lust daraus. Manchmal müssen sie selbst dienstbar sein, Herr von H. etwa sieht sich aus Gründen der Convenance gezwungen, eine begonnene Verführung abzuschließen: "Ich spielte den Galanten und entkleidete meine Donna ganz. Wahrlich der Anblik war so reizend eben nicht, ein langes hageres Knochengerüste vor sich zu sehen, an dem die starkbehaarten Lippen der Muschel die fleischigsten Theile waren." Er müht sich mehrmals daran ab: "Ich fühlte einige Tage die Anstrengung und hatte eigentlich kein Vergnügen genoßen", lautet die desillusionierte Moral eines Verführers in der Pflicht.
"Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit" illustriert aufs Trefflichste, was libertine Literatur will: Die Freizügigkeit der Sitten entspricht der Freiheit des Denkens, die Selbstbestimmung des aufgeklärten Erotikers gründet in seinem Verstandesgebrauch. Dieser führt ihn zur Kirchenkritik, Kleriker werden als lüsterne Heuchler entworfen, religiöse Sprache zweckentfremdet, "oft fand die Wollust ihr Grab, und oft ihre Auferstehung", heißt es in "Eduard der Schöne". Außerdem ist die Sexualität Teil eines materialistischen Kontinuums der Sinnesfreuden. Ein Denksystem ist damit nicht geschaffen, der Begriff "Libertinage" ist daher genauer als "Libertinismus".
Zentral ist die gern ironisch inszenierte Pädagogik. Der Libertin will erziehen: "Der Aeltern Neid will nicht, daß ihr den Ursprung wißet, / Wie jeder Mensch aus Lust zur Lust entsprießet." Die Werke zeigen - durchs Schlüsselloch! - Modelle und wollen selbst imitiert werden; Madame Schuwitz präsentiert ihren Lebensbericht "als ein heiliges Depot, zur Lehre und Nachahmung". Es ist konsequent, dass viele Libertins eine erotische Bibliothek haben: Das Genre transportiert seinen eigenen Kanon. Dem Leser wird dieser ebenso nähergebracht wie die Sprache der Liebe: "Das Wickelkind", "auf Zwitter-Art", "a la Dudelsack" - hinterher weiß man, was diese pittoresken Ausdrücke meinen. Diese sanfte, saftige Sprachdidaktik ist nicht der geringste der hier entwickelten Reize. NIKLAS BENDER
Markus Bernauer, Josefine Kitzbichler (Hrsg.): "Freiheit, Gleichheit, Sinnlichkeit". Literatur des Libertinismus in Deutschland.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 2 Bd., zus. 1208 S., Abb., geb. im Schuber, 128,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main