Nach dem Welterfolg "Die Korrekturen" nun der neue große Roman von Jonathan Franzen: über Liebe und Betrug.
Patty und Walter Berglund - Vorzeigeeltern und Umweltpioniere, fast schon ideale Nachbarn in ihrer selbst renovierten viktorianischen Villa in St. Paul - geben plötzlich Rätsel auf: Ihr halbwüchsiger Sohn zieht zur proletenhaften republikanischen Familie nebenan, Walter lässt sich zum Schutz einer einzigen Vogelart auf einen zwielichtigen Pakt mit der Kohleindustrie ein, und Patty, Exsportlerin und Eins-a-Hausfrau, entpuppt sich als wahrlich sonderbar. Hat Walters bester Freund, ein Rockmusiker, damit zu tun? Auf einmal lebt Patty ihre kühnsten Träume, führt sie ein Leben ohne Selbstbetrug.
In diesem Roman einer Familie, der zugleich ein großes Epos der letzten dreißig Jahre amerikanischer Geschichte ist, erzählt Jonathan Franzen von Freiheit - dem Lebensnerv der westlichen Kulturen - und auch dem Gegenteil von ihr, zeigt die tragikomischen Verwerfungen zeitgenössischer Liebe und Ehe, Freundschaft und Sexualität. «Freiheit» ist ein bedeutsames Buch über unser Leben in einer immer unübersichtlicher und fragiler werdenden Welt.
Patty und Walter Berglund - Vorzeigeeltern und Umweltpioniere, fast schon ideale Nachbarn in ihrer selbst renovierten viktorianischen Villa in St. Paul - geben plötzlich Rätsel auf: Ihr halbwüchsiger Sohn zieht zur proletenhaften republikanischen Familie nebenan, Walter lässt sich zum Schutz einer einzigen Vogelart auf einen zwielichtigen Pakt mit der Kohleindustrie ein, und Patty, Exsportlerin und Eins-a-Hausfrau, entpuppt sich als wahrlich sonderbar. Hat Walters bester Freund, ein Rockmusiker, damit zu tun? Auf einmal lebt Patty ihre kühnsten Träume, führt sie ein Leben ohne Selbstbetrug.
In diesem Roman einer Familie, der zugleich ein großes Epos der letzten dreißig Jahre amerikanischer Geschichte ist, erzählt Jonathan Franzen von Freiheit - dem Lebensnerv der westlichen Kulturen - und auch dem Gegenteil von ihr, zeigt die tragikomischen Verwerfungen zeitgenössischer Liebe und Ehe, Freundschaft und Sexualität. «Freiheit» ist ein bedeutsames Buch über unser Leben in einer immer unübersichtlicher und fragiler werdenden Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2010Deutschstunde: Jonathan Franzen liest im Schauspiel Frankfurt
Seit er älter geworden ist und weniger Angst davor hat, Fehler zu machen, spricht Jonathan Franzen besser Deutsch als früher. Als Student in Berlin habe er aus lauter Perfektionismus lieber geschwiegen, als ein Gespräch mit anderen Menschen und mögliche sprachliche Schnitzer zu riskieren, sagte der Schriftsteller im Schauspiel Frankfurt. Dort las er am Freitagabend vor ausverkauftem Haus aus seinem neuen Roman "Freiheit". Während seines Aufenthaltes in Berlin habe er monatelang allein auf seinem Zimmer gehockt und an seinem ersten Roman geschrieben. Was ihm in dieser Zeit an deutscher Literatur in die Hände gefallen sei, habe ihn - von Rilke über Mann und Kafka bis zu Döblin - verwandelt. In Frankfurt schien Franzen nun sein eigenes Buch aus einem englischen in ein deutsches zu verwandeln, ganz allein mit seinem Publikum und einem ihm vertrauten Text, dessen plötzlich fremdem Sprachfluss er so natürlich folgte, als tue er seit Wochen nichts anderes. Trotz mehrfach eingestandener Buchmessenmüdigkeit floh Franzen nur von Zeit zu Zeit ins Englische, kämpfte sich aber immer wieder in die selbstgewählte Konversationssprache des Abends zurück. Die Schuld daran gab er der kulturellen Prägung in der amerikanischen Heimat und seinen noch immer hohen Ansprüchen an sich selbst. "Ich denke wie ein Protestant an die Arbeit, ich komme nach Deutschland, um hier zu arbeiten." Es scheine ihm eben komisch, als Schriftsteller auf Besuch in einem anderen Land stumm eine halbe Stunde dem Vortrag eigener Texte zu lauschen. Anders verhielt es sich in Frankfurt, wo Franzen mitten im Vortrag der bei Rowohlt erschienenen deutschen Fassung seines Buches voller Freude das entdeckte, was er "ein Fehlerchen" nannte. Prompt war ein Stift gezückt und der Schnitzer eingekreist. Sprachliche Freiheit sollte nicht überhand nehmen, da sind Korrekturen manchmal das einzig Richtige. (balk.)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seit er älter geworden ist und weniger Angst davor hat, Fehler zu machen, spricht Jonathan Franzen besser Deutsch als früher. Als Student in Berlin habe er aus lauter Perfektionismus lieber geschwiegen, als ein Gespräch mit anderen Menschen und mögliche sprachliche Schnitzer zu riskieren, sagte der Schriftsteller im Schauspiel Frankfurt. Dort las er am Freitagabend vor ausverkauftem Haus aus seinem neuen Roman "Freiheit". Während seines Aufenthaltes in Berlin habe er monatelang allein auf seinem Zimmer gehockt und an seinem ersten Roman geschrieben. Was ihm in dieser Zeit an deutscher Literatur in die Hände gefallen sei, habe ihn - von Rilke über Mann und Kafka bis zu Döblin - verwandelt. In Frankfurt schien Franzen nun sein eigenes Buch aus einem englischen in ein deutsches zu verwandeln, ganz allein mit seinem Publikum und einem ihm vertrauten Text, dessen plötzlich fremdem Sprachfluss er so natürlich folgte, als tue er seit Wochen nichts anderes. Trotz mehrfach eingestandener Buchmessenmüdigkeit floh Franzen nur von Zeit zu Zeit ins Englische, kämpfte sich aber immer wieder in die selbstgewählte Konversationssprache des Abends zurück. Die Schuld daran gab er der kulturellen Prägung in der amerikanischen Heimat und seinen noch immer hohen Ansprüchen an sich selbst. "Ich denke wie ein Protestant an die Arbeit, ich komme nach Deutschland, um hier zu arbeiten." Es scheine ihm eben komisch, als Schriftsteller auf Besuch in einem anderen Land stumm eine halbe Stunde dem Vortrag eigener Texte zu lauschen. Anders verhielt es sich in Frankfurt, wo Franzen mitten im Vortrag der bei Rowohlt erschienenen deutschen Fassung seines Buches voller Freude das entdeckte, was er "ein Fehlerchen" nannte. Prompt war ein Stift gezückt und der Schnitzer eingekreist. Sprachliche Freiheit sollte nicht überhand nehmen, da sind Korrekturen manchmal das einzig Richtige. (balk.)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2010Mustermann, geh’ du voran
Ist das ein Roman, oder ist das schon angewandte Soziologie? Jonathan Franzens „Freiheit“, jetzt in den Buchhandlungen, rettet die amerikanische Familie
Was ist die härteste Herausforderung für den Familienroman? Nicht, dass eine Ehe zugrunde geht, der Stammsitz der Familie aufgegeben werden muss und die miteinander zerstrittenen Kinder sich in Spiralen des Unglücks verfangen. Davon kann das leidgeprüfte Genre gut leben. Die härteste Herausforderung eines Familienromans ist, wenn seine Figuren beschließen, sich nicht mehr fortzupflanzen, keine Familien mehr zu gründen, also den Stoff zu vernichten, von dem er lebt. Eben dies ist die Obsession des Vogelschützers Walter Berglund in Jonathan Franzens neuem Roman „Freiheit“.
Schon als Jugendlicher hat er die Berichte des Club of Rome gelesen, als Anwalt von Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz hat er Karriere gemacht, durch eine Affäre mit der Kohleindustrie an Ansehen verloren, nun will er dem Erzübel, das den Planeten bedroht, der energiekonsumierenden, landschaftszersiedelnden, sich rücksichtslos ausbreitenden Gattung Mensch mit einer Anti-Zeugungs-Kampagne entgegentreten. Es versteht sich, dass der Autor eines Familienromans seiner Figur dabei nicht einfach zusehen kann. Er muss ihr ins Handwerk pfuschen. Und das tut er auch. Aber dazu später mehr.
Als Jonathan Franzen im Herbst 2001 seinen Roman „Die Korrekturen“ veröffentlichte und rasch zu einem Star der amerikanischen Literaturszene aufstieg, war darin die Vaterfigur ein Eisenbahningenieur. Er versank in seiner Alzheimer-Erkrankung, aber er war eine Figur der Erinnerung an die räumliche Selbsterschließung Amerikas im 19. Jahrhundert. Jetzt, fast ein Jahrzehnt nach den „Korrekturen“, legt Franzen dem Publikum wieder einen Roman vor, in dessen Mittelpunkt die Geschichte einer Familie steht. Und er hat ihm einen Titel gegeben, der eine Verfassungsnorm zitiert und keinen Zweifel daran lässt, dass hier zugleich die politische Geschichte der Nation erzählt werden soll.
Kurz vor den Terroranschlägen des 11. September waren die „Korrekturen“ erschienen. Es folgte ein Jahrzehnt, in dem die Neocons die radikale Freiheit des Marktes propagierten, und im Irak-Krieg die Operation „Enduring Freedom“ aus der Taufe gehoben wurde – und in dem das liberale Amerika in eine tiefe Krise geriet. Jonathan Franzen hat diese zeithistorische Konstellation tief in seinen Roman eingelassen. Er erzählt die Geschichte des drohenden Selbstverlusts einer liberalen Familie in der Bush-Ära.
Walter Berglund entstammt väterlicherseits einer skandinavischen Einwandererfamilie, die es nicht recht zu etwas gebracht hat, und mütterlicherseits dem Kulturmilieu der Twin Cities St. Paul und Minneapolis. Er wird aus Opposition zu seinem misanthropischen Vater zu einem Ausbund an Fürsorge im Umgang mit Mensch und Natur und schafft es trotz seiner Schüchternheit, Patty zu erobern, die Tochter eines jüdischen Anwalts aus New York, dessen Frau eine Karriere bei den Demokraten macht. Auch Patty steht in Opposition zu ihrer Herkunftsfamilie, verweigert die Bildungs- und Kunstansprüche ihrer Eltern und Geschwister und lebt als Star im College-Basketballteam vom Geist unerbittlicher Konkurrenz.
Jonathan Franzen hat schon in den „Korrekturen“ den Familienroman zum Instrument der Zeitdiagnostik gemacht und den Erzähler zu einem Soziologen. Hier, in „Freedom“, hat er das Bündnis von Roman und Soziologie noch enger geknüpft. Schon die Exposition, die Walter und Patty inmitten ihrer Nachbarn im Mittleren Westen zeigt, ist eine mustergültige Milieustudie, in der jede Lebensgewohnheit und jede Geschmacksrichtung eine Geschichte erzählen.
Walter Berglund ist in Hibbing aufgewachsen, wie Bob Dylan. Aber dessen Schatten im Roman ist sein Freund Richard Katz, in dem die alte Dreieinigkeit von Sex und Drugs und Rock’n’ Roll in Gestalt roher Punk-Musik wiederkehrt. Richard ist „independent“, ins Scheitern verliebt, unwiderstehlich für Frauen, und nur vom Erfolg bedroht – und der kommt unweigerlich, als Country-Klänge in seiner Musik auftauchen. Je erfolgreicher er wird, desto lässiger gelingt ihm in Interviews die Theorie, dass Rockmusik nie subversiv, dass sie immer schon – auch bei Dylan – Schmieröl des Kapitalismus und Konsumismus war.
Walter, Patty und Richard – das ist das Dreieck, in dem Jonathan Franzen seine Coverversion der alten Geschichte ansiedelt, in der eine Frau ihren Mann mit desen bestem Freund betrügt. Die alte Geschichte will, dass die sexuelle Freiheit die Institution der Ehe aufsprengt. Das aber ist hier nicht das letzte Wort. Denn der Soziologe, der hier die Unglücksbilanz seiner Figuren zieht, hat die politische Geschichte im Sinn, auch wenn er von der Sexualität seiner Figuren erzählt. Er weiß, dass zu den Klischeefiguren der amerikanischen Kultur der bigotte Reaktionär zählt, der jede Abweichung vom Pfad der Tugend geißelt und heimlich ein Leben des Lasters führt.
Mit offenkundiger Lust an der Umkehrung hat Franzen an den Beginn seines Romans die Geschichte einer Bigotterie im liberal-demokratischen Milieu gestellt: Patty wurde bei einer Collegeparty Opfer einer Vergewaltigung, und ihre Eltern haben das vertuscht, weil der Täter der Sohn eines Parteifreundes war. Damit ist ein Grundmotiv des gesamten Romans angeschlagen: das Verhältnis des liberalen Amerika zur Gewalt. Denn der erzählende Soziologe hat den Verdacht, dass, als nach dem 11. September 2001 die Stunde der Härte schlägt, nicht nur die Republikaner aufblühen, sondern zugleich die Liberalen einer Versuchung gegenüberstehen, der sie nur halb widerstrebend erliegen.
Nicht aus dem Überschwang der Gefühle, sondern aus der Depression ist in diesem Roman die Dreiecksgeschichte zwischen dem netten Nichtraucher und Antialkoholiker Walter, seiner unglücklichen Patty und dem Rockmusiker geboren. In einer auf Therapeutenrat verfassten Autobiographie enthüllt Patty die Sehnsucht nach „harter“ Sexualität als den Dämon ihrer Ehe.
In der Generation der Kinder wird diese Sehnsucht zur Obsession. Joey, der Sohn der Berglunds, flieht vor dem Zaubermittel aller liberalen Konfliktlösung, der Kommunikation, in die ihn Patty als seinen Vertrauten einspinnt wie in einen engen Kokon. Er läuft schon als Jugendlicher über zu der Familie seiner frühreifen Freundin, in der ein proletarischer Republikaner das Sagen hat, und gerät auf dem College über seinen jüdischen Freund Jonathan in die Welt der neokonservativen Thinktanks. Und da Jonathan Franzen seine Figuren wie ein Schachspieler durch den Roman bewegt, begegnet ihm dort in Gestalt von dessen Schwester Jenna die ultimative Verführung.
Denn zwar beginnt diese Familiengeschichte in den späten siebziger Jahren und reicht, politisch gesehen, von Reagan bis zur Wahl Obamas. Aber ihr Hauptschauplatz ist das Amerika von George W. Bush, dem Sohn. Man kann hier nicht Jenna heißen, ohne an die für ihre Alkohol- und Partyeskapaden berühmte Tochter des Präsidenten zu erinnern. Jenna, mit einem aufstrebenden Broker von Goldman Sachs liiert, ist der ideale Sparringspartner für das Projekt des entlaufenen Sohnes der Liberalen, „hart zu werden“. Denn dies ist ein sowohl sexuelles wie ökonomisches Projekt: „Jenna erregte ihn so, wie große Geldsummen, wie der köstliche Verzicht auf soziale Verantwortung und das Bekenntnis zu exzessiver Ressourcenverschwendung es taten. Er wusste sehr wohl, dass Jenna hart drauf war. Und erregend war dabei die Überlegung, ob er selbst hart genug werden konnte, um sie zu kriegen.“
Während Jonathan Franzen virtuos Joey Berglund in ökonomische Projekte verstrickt, bei denen durch die Lieferung schrottreifer Lastwagen an die amerikanische Armee im Irak Steuergelder abgezockt werden, erlebt der Vater, Walter Berglund, seinen Sündenfall als nützlicher Idiot eines „guten Texaners“. Der ist – wie der Autor Jonathan Franzen – Liebhaber der Vogelwelt und hat die glorreiche Idee, Naturschutz und Naturausbeutung elegant zu verbinden. Walter Berglund, zum Helden einer Satire geschrumpft, wird Geschäftsführer einer Stiftung zur Rettung des Pappelwaldsängers. Er organisiert die Errichtung eines Reservates in West Virginia, in dem zunächst der landschaftszerstörende Kohleabbau durch Gipfelsprengung praktiziert und sodann durch „Renaturierung“ dem Vogel eine dauerhafte Heimat gesichert werden soll.
Mit Walter Berglunds Assistentin Lalitha, die aus einer westbengalischen Familie stammt, kommt die Figur ins Spiel, die am besten geeignet wäre, die Familie Berglund endgültig zu sprengen. Denn sie könnte, nachdem der nette Walter von der Untreue seiner Patty erfahren und sie verstoßen hat, deren Stelle einnehmen. Aber das darf sie nicht. Denn während Walter einem heimlichen Kinderwunsch anhängt, ist sie die kompromisslose Hardlinerin des Projekts der Weltrettung durch Fortpflanzungshemmung. So wird sie zur Feindin des Autors. Er entledigt sich ihrer, indem er zunächst ihren riskanten Fahrstil ins Spiel bringt und sie dann, gut motiviert, einem tödlichen Autounfall überantwortet. Er kann nicht anders, denn er will am Ende, nachdem sie durch alle Höhen und vor allem Tiefen gegangen ist, die weiße, liberale Mittelstandsfamilie doch noch einmal retten.
Darum lässt er den Sohn Joey die Brühe der schmutzigen Dollars des Irak-Abenteuers nur durchwaten, um ihn dann doch zu läutern und einen Volvo fahren zu lassen, wie ihn schon zu Beginn der Vater fuhr. Und er lässt ihn aus den eigenen Fäkalien seinen Ehering hervorholen, den er bei dem missglückten Jenna-Abenteuer verschluckt hat. Und weil die junge, exotische Lalitha tot ist, der gegenüber Walter gelegentlich das Gefühl hatte, „romantischen Imperialismus“ zu praktizieren, können am Ende, nach Jahren des Schweigens, auch die Eltern wieder zueinander – und zu Rocker Richard – finden.
Um das einst einsame Haus am namenlosen See, das Erbstück Walters, in dem Pattys Ehebruch stattfand, ist derweil durch die billigen Immobilienkredite eine Siedlung entstanden, gegen deren Katzen Walter die Waldvögel erfolglos verteidigt. Man weiß nicht recht, ob es ein mildes oder ein zynisches Licht ist, in das der Roman dieses Haus in den letzten Sätzen taucht. Noch einmal entsteht nun ein Vogelreservat. Das Haus wird entkernt und zu einem Zufluchtsort für Eulen, Schwalben und andere Vogelarten. Dieses Reservat aber ist nach Lalitha benannt, der asiatischen Einwanderin und Feindin des Familienromans. Vielleicht ist dieses Buch darum schon jetzt ein so großer Erfolg in Amerika. Es ist nicht nur ein zeithistorisches Panorama der Bush-Ära. Es ist auch ein großes Trost- und Hoffnungsbuch des zerzausten, erschöpften, an sich selbst irre gewordenen amerikanischen Liberalismus. LOTHAR MÜLLER
JONATHAN FRANZEN: Freiheit. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 736 Seiten, 24,95 Euro.
Wer subversiv sein will, für
den ist sein Erfolg eine Bedrohung
Wenn die Not groß ist, wird
der Roman zum Schutzreservat
Erzähler als Gesellschaftsforscher: Jonathan Franzen. Foto: Julia Baier, Laif
Bewahrt den Pappelwaldsänger! Einer der Protagonisten des Buches ist, wie sein Autor, Vogelfreund und kämpft um ein Reservat. Abb.: Mauritius Images
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ist das ein Roman, oder ist das schon angewandte Soziologie? Jonathan Franzens „Freiheit“, jetzt in den Buchhandlungen, rettet die amerikanische Familie
Was ist die härteste Herausforderung für den Familienroman? Nicht, dass eine Ehe zugrunde geht, der Stammsitz der Familie aufgegeben werden muss und die miteinander zerstrittenen Kinder sich in Spiralen des Unglücks verfangen. Davon kann das leidgeprüfte Genre gut leben. Die härteste Herausforderung eines Familienromans ist, wenn seine Figuren beschließen, sich nicht mehr fortzupflanzen, keine Familien mehr zu gründen, also den Stoff zu vernichten, von dem er lebt. Eben dies ist die Obsession des Vogelschützers Walter Berglund in Jonathan Franzens neuem Roman „Freiheit“.
Schon als Jugendlicher hat er die Berichte des Club of Rome gelesen, als Anwalt von Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz hat er Karriere gemacht, durch eine Affäre mit der Kohleindustrie an Ansehen verloren, nun will er dem Erzübel, das den Planeten bedroht, der energiekonsumierenden, landschaftszersiedelnden, sich rücksichtslos ausbreitenden Gattung Mensch mit einer Anti-Zeugungs-Kampagne entgegentreten. Es versteht sich, dass der Autor eines Familienromans seiner Figur dabei nicht einfach zusehen kann. Er muss ihr ins Handwerk pfuschen. Und das tut er auch. Aber dazu später mehr.
Als Jonathan Franzen im Herbst 2001 seinen Roman „Die Korrekturen“ veröffentlichte und rasch zu einem Star der amerikanischen Literaturszene aufstieg, war darin die Vaterfigur ein Eisenbahningenieur. Er versank in seiner Alzheimer-Erkrankung, aber er war eine Figur der Erinnerung an die räumliche Selbsterschließung Amerikas im 19. Jahrhundert. Jetzt, fast ein Jahrzehnt nach den „Korrekturen“, legt Franzen dem Publikum wieder einen Roman vor, in dessen Mittelpunkt die Geschichte einer Familie steht. Und er hat ihm einen Titel gegeben, der eine Verfassungsnorm zitiert und keinen Zweifel daran lässt, dass hier zugleich die politische Geschichte der Nation erzählt werden soll.
Kurz vor den Terroranschlägen des 11. September waren die „Korrekturen“ erschienen. Es folgte ein Jahrzehnt, in dem die Neocons die radikale Freiheit des Marktes propagierten, und im Irak-Krieg die Operation „Enduring Freedom“ aus der Taufe gehoben wurde – und in dem das liberale Amerika in eine tiefe Krise geriet. Jonathan Franzen hat diese zeithistorische Konstellation tief in seinen Roman eingelassen. Er erzählt die Geschichte des drohenden Selbstverlusts einer liberalen Familie in der Bush-Ära.
Walter Berglund entstammt väterlicherseits einer skandinavischen Einwandererfamilie, die es nicht recht zu etwas gebracht hat, und mütterlicherseits dem Kulturmilieu der Twin Cities St. Paul und Minneapolis. Er wird aus Opposition zu seinem misanthropischen Vater zu einem Ausbund an Fürsorge im Umgang mit Mensch und Natur und schafft es trotz seiner Schüchternheit, Patty zu erobern, die Tochter eines jüdischen Anwalts aus New York, dessen Frau eine Karriere bei den Demokraten macht. Auch Patty steht in Opposition zu ihrer Herkunftsfamilie, verweigert die Bildungs- und Kunstansprüche ihrer Eltern und Geschwister und lebt als Star im College-Basketballteam vom Geist unerbittlicher Konkurrenz.
Jonathan Franzen hat schon in den „Korrekturen“ den Familienroman zum Instrument der Zeitdiagnostik gemacht und den Erzähler zu einem Soziologen. Hier, in „Freedom“, hat er das Bündnis von Roman und Soziologie noch enger geknüpft. Schon die Exposition, die Walter und Patty inmitten ihrer Nachbarn im Mittleren Westen zeigt, ist eine mustergültige Milieustudie, in der jede Lebensgewohnheit und jede Geschmacksrichtung eine Geschichte erzählen.
Walter Berglund ist in Hibbing aufgewachsen, wie Bob Dylan. Aber dessen Schatten im Roman ist sein Freund Richard Katz, in dem die alte Dreieinigkeit von Sex und Drugs und Rock’n’ Roll in Gestalt roher Punk-Musik wiederkehrt. Richard ist „independent“, ins Scheitern verliebt, unwiderstehlich für Frauen, und nur vom Erfolg bedroht – und der kommt unweigerlich, als Country-Klänge in seiner Musik auftauchen. Je erfolgreicher er wird, desto lässiger gelingt ihm in Interviews die Theorie, dass Rockmusik nie subversiv, dass sie immer schon – auch bei Dylan – Schmieröl des Kapitalismus und Konsumismus war.
Walter, Patty und Richard – das ist das Dreieck, in dem Jonathan Franzen seine Coverversion der alten Geschichte ansiedelt, in der eine Frau ihren Mann mit desen bestem Freund betrügt. Die alte Geschichte will, dass die sexuelle Freiheit die Institution der Ehe aufsprengt. Das aber ist hier nicht das letzte Wort. Denn der Soziologe, der hier die Unglücksbilanz seiner Figuren zieht, hat die politische Geschichte im Sinn, auch wenn er von der Sexualität seiner Figuren erzählt. Er weiß, dass zu den Klischeefiguren der amerikanischen Kultur der bigotte Reaktionär zählt, der jede Abweichung vom Pfad der Tugend geißelt und heimlich ein Leben des Lasters führt.
Mit offenkundiger Lust an der Umkehrung hat Franzen an den Beginn seines Romans die Geschichte einer Bigotterie im liberal-demokratischen Milieu gestellt: Patty wurde bei einer Collegeparty Opfer einer Vergewaltigung, und ihre Eltern haben das vertuscht, weil der Täter der Sohn eines Parteifreundes war. Damit ist ein Grundmotiv des gesamten Romans angeschlagen: das Verhältnis des liberalen Amerika zur Gewalt. Denn der erzählende Soziologe hat den Verdacht, dass, als nach dem 11. September 2001 die Stunde der Härte schlägt, nicht nur die Republikaner aufblühen, sondern zugleich die Liberalen einer Versuchung gegenüberstehen, der sie nur halb widerstrebend erliegen.
Nicht aus dem Überschwang der Gefühle, sondern aus der Depression ist in diesem Roman die Dreiecksgeschichte zwischen dem netten Nichtraucher und Antialkoholiker Walter, seiner unglücklichen Patty und dem Rockmusiker geboren. In einer auf Therapeutenrat verfassten Autobiographie enthüllt Patty die Sehnsucht nach „harter“ Sexualität als den Dämon ihrer Ehe.
In der Generation der Kinder wird diese Sehnsucht zur Obsession. Joey, der Sohn der Berglunds, flieht vor dem Zaubermittel aller liberalen Konfliktlösung, der Kommunikation, in die ihn Patty als seinen Vertrauten einspinnt wie in einen engen Kokon. Er läuft schon als Jugendlicher über zu der Familie seiner frühreifen Freundin, in der ein proletarischer Republikaner das Sagen hat, und gerät auf dem College über seinen jüdischen Freund Jonathan in die Welt der neokonservativen Thinktanks. Und da Jonathan Franzen seine Figuren wie ein Schachspieler durch den Roman bewegt, begegnet ihm dort in Gestalt von dessen Schwester Jenna die ultimative Verführung.
Denn zwar beginnt diese Familiengeschichte in den späten siebziger Jahren und reicht, politisch gesehen, von Reagan bis zur Wahl Obamas. Aber ihr Hauptschauplatz ist das Amerika von George W. Bush, dem Sohn. Man kann hier nicht Jenna heißen, ohne an die für ihre Alkohol- und Partyeskapaden berühmte Tochter des Präsidenten zu erinnern. Jenna, mit einem aufstrebenden Broker von Goldman Sachs liiert, ist der ideale Sparringspartner für das Projekt des entlaufenen Sohnes der Liberalen, „hart zu werden“. Denn dies ist ein sowohl sexuelles wie ökonomisches Projekt: „Jenna erregte ihn so, wie große Geldsummen, wie der köstliche Verzicht auf soziale Verantwortung und das Bekenntnis zu exzessiver Ressourcenverschwendung es taten. Er wusste sehr wohl, dass Jenna hart drauf war. Und erregend war dabei die Überlegung, ob er selbst hart genug werden konnte, um sie zu kriegen.“
Während Jonathan Franzen virtuos Joey Berglund in ökonomische Projekte verstrickt, bei denen durch die Lieferung schrottreifer Lastwagen an die amerikanische Armee im Irak Steuergelder abgezockt werden, erlebt der Vater, Walter Berglund, seinen Sündenfall als nützlicher Idiot eines „guten Texaners“. Der ist – wie der Autor Jonathan Franzen – Liebhaber der Vogelwelt und hat die glorreiche Idee, Naturschutz und Naturausbeutung elegant zu verbinden. Walter Berglund, zum Helden einer Satire geschrumpft, wird Geschäftsführer einer Stiftung zur Rettung des Pappelwaldsängers. Er organisiert die Errichtung eines Reservates in West Virginia, in dem zunächst der landschaftszerstörende Kohleabbau durch Gipfelsprengung praktiziert und sodann durch „Renaturierung“ dem Vogel eine dauerhafte Heimat gesichert werden soll.
Mit Walter Berglunds Assistentin Lalitha, die aus einer westbengalischen Familie stammt, kommt die Figur ins Spiel, die am besten geeignet wäre, die Familie Berglund endgültig zu sprengen. Denn sie könnte, nachdem der nette Walter von der Untreue seiner Patty erfahren und sie verstoßen hat, deren Stelle einnehmen. Aber das darf sie nicht. Denn während Walter einem heimlichen Kinderwunsch anhängt, ist sie die kompromisslose Hardlinerin des Projekts der Weltrettung durch Fortpflanzungshemmung. So wird sie zur Feindin des Autors. Er entledigt sich ihrer, indem er zunächst ihren riskanten Fahrstil ins Spiel bringt und sie dann, gut motiviert, einem tödlichen Autounfall überantwortet. Er kann nicht anders, denn er will am Ende, nachdem sie durch alle Höhen und vor allem Tiefen gegangen ist, die weiße, liberale Mittelstandsfamilie doch noch einmal retten.
Darum lässt er den Sohn Joey die Brühe der schmutzigen Dollars des Irak-Abenteuers nur durchwaten, um ihn dann doch zu läutern und einen Volvo fahren zu lassen, wie ihn schon zu Beginn der Vater fuhr. Und er lässt ihn aus den eigenen Fäkalien seinen Ehering hervorholen, den er bei dem missglückten Jenna-Abenteuer verschluckt hat. Und weil die junge, exotische Lalitha tot ist, der gegenüber Walter gelegentlich das Gefühl hatte, „romantischen Imperialismus“ zu praktizieren, können am Ende, nach Jahren des Schweigens, auch die Eltern wieder zueinander – und zu Rocker Richard – finden.
Um das einst einsame Haus am namenlosen See, das Erbstück Walters, in dem Pattys Ehebruch stattfand, ist derweil durch die billigen Immobilienkredite eine Siedlung entstanden, gegen deren Katzen Walter die Waldvögel erfolglos verteidigt. Man weiß nicht recht, ob es ein mildes oder ein zynisches Licht ist, in das der Roman dieses Haus in den letzten Sätzen taucht. Noch einmal entsteht nun ein Vogelreservat. Das Haus wird entkernt und zu einem Zufluchtsort für Eulen, Schwalben und andere Vogelarten. Dieses Reservat aber ist nach Lalitha benannt, der asiatischen Einwanderin und Feindin des Familienromans. Vielleicht ist dieses Buch darum schon jetzt ein so großer Erfolg in Amerika. Es ist nicht nur ein zeithistorisches Panorama der Bush-Ära. Es ist auch ein großes Trost- und Hoffnungsbuch des zerzausten, erschöpften, an sich selbst irre gewordenen amerikanischen Liberalismus. LOTHAR MÜLLER
JONATHAN FRANZEN: Freiheit. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 736 Seiten, 24,95 Euro.
Wer subversiv sein will, für
den ist sein Erfolg eine Bedrohung
Wenn die Not groß ist, wird
der Roman zum Schutzreservat
Erzähler als Gesellschaftsforscher: Jonathan Franzen. Foto: Julia Baier, Laif
Bewahrt den Pappelwaldsänger! Einer der Protagonisten des Buches ist, wie sein Autor, Vogelfreund und kämpft um ein Reservat. Abb.: Mauritius Images
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im Grunde ist das ganze "Korrekturen 2.0", wenn man Felicitas von Lovenbergs sehr ausführlicher, sehr inhaltsangabenfreudiger (und sehr früher) Besprechung des neuen, mit vielen Vorschusslorbeeren begrüßten Werks von Jonathan Franzen glauben darf. Aus dem Mund der Rezensentin ist der Verweis auf die ganz ähnliche Anlage, Mach- und Schreibart des Werks freilich - da gibt es keinen Zweifel - allerhöchstes Lob. Wieder steht eine Familie mit ihren Neurosen im Mittelpunkt: die Berglunds aus St. Paul. Wieder werden ihre jeweiligen Geschichten in Einzelporträts vorgestellt, bis in die achtziger Jahre zurück, wenngleich es in erster Linie um eine Darstellung des Jetztzeit-Amerikas vor allem der post-9/11-Nullerjahre geht. Wie der Titel schon sagt, sieht Franzen dabei das Thema der "Freiheit" im Zentrum, und er verstehe es, lobt von Lovenberg, dieses Leitmotiv "unangestrengt in die reiche Textur des Romans" hineinzuflechten. So exemplarisch wie individuell findet sie jede der Figuren mit Ausnahme der Tochter Jessica (das ist der einzige Schwachpunkt, den die Rezension ausmacht); von besonderer Finesse scheint ihr Franzens Schachzug, die Mutter Patty in zwei langen autobiografischen Passagen selbst zu Wort kommen zu lassen. Insgesamt höchstes Lob: "Freiheit" ist wie "Korrekturen", nur besser: "lässiger, leichter, weniger offensichtlich auf Wirkung bedacht". Und der Sex ist auch gut, jedenfalls gut geschrieben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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