Freiheit und Menschenwürde sind Leitbegriffe der Moderne. In ihnen bündeln sich nicht nur die Errungenschaften der neuzeitlichen Geschichte und die Grundlagen des gegenwärtigen Lebens, sondern auch die Erinnerung an die Probleme ihrer Durchsetzung sowie die Erfahrung ihrer Gefährdung und ihrer Grenzen. Der Protestantismus war sich der religiösen Dimension des Freiheitslebens immer bewusst. Dennoch hat er sich lange Zeit gegen gesellschaftliche und politische Freiheiten gewehrt, obwohl es gewichtige Entsprechungen zwischen der Christlichen Freiheit Martin Luthers und modernen Freiheitstheorien gibt. Die Autoren der Aufsätze in diesem Band analysieren in historischer und systematischer Perspektive die Beiträge des Protestantismus zur Interpretation der Begriffe Freiheit und Menschenwürde. Ideengeschichtliche Bezüge, institutionelle Umsetzungen, klassische Theoriekonstellationen, Transformationsgestalten und aktuelle Fragestellungen werden von Fachvertretern aus Theologie, Geschichtswissenschaft, Jurisprudenz und Philosophie kritisch diskutiert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2006Wert der Seelen
Der Protestantismus und die moderne Menschenwürde
Gibt es einen spezifisch protestantischen Beitrag zum Verständnis der Menschenwürde? Und wie kommt er in einer universalen Konzeption der Menschenwürde zu stehen? Unter dem Leitbegriff der „Freiheit” handelt ein Sammelband von den Möglichkeiten, aber auch den Schwierigkeiten dieser Aufgabe. Die Beiträge spannen den Bogen vom reformatorischen Freiheitsverständnis bis zur aktuellen Debatte um den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes.
Das Herzstück bilden die Texte der beiden theologischen Herausgeber. Arnulf von Scheliha macht darauf aufmerksam, dass heute Theologie und Kirche den Begriff der Menschenwürde mit stark normativem Anspruch in Gebrauch nehmen, damit aber in einem merkwürdigen Missverhältnis zu den Vorbehalten stehen, die der Protestantismus der letzten zweihundert Jahre gegenüber dem modernen Verständnis von Freiheit und Menschenwürde pflegte. Er spricht von einer „historischen Lücke”, die zwischen der kantischen Freiheitsphilosophie und der gegenwärtigen Konjunktur der Menschenwürde im Protestantismus besteht.
Glauben für die Freiheit
Zur Überbrückung dieser Lücke sieht Scheliha vor allem die Tradition des liberalen Protestantismus geeignet. Dieser bestimmte die christliche Freiheit als sittlichen Wert der Persönlichkeit, wofür Adolf von Harnack die Formel vom „unendlichen Wert der Menschenseele” prägte. Das persönliche Gottesverhältnis ist der Garant der Freiheit, die so auch kontraempirisch gesichert werden kann. Der Begriff christlicher Freiheit bleibt durch diese religiöse Fundierung in einem Konkurrenzverhältnis zum Begriff der Menschenwürde in seiner modernen philosophischen Begründung.
Konkurrenz bedeutet hier aber nicht feindlichen Widerspruch, sondern vielmehr akzeptierten Pluralismus: Der Begriff der Menschenwürde soll um seiner rechtsstaatlichen Geltung willen davor geschützt werden, als Verwirklichung einer bestimmten Religion, und sei es des Protestantismus, zu firmieren.
Dies ist eine wichtige Einsicht, die aber wegen der in ihr enthaltenen Selbstbegrenzung der religiösen Anspruchshaltung auch im Protestantismus selbst nicht überall auf Gegenliebe stößt. In der Tat nämlich ist in dieser Haltung zugleich die Religion im Lichte des Freiheitsbegriffs überdacht, wie Jörg Dierken zeigt. In der Debatte von Luther bis Kant sieht er eine sich vertiefende Thematisierung der Herkunftsbedingungen von subjektiver Freiheit. Zugleich entfaltet sich dabei ein Verständnis des religiösen Glaubens, nach dem dieser die Bedingungen und Implikationen der Freiheit des menschlichen Subjekts symbolisiert.
Kraft seiner Symbole bleibt der protestantische Glaube Anwalt des Individuums und hat gerade darin, so lässt sich die Stoßrichtung dieses spannenden Bandes zusammenfassen, zur Debatte um die Menschenwürde einen elementaren Beitrag zu leisten.
FRIEDEMANN VOIGT
JÖRG DIERKEN, ARNULF VON SCHELIHA: Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus. Mohr Siebeck, Tübingen 2005. 337 Seiten, 59 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Der Protestantismus und die moderne Menschenwürde
Gibt es einen spezifisch protestantischen Beitrag zum Verständnis der Menschenwürde? Und wie kommt er in einer universalen Konzeption der Menschenwürde zu stehen? Unter dem Leitbegriff der „Freiheit” handelt ein Sammelband von den Möglichkeiten, aber auch den Schwierigkeiten dieser Aufgabe. Die Beiträge spannen den Bogen vom reformatorischen Freiheitsverständnis bis zur aktuellen Debatte um den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes.
Das Herzstück bilden die Texte der beiden theologischen Herausgeber. Arnulf von Scheliha macht darauf aufmerksam, dass heute Theologie und Kirche den Begriff der Menschenwürde mit stark normativem Anspruch in Gebrauch nehmen, damit aber in einem merkwürdigen Missverhältnis zu den Vorbehalten stehen, die der Protestantismus der letzten zweihundert Jahre gegenüber dem modernen Verständnis von Freiheit und Menschenwürde pflegte. Er spricht von einer „historischen Lücke”, die zwischen der kantischen Freiheitsphilosophie und der gegenwärtigen Konjunktur der Menschenwürde im Protestantismus besteht.
Glauben für die Freiheit
Zur Überbrückung dieser Lücke sieht Scheliha vor allem die Tradition des liberalen Protestantismus geeignet. Dieser bestimmte die christliche Freiheit als sittlichen Wert der Persönlichkeit, wofür Adolf von Harnack die Formel vom „unendlichen Wert der Menschenseele” prägte. Das persönliche Gottesverhältnis ist der Garant der Freiheit, die so auch kontraempirisch gesichert werden kann. Der Begriff christlicher Freiheit bleibt durch diese religiöse Fundierung in einem Konkurrenzverhältnis zum Begriff der Menschenwürde in seiner modernen philosophischen Begründung.
Konkurrenz bedeutet hier aber nicht feindlichen Widerspruch, sondern vielmehr akzeptierten Pluralismus: Der Begriff der Menschenwürde soll um seiner rechtsstaatlichen Geltung willen davor geschützt werden, als Verwirklichung einer bestimmten Religion, und sei es des Protestantismus, zu firmieren.
Dies ist eine wichtige Einsicht, die aber wegen der in ihr enthaltenen Selbstbegrenzung der religiösen Anspruchshaltung auch im Protestantismus selbst nicht überall auf Gegenliebe stößt. In der Tat nämlich ist in dieser Haltung zugleich die Religion im Lichte des Freiheitsbegriffs überdacht, wie Jörg Dierken zeigt. In der Debatte von Luther bis Kant sieht er eine sich vertiefende Thematisierung der Herkunftsbedingungen von subjektiver Freiheit. Zugleich entfaltet sich dabei ein Verständnis des religiösen Glaubens, nach dem dieser die Bedingungen und Implikationen der Freiheit des menschlichen Subjekts symbolisiert.
Kraft seiner Symbole bleibt der protestantische Glaube Anwalt des Individuums und hat gerade darin, so lässt sich die Stoßrichtung dieses spannenden Bandes zusammenfassen, zur Debatte um die Menschenwürde einen elementaren Beitrag zu leisten.
FRIEDEMANN VOIGT
JÖRG DIERKEN, ARNULF VON SCHELIHA: Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus. Mohr Siebeck, Tübingen 2005. 337 Seiten, 59 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH