Dieses Buch stellt sich einem schwierigen Thema: den Verhandlungen, die Repräsentanten der Juden mit Nazis führten, um gegen Güter und Geld die Freilassung von Juden aus den Händen der Nazis zu ermöglichen. Yehuda Bauer untersucht die Verhandlungen, die zwischen 1933 und 1945 geführt wurden, stellt die Beteiligten vor, öffnet bislang verschlossenes Archivmaterial und legt neue Quellen vor, wägt sie ab.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.1996Was Himmler sich dachte
Yehuda Bauer setzt neue Maßstäbe für das Verständnis des Nationalsozialismus
Yehuda Bauer: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Jeremy Gaines. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 464 Seiten, 56,- Mark.
War die Vernichtung der Juden der Kernpunkt des Selbstverständnisses der Nationalsozialisten? Yehuda Bauer kommt in seiner Untersuchung zu Schlußfolgerungen, die von den bis jetzt allgemeingültigen Auffassungen über die Nationalsozialisten abweichen. Anfangs war deren Ziel - das er keineswegs als moralisch gerechtfertigt akzeptiert - nur die Entfernung der Juden durch Auswanderung gewesen, und es waren die Zionisten, die diese Juden in Palästina aufnehmen wollten. Die beiden hatten, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Ausgangspositionen und Empfindungen, ein gemeinsames Ziel gehabt. Für die Zionisten - so Bauer - war klar, was zu tun war. "Man mußte mit den Nationalsozialisten verhandeln." Bauer legt sehr detailliert die verschiedenen Abkommen von 1933 bis 1937 dar - vor allem das "Haavara"-Transfer-Abkommen zwischen den zionistischen Organisationen und dem Reich. Es gehörte zu einer Reihe von Abmachungen, die eine geregelte Einwanderung der Juden mit Teilen ihres Vermögens nach Palästina ermöglichen sollten. Durch britischen und arabischen Druck wurde das letztlich nicht fortgesetzt, und die nationalsozialistische Haltung gegenüber den Juden radikalisierte sich immer mehr. Dennoch: Auch nach dem Ausbruch des Krieges und bis zum Herbst 1941 war die Auswanderung, aus der Sicht der Nazis, erwünscht. Sie haben versucht, diese Auswanderung auf verschiedenen Wegen, die der Verfasser darlegt, zu fördern. Aber sowohl die Tore Palästinas als auch anderer Länder waren für die Juden versperrt und verschlossen.
Heinrich Himmler, der Chef der Gestapo, der zudem seit 1943 auch als Reichsinnenminister amtierte, wurde für die Juden und diverse zionistische Organisationen - sei es direkt oder indirekt - zunehmend zum Hauptgesprächspartner. Er und die Organisationen und Ämter, die er befehligte, waren befugt, Entscheidungen über die Juden zu treffen, auch wenn Himmler natürlich an die Anweisungen des Führers gebunden war. Große Teile des Buches befassen sich mit den Aktivitäten, Motiven und - soweit nachvollziehbar - auch den Hintergedanken und unausgesprochenen Erwartungen Himmlers. Er stand Hitler loyal gegenüber, glaubte an seine Mission und war selbst ein fanatischer Nationalsozialist. Gleichzeitig hatte er Angst vor Hitler; vor allem jedoch begann er zunehmend an dessen Urteilsvermögen zu zweifeln. Himmler war Realist genug, um zu begreifen - nach Bauers Einschätzung bereits Ende 1942 -, daß das Reich den Krieg nicht gewinnen konnte, und er begann zunehmend Wege zu suchen, die zu separaten Abmachungen mit den Westalliierten führen könnten.
Als jemand, der in nationalsozialistischen Vorstellungen behaftet war, glaubte er, daß die Juden zumindest erheblichen Einfluß auf die Regierungen der Westalliierten ausübten. Bauer meint, daß Himmler außenpolitisch ähnliche Vorstellungen hatte wie die konservative Opposition gegen Hitler. Er wollte Deutschland vor der totalen Zerstörung bewahren, zugleich aber - im Gegensatz zur Opposition gegen Hitler - das nationalsozialistische Regime aufrechterhalten. War Himmler, so ironisch sich dies anhört, ein verkappter Oppositioneller? Seit Februar 1944, als die Abwehr aufgelöst und deren Chef, Canaris, zunächst entlassen, später verhaftet worden war, übernahm der Sicherheitsdienst der SS auch die Aufgabe der Abwehr. Alles lag jetzt im Zuständigkeitsbereich von Himmler. Er wußte von der oppositionellen Haltung gerade der konservativen Kreise, die vorher in der Abwehr tätig waren, aber er hat - sicherlich eine gewagte Hypothese - diese Aktivitäten stillschweigend geduldet, um nicht zu sagen gefördert.
Erst nachdem der Aufstand vom 20. Juli 1944 gescheitert war, habe Himmler dessen Protagonisten verfolgt, um seine eigene Position in den Augen Hitlers zu festigen und jeden Verdacht der Illoyalität abzuwehren. Dennoch habe er die Bestrebungen dieser Oppositionellen fortgesetzt. Er glaubte, so Bauer, dem Westen etwas bieten zu können - Milderung der Zustände in den Konzentrationslagern und vor allem Schonung der ungarischen Juden. Dieses Land - anfangs ein Verbündeter des Reiches - war seit März 1944 von deutschen Truppen besetzt. In seinen verzweifelten Bemühungen, Kontakte zum Westen herzustellen, bediente sich Himmler auch jüdischer Agenten. Ausführlich und gestützt auf neue Quellen, schildert Bauer diese Aktivitäten.
Himmler versuchte zunehmend, auch mit den zionistischen Organisationen ins Gespräch zu kommen. Er bot das Ende der Vernichtung an, aber es ging ihm natürlich um viel mehr - um Abmachungen zunächst mit dem Westen. Die Briten wären bereit gewesen, jedenfalls zum Schein auf seine Angebote einzugehen. Der vehemente Widerstand - was oft übersehen wird - kam von Sowjets und Amerikanern. Sie beharrten auf der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.
Die jüdische und zionistische Bitte, doch noch mit den Nazis zu verhandeln, wurde als störend empfunden. Letztendlich ging es den Alliierten nicht um die Juden, auch wenn eines der Kriegsziele deren Befreiung verhieß. Die Alliierten - so Bauer - "haben ihren eigenen Kriegszielen zuwidergehandelt und sich damit für immer einen dunklen Punkt in ihrer Geschichte eingehandelt". Sie nahmen die Möglichkeiten zur Rettung nicht wahr; vielmehr haben sie oft - und auch dies wird dargelegt - Möglichkeiten, die sich eröffnet hatten, vereitelt.
Bauer vertritt zudem die Auffassung, daß auch die jüdischen Organisationen und die zionistische Bewegung mit mehr Nachhalt auf die Angebote Himmlers hätten eingehen sollen. Er widerspricht hier den gängigen Auffassungen in der israelischen Forschung, daß die Verhandlungen von 1933 und praktisch bis zum Kriegsende ein Fehler, um nicht zu sagen ein Verrat gewesen seien. Er schildert die Verhandlungen und Angebote sehr detailliert. Der Freikauf von Juden war möglich.
Doch Bauer weiß auch von der Unvereinbarkeit der Erwartungen beider Seiten. Die Alliierten bestanden kompromißlos auf der bedingungslosen Kapitulation. Die Juden konnten das - anders als Himmler sicherlich annahm - nicht ändern. Bauer setzt sich mit der Frage auseinander, ob diese Forderung nach bedingungsloser Kapitulation sinnvoll war. Deutlich spürt der Leser seine Zweifel. Gerade für die Juden, in deren Sinne - so wurde damals argumentiert - diese Forderung erhoben und gerechtfertigt wurde, war sie zum Verhängnis geworden. Eine andere Lösung, irgendwann im Verlaufe des Jahres 1944 - nicht die bedingungslose Kapitulation -, wäre gerade für die Juden viel besser gewesen, aber auch aus anderen Gründen. Das sowjetische Vordringen nach Mitteleuropa, die Teilung des Kontinents hätte verhindert werden können.
Mit intellektueller Redlichkeit, umfassender Kenntnis und vor allem mit Sensibilität, Gespür für das Leid der Juden und den historischen Zusammenhang setzt dieses Werk neue Maßstäbe in unserem Verständnis des Nationalsozialismus und der jüdischen Reaktion darauf. Es enthält viele neue Einzelheiten, ist sehr fundiert und in einer sehr differenzierten, nuancierten Sprache verfaßt. Der Leser wird gefordert. NACHUM ORLAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Yehuda Bauer setzt neue Maßstäbe für das Verständnis des Nationalsozialismus
Yehuda Bauer: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Jeremy Gaines. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 464 Seiten, 56,- Mark.
War die Vernichtung der Juden der Kernpunkt des Selbstverständnisses der Nationalsozialisten? Yehuda Bauer kommt in seiner Untersuchung zu Schlußfolgerungen, die von den bis jetzt allgemeingültigen Auffassungen über die Nationalsozialisten abweichen. Anfangs war deren Ziel - das er keineswegs als moralisch gerechtfertigt akzeptiert - nur die Entfernung der Juden durch Auswanderung gewesen, und es waren die Zionisten, die diese Juden in Palästina aufnehmen wollten. Die beiden hatten, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Ausgangspositionen und Empfindungen, ein gemeinsames Ziel gehabt. Für die Zionisten - so Bauer - war klar, was zu tun war. "Man mußte mit den Nationalsozialisten verhandeln." Bauer legt sehr detailliert die verschiedenen Abkommen von 1933 bis 1937 dar - vor allem das "Haavara"-Transfer-Abkommen zwischen den zionistischen Organisationen und dem Reich. Es gehörte zu einer Reihe von Abmachungen, die eine geregelte Einwanderung der Juden mit Teilen ihres Vermögens nach Palästina ermöglichen sollten. Durch britischen und arabischen Druck wurde das letztlich nicht fortgesetzt, und die nationalsozialistische Haltung gegenüber den Juden radikalisierte sich immer mehr. Dennoch: Auch nach dem Ausbruch des Krieges und bis zum Herbst 1941 war die Auswanderung, aus der Sicht der Nazis, erwünscht. Sie haben versucht, diese Auswanderung auf verschiedenen Wegen, die der Verfasser darlegt, zu fördern. Aber sowohl die Tore Palästinas als auch anderer Länder waren für die Juden versperrt und verschlossen.
Heinrich Himmler, der Chef der Gestapo, der zudem seit 1943 auch als Reichsinnenminister amtierte, wurde für die Juden und diverse zionistische Organisationen - sei es direkt oder indirekt - zunehmend zum Hauptgesprächspartner. Er und die Organisationen und Ämter, die er befehligte, waren befugt, Entscheidungen über die Juden zu treffen, auch wenn Himmler natürlich an die Anweisungen des Führers gebunden war. Große Teile des Buches befassen sich mit den Aktivitäten, Motiven und - soweit nachvollziehbar - auch den Hintergedanken und unausgesprochenen Erwartungen Himmlers. Er stand Hitler loyal gegenüber, glaubte an seine Mission und war selbst ein fanatischer Nationalsozialist. Gleichzeitig hatte er Angst vor Hitler; vor allem jedoch begann er zunehmend an dessen Urteilsvermögen zu zweifeln. Himmler war Realist genug, um zu begreifen - nach Bauers Einschätzung bereits Ende 1942 -, daß das Reich den Krieg nicht gewinnen konnte, und er begann zunehmend Wege zu suchen, die zu separaten Abmachungen mit den Westalliierten führen könnten.
Als jemand, der in nationalsozialistischen Vorstellungen behaftet war, glaubte er, daß die Juden zumindest erheblichen Einfluß auf die Regierungen der Westalliierten ausübten. Bauer meint, daß Himmler außenpolitisch ähnliche Vorstellungen hatte wie die konservative Opposition gegen Hitler. Er wollte Deutschland vor der totalen Zerstörung bewahren, zugleich aber - im Gegensatz zur Opposition gegen Hitler - das nationalsozialistische Regime aufrechterhalten. War Himmler, so ironisch sich dies anhört, ein verkappter Oppositioneller? Seit Februar 1944, als die Abwehr aufgelöst und deren Chef, Canaris, zunächst entlassen, später verhaftet worden war, übernahm der Sicherheitsdienst der SS auch die Aufgabe der Abwehr. Alles lag jetzt im Zuständigkeitsbereich von Himmler. Er wußte von der oppositionellen Haltung gerade der konservativen Kreise, die vorher in der Abwehr tätig waren, aber er hat - sicherlich eine gewagte Hypothese - diese Aktivitäten stillschweigend geduldet, um nicht zu sagen gefördert.
Erst nachdem der Aufstand vom 20. Juli 1944 gescheitert war, habe Himmler dessen Protagonisten verfolgt, um seine eigene Position in den Augen Hitlers zu festigen und jeden Verdacht der Illoyalität abzuwehren. Dennoch habe er die Bestrebungen dieser Oppositionellen fortgesetzt. Er glaubte, so Bauer, dem Westen etwas bieten zu können - Milderung der Zustände in den Konzentrationslagern und vor allem Schonung der ungarischen Juden. Dieses Land - anfangs ein Verbündeter des Reiches - war seit März 1944 von deutschen Truppen besetzt. In seinen verzweifelten Bemühungen, Kontakte zum Westen herzustellen, bediente sich Himmler auch jüdischer Agenten. Ausführlich und gestützt auf neue Quellen, schildert Bauer diese Aktivitäten.
Himmler versuchte zunehmend, auch mit den zionistischen Organisationen ins Gespräch zu kommen. Er bot das Ende der Vernichtung an, aber es ging ihm natürlich um viel mehr - um Abmachungen zunächst mit dem Westen. Die Briten wären bereit gewesen, jedenfalls zum Schein auf seine Angebote einzugehen. Der vehemente Widerstand - was oft übersehen wird - kam von Sowjets und Amerikanern. Sie beharrten auf der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.
Die jüdische und zionistische Bitte, doch noch mit den Nazis zu verhandeln, wurde als störend empfunden. Letztendlich ging es den Alliierten nicht um die Juden, auch wenn eines der Kriegsziele deren Befreiung verhieß. Die Alliierten - so Bauer - "haben ihren eigenen Kriegszielen zuwidergehandelt und sich damit für immer einen dunklen Punkt in ihrer Geschichte eingehandelt". Sie nahmen die Möglichkeiten zur Rettung nicht wahr; vielmehr haben sie oft - und auch dies wird dargelegt - Möglichkeiten, die sich eröffnet hatten, vereitelt.
Bauer vertritt zudem die Auffassung, daß auch die jüdischen Organisationen und die zionistische Bewegung mit mehr Nachhalt auf die Angebote Himmlers hätten eingehen sollen. Er widerspricht hier den gängigen Auffassungen in der israelischen Forschung, daß die Verhandlungen von 1933 und praktisch bis zum Kriegsende ein Fehler, um nicht zu sagen ein Verrat gewesen seien. Er schildert die Verhandlungen und Angebote sehr detailliert. Der Freikauf von Juden war möglich.
Doch Bauer weiß auch von der Unvereinbarkeit der Erwartungen beider Seiten. Die Alliierten bestanden kompromißlos auf der bedingungslosen Kapitulation. Die Juden konnten das - anders als Himmler sicherlich annahm - nicht ändern. Bauer setzt sich mit der Frage auseinander, ob diese Forderung nach bedingungsloser Kapitulation sinnvoll war. Deutlich spürt der Leser seine Zweifel. Gerade für die Juden, in deren Sinne - so wurde damals argumentiert - diese Forderung erhoben und gerechtfertigt wurde, war sie zum Verhängnis geworden. Eine andere Lösung, irgendwann im Verlaufe des Jahres 1944 - nicht die bedingungslose Kapitulation -, wäre gerade für die Juden viel besser gewesen, aber auch aus anderen Gründen. Das sowjetische Vordringen nach Mitteleuropa, die Teilung des Kontinents hätte verhindert werden können.
Mit intellektueller Redlichkeit, umfassender Kenntnis und vor allem mit Sensibilität, Gespür für das Leid der Juden und den historischen Zusammenhang setzt dieses Werk neue Maßstäbe in unserem Verständnis des Nationalsozialismus und der jüdischen Reaktion darauf. Es enthält viele neue Einzelheiten, ist sehr fundiert und in einer sehr differenzierten, nuancierten Sprache verfaßt. Der Leser wird gefordert. NACHUM ORLAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main