Sind wir die geworden, die wir sein wollten?»Damit hatte er nicht rechnen können, ausgerechnet hier, am Mare Balticum, von seinem Vorleben eingeholt zu werden.« Uwe Timm erzählt vom späten Wiedersehen zweier Männer, die in den frühen Sechzigern, noch vor dem großen Aufbruch, als Studenten in München ihren Weg suchten.Am Freitisch saßen sie mittags beieinander, in der Kantine einer spendablen Versicherung, und ihre Gespräche kreisten um Gott und die Welt und einen gemeinsamen Bezugspunkt: Arno Schmidt. Als sie sich in Anklam wiedertreffen, prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander. Der Erzähler hat hier als Lehrer gearbeitet, Deutsch und Geschichte, und führt seit seiner Pensionierung ein Antiquariat. Der andere, Euler, damals Mathematiker mit literarischen Ambitionen, kommt als Investor und sondiert das Terrain, um eine Mülldeponie zu bauen.Beide helfen sich und der Erinnerung auf die Sprünge, geben Anekdoten zum Besten, zitieren ihre Lektüren und landen immer wieder bei dem Dritten im Bunde: Falkner, der damals schrieb, ohne jemals einen Text vorzuzeigen, und mittlerweile ein bekannter Schriftsteller ist. Und bei jener merkwürdigen Reise, die sie in die Heide, zu Arno Schmidts Grundstück führte.Wie man wurde, was man ist, und was man vielleicht hätte werden können - davon handelt Uwe Timms geistreiche, gewitzte, glänzend geschriebene Novelle, die voller Anspielungen steckt und der existenziellen Frage nachgeht: Was lässt sich umsetzen von den Wünschen und Hoffnungen, mit denen man angetreten ist?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Mühe in Halbtrauer
Uwe Timm hat den epochalen Sprachspieler und Prosakauz Arno Schmidt ins Zentrum einer Novelle gerückt. "Freitisch" ist eine kritische Danksagung.
Von Martin Halter
Bargfeld als Lebensform: das war provinzielles Spießertum, verdruckste Sexualität, Zettelwirtschaft und Besserwisserei. Aber Arno Schmidt war mehr als nur ein Heideschrat: Er hat einer ganzen Generation von Lesern unbekannte Wort- und Schauerfelder erschlossen, neue Horizonte geöffnet und mit poetologischen "Berechnungen" pseudoexakt vermessen. Der Einsiedel in seiner Bücherklause pöbelte gegen Adenauer, Gott und die Dummheit. Er entdeckte einen Kanon jenseits von Goethe und Gruppe 47 und lockerte mit seinen an Freud und Joyce geschulten Sprachspielen verstockte Zungen, eng geschnürte Mieder und wohl auch manche Schreibhemmung. So hat er den Muff der fünfziger Jahre durchgelüftet und kommende Kulturrevolutionen vorbereitet.
Uwe Timm, der getreue Chronist der Achtundsechziger-Bewegung, hat zwar erzählerisch wie politisch wenig mit Schmidt gemein, aber auch er verdankt ihm einiges an Inspiration, Ermutigung, ja Befreiung. "Freitisch" ist seine kritische Danksagung - und die wehmütige Erinnerung an eine Zeit, als Literatur noch utopische Kraft und existentielle Erfahrung war.
Uwe Timm trauert in seiner neuen Novelle der Zeit nach, als der von einer Versicherungsgesellschaft gesponserte "Freitisch" für vier Münchner Studenten noch ein Ort gast- und herrschaftsfreier Kommunikation war. Es war die Zeit zwischen den Schwabinger Unruhen und der Studentenrevolte. Man lacht noch über Lübke- und Zitzewitz-Witze und wohnt bei Amtsgerichtsratswitwen, die Damenbesuch als Kündigungsgrund betrachten. Aber am Horizont tauchen bereits die Notstandsgesetze, Filme wie "Außer Atem" und Bohème-Größen wie Kunzelmann und Baader auf. Wenn die Billigesser bei Tisch über Gott und die Welt, Heidegger und Hasch diskutieren, ist Arno Schmidt als unsichtbarer Gast immer dabei.
Euler, der Mathematikstudent, lässt nichts auf "seinen Arno" kommen: Keiner kann die Tristesse des Provinzlebens so genial verdichten wie der Meister in "Kühe in Halbtrauer". Zweimal nähert sich der Jünger im alten VW ehrfürchtig seinem Messias. Beim ersten Besuch in Bargfeld wird er von Alice am Gartentor barsch abgewiesen: "Er empfängt nicht." Beim zweiten Anlauf lockt Euler das scheue Gehirntier mit einem Theodoliten aus seinem Häuschen, aber der erhoffte Segen bleibt aus: Schmidt verwirft die ihm vorgelegten Texte kühl als "wackeres Imitat". Das ist selbst für einen gläubigen Schmidtianer zuviel. Euler gibt seine literarischen Ambitionen auf und verlegt sich auf die Informatik.
Der Erzähler, der Euler bei seiner zweiten Bargfeld-Wallfahrt widerwillig begleitete, geht den umgekehrten Weg: vom Schmidt-Skeptiker zum Fan. In der Ära der Pille und des Vietnamkriegs kann man nicht mehr wie zur Postkutschenzeit schreiben, und so hält er dem Idol seiner Jugend noch als Deutschlehrer in der ostdeutschen Provinz die Treue.
Für Falkner hingegen war Schmidt immer nur ein Spießer, seine "Sprachblödelei" eine infantile Marotte. Als seine Mitesser noch bürgerlich brav waren, probte Falkner bereits mit Stewardessen ("Beifliegerinnen" wie die Schmidt-Fraktion witzelt) die sexuelle Weltrevolution und zerhackte bei Happenings ein Piano mit der Axt; später wurde er dann ein berühmter Schriftsteller. Der Vierte im Freitisch-Bunde, ein konservativer, erzählerisch begabter Jurastudent, amüsierte sich köstlich über Schmidts Späßchen, machte dann aber doch lieber Karriere bei Siemens.
So geschickt Timm Arno Schmidt zum Kristallisationspunkt jugendlicher Auf- und literarischer Ausbrüche macht: für ihre kritische Revision durch Geschichte und Gegenwart findet er keine überzeugende Form. Vierzig Jahre nach ihrer Studentenzeit treffen sich Euler und der Erzähler in Anklam zufällig wieder. Im Straßencafé der Landbäckerei Grützmann, misstrauisch beäugt von tätowierten Punks, Stadtalkoholikern und Glatzen, wühlen sie in der "Grabbelkiste der Vergangenheit". Euler, inzwischen erfolgreicher Müll-Logistiker und Saab-Cabriofahrer, fremdelt im Reich der Jammer-Ossis ein wenig, sein Jugendfreund hat längst seinen Frieden mit der Provinz und Schmidt gemacht. Der pensionierte Lehrer betreibt ein kleines Antiquariat (Spezialität: Achtundsechziger-Literatur und Schmidtiana); seine Alice heißt Lina, seine Heide ist das Rosenbeet hinterm Häuschen. Anklam, das Kaff am Mare Crisium, ist seine Heimat geworden.
"Freitisch" gehört nicht nur dem Umfang nach zu Timms kleineren Werken. Die schmale Novelle enthält kluge Beobachtungen über Schmidt und den Geist der Sechziger, aber der Ossi-Wessi-Komplex wird verspätet und lustlos abgearbeitet. Die Ausflüge in Geschichte und Alltagssoziologie Anklams wirken bemüht, und die exemplarischen Biographien sind eher umrisshaft skizziert als lebendig ausgemalt. Ein verdichteter, aber verzettelter Traum in nostalgischer Halbtrauer.
Uwe Timm: "Freitisch". Novelle.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 136 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Timm hat den epochalen Sprachspieler und Prosakauz Arno Schmidt ins Zentrum einer Novelle gerückt. "Freitisch" ist eine kritische Danksagung.
Von Martin Halter
Bargfeld als Lebensform: das war provinzielles Spießertum, verdruckste Sexualität, Zettelwirtschaft und Besserwisserei. Aber Arno Schmidt war mehr als nur ein Heideschrat: Er hat einer ganzen Generation von Lesern unbekannte Wort- und Schauerfelder erschlossen, neue Horizonte geöffnet und mit poetologischen "Berechnungen" pseudoexakt vermessen. Der Einsiedel in seiner Bücherklause pöbelte gegen Adenauer, Gott und die Dummheit. Er entdeckte einen Kanon jenseits von Goethe und Gruppe 47 und lockerte mit seinen an Freud und Joyce geschulten Sprachspielen verstockte Zungen, eng geschnürte Mieder und wohl auch manche Schreibhemmung. So hat er den Muff der fünfziger Jahre durchgelüftet und kommende Kulturrevolutionen vorbereitet.
Uwe Timm, der getreue Chronist der Achtundsechziger-Bewegung, hat zwar erzählerisch wie politisch wenig mit Schmidt gemein, aber auch er verdankt ihm einiges an Inspiration, Ermutigung, ja Befreiung. "Freitisch" ist seine kritische Danksagung - und die wehmütige Erinnerung an eine Zeit, als Literatur noch utopische Kraft und existentielle Erfahrung war.
Uwe Timm trauert in seiner neuen Novelle der Zeit nach, als der von einer Versicherungsgesellschaft gesponserte "Freitisch" für vier Münchner Studenten noch ein Ort gast- und herrschaftsfreier Kommunikation war. Es war die Zeit zwischen den Schwabinger Unruhen und der Studentenrevolte. Man lacht noch über Lübke- und Zitzewitz-Witze und wohnt bei Amtsgerichtsratswitwen, die Damenbesuch als Kündigungsgrund betrachten. Aber am Horizont tauchen bereits die Notstandsgesetze, Filme wie "Außer Atem" und Bohème-Größen wie Kunzelmann und Baader auf. Wenn die Billigesser bei Tisch über Gott und die Welt, Heidegger und Hasch diskutieren, ist Arno Schmidt als unsichtbarer Gast immer dabei.
Euler, der Mathematikstudent, lässt nichts auf "seinen Arno" kommen: Keiner kann die Tristesse des Provinzlebens so genial verdichten wie der Meister in "Kühe in Halbtrauer". Zweimal nähert sich der Jünger im alten VW ehrfürchtig seinem Messias. Beim ersten Besuch in Bargfeld wird er von Alice am Gartentor barsch abgewiesen: "Er empfängt nicht." Beim zweiten Anlauf lockt Euler das scheue Gehirntier mit einem Theodoliten aus seinem Häuschen, aber der erhoffte Segen bleibt aus: Schmidt verwirft die ihm vorgelegten Texte kühl als "wackeres Imitat". Das ist selbst für einen gläubigen Schmidtianer zuviel. Euler gibt seine literarischen Ambitionen auf und verlegt sich auf die Informatik.
Der Erzähler, der Euler bei seiner zweiten Bargfeld-Wallfahrt widerwillig begleitete, geht den umgekehrten Weg: vom Schmidt-Skeptiker zum Fan. In der Ära der Pille und des Vietnamkriegs kann man nicht mehr wie zur Postkutschenzeit schreiben, und so hält er dem Idol seiner Jugend noch als Deutschlehrer in der ostdeutschen Provinz die Treue.
Für Falkner hingegen war Schmidt immer nur ein Spießer, seine "Sprachblödelei" eine infantile Marotte. Als seine Mitesser noch bürgerlich brav waren, probte Falkner bereits mit Stewardessen ("Beifliegerinnen" wie die Schmidt-Fraktion witzelt) die sexuelle Weltrevolution und zerhackte bei Happenings ein Piano mit der Axt; später wurde er dann ein berühmter Schriftsteller. Der Vierte im Freitisch-Bunde, ein konservativer, erzählerisch begabter Jurastudent, amüsierte sich köstlich über Schmidts Späßchen, machte dann aber doch lieber Karriere bei Siemens.
So geschickt Timm Arno Schmidt zum Kristallisationspunkt jugendlicher Auf- und literarischer Ausbrüche macht: für ihre kritische Revision durch Geschichte und Gegenwart findet er keine überzeugende Form. Vierzig Jahre nach ihrer Studentenzeit treffen sich Euler und der Erzähler in Anklam zufällig wieder. Im Straßencafé der Landbäckerei Grützmann, misstrauisch beäugt von tätowierten Punks, Stadtalkoholikern und Glatzen, wühlen sie in der "Grabbelkiste der Vergangenheit". Euler, inzwischen erfolgreicher Müll-Logistiker und Saab-Cabriofahrer, fremdelt im Reich der Jammer-Ossis ein wenig, sein Jugendfreund hat längst seinen Frieden mit der Provinz und Schmidt gemacht. Der pensionierte Lehrer betreibt ein kleines Antiquariat (Spezialität: Achtundsechziger-Literatur und Schmidtiana); seine Alice heißt Lina, seine Heide ist das Rosenbeet hinterm Häuschen. Anklam, das Kaff am Mare Crisium, ist seine Heimat geworden.
"Freitisch" gehört nicht nur dem Umfang nach zu Timms kleineren Werken. Die schmale Novelle enthält kluge Beobachtungen über Schmidt und den Geist der Sechziger, aber der Ossi-Wessi-Komplex wird verspätet und lustlos abgearbeitet. Die Ausflüge in Geschichte und Alltagssoziologie Anklams wirken bemüht, und die exemplarischen Biographien sind eher umrisshaft skizziert als lebendig ausgemalt. Ein verdichteter, aber verzettelter Traum in nostalgischer Halbtrauer.
Uwe Timm: "Freitisch". Novelle.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 136 S., geb., 16,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hingerissen zeigt sich Judith von Sternburg von Uwe Timms Novelle "Freitisch". Die Geschichte um zwei einstige Arno-Schmidt-Adepten, einen pensionierten Lehrer und einen Müll-Unternehmer, die sich zufällig in Anklam wieder begegnen und über ihre Studentenzeit in München plaudern, ist in ihren Augen alles andere als spektakulär. Die Erinnerungen an die alten Zeiten scheinen ihr eher harmlos, die "wildeste Geschichte" handelt von einem Besuch bei Arno Schmidt, der ziemlich abweisend reagiert. Nichtsdestoweniger findet die Rezensentin diese Novelle sehr sympathisch. Das liegt für sie an der "feinen Ironie" sowie an der "Sanftmut" und der "Unverlogenheit", die hier wunderbar stimmig zusammengehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Uwe Timms klug komponierte und sehr unterhaltsame Novelle ist beides - eine Hommage an Arno Schmidt und gleichzeitig ein ironisches Stück über die Denkmalisierung eines Schriftstellers.« Hajo Steinert Tages-Anzeiger, Schweiz 20111108
Timms Novelle ist ein leichtfüßiges, geistreiches Spiel mit der Gattung und ihren Konventionen. Florian Welle Süddeutsche Zeitung 20121005