Die Odenwaldschule erstmals geben Opfer UND Täter Auskunft - Das neue Buch von Bestsellerautor Tilman Jens selbst Schüler der Odenwaldschule - Ein Insiderblick auf das vom Missbrauchsskandal erschütterte Elite-Internat - Klärung, Erklärung, Aufklärung Internate, diese Sehnsuchts- und Schreckensorte, haben Tilman Jens früh fasziniert. Sein neues Buch ist durchzogen von persönlichen Erinnerungen aus seiner Zeit an der Odenwaldschule. Dabei geht es ihm weniger darum, skandal-versessen immer neue Missbrauchsfälle zu enthüllen, sondern um die Rekonstruktion der damaligen Stimmung und um eine Erklärung, wie es zu den grausamen Vorfällen kommen konnte. Dazu werden nicht nur die Aussagen von Opfern und Ermittlern dokumentiert, sondern auch einige der Täter porträtiert. Nicht Apologie steht hier im Vordergrund des Interesses, sondern eine möglichst genaue Klärung, herausgearbeitet aus der Konfrontation der Fakten und Aussagen so gegensätzlicher Quellen. So wird dieses Buch nicht nur die konkreten Geschehnisse aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, sondern zugleich jenes Zeitpanorama erhellen, in dem sich die Übergriffe abspielten. "Da tut sich ein komplexes, schmerzhaftes Sittenpanorama auf, das sich, so viel ist gewiss, jeder einfachen Antwort verweigert. Nicht weniger als dies gilt es exemplarisch zu beschreiben." Tilman Jens
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2011Was alles passiert, wenn man schnellstmöglich aus den Schlagzeilen kommen möchte
Im Blick auf unseriöse Belastungszeugen im Sexskandal der Odenwaldschule fragt Tilman Jens: Reichen bloße Namensnennungen, um jemanden zum Freiwild zu erklären?
Dass der Bildhauer Gerhard Roese in der "taz" Zeter und Mordio schreit über das Buch "Freiwild" von Tilman Jens, mag man als Wutausbruch eines Getroffenen zur Kenntnis nehmen. Als Rezension ist Roeses Text ein Machwerk. Er hat mit dem Buch kaum etwas zu tun. Roese unterstellt Jens eine Beschönigung des sexuellen Missbrauchs in der Odenwaldschule, eine Rechtfertigung des damaligen Zeitgeists.
In dem Buch wird aber nichts beschönigt. Wo der Zeitgeist gegenüber sexuellem Missbrauch ein Auge, nein, gleich beide Augen zudrückte, wird er von Jens ins Spiel gebracht, aber doch klar als unseliger Zeitgeist identifiziert. Es ist ein beliebtes Spiel, historische Einbettungen von Verbrechen als Entlastungsstrategien zu verunglimpfen. Aber auch hier gilt: Hermeneutik ist nicht Relativismus. Der Blick auf den Werdegang der Täter heißt nicht, "die Taten nahtlos den Idealen einer bestimmten Epoche zuschreiben" zu wollen, wie Roese dies Jens unterstellt.
Dem ehemaligen Odenwaldschüler Jens geht es, wenn er Umstände gewürdigt sehen möchte, nicht um die Verharmlosung von Sexualdelikten. Ihm geht es um etwas anderes: die Verbrechensaufklärung nicht durch eine Hetzjagd zu ersetzen, bei der bloße Namensnennungen reichen, um jemanden zum Freiwild zu erklären. Jens betreibt keine Schuldumkehr, wenn er feststellt: "Der hektische und mit so viel zeitlichem Abstand notgedrungen recht hilflose Versuch, die Missbrauchs-Taten, auch ihr Umfeld aufzuklären, ist im Begriff, neue Opfer zu produzieren. Auch der über weite Strecken eindrückliche Abschlussbericht von Burgsmüller/Tilmann macht da keine Ausnahme. Die Autorinnen haben offenkundig unter argem Zeitdruck gestanden, auch weil das auftraggebende Internat daran interessiert sein musste, schnellstmöglich aus den Schlagzeilen zu kommen und sich nicht vollends im Sumpf seiner unrühmlichen Vergangenheit zu verlieren."
Dem juristischen Team Burgsmüller/Tilmann hält Jens vor, sich bei der Beweiswürdigung über die Regeln der Kunst hinweggesetzt, "einseitig und hart an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit ermittelt" zu haben. ",Wir haben als Aufklärerinnen', schreiben die beiden ebenso selbstbewusst wie treuherzig, ,keine kunstgerechte Glaubhaftigkeitsprüfung vornehmen können und wollen.' Im Klartext: Kein Beschuldigter wurde je mit den Vorwürfen gegen die eigene Person konfrontiert. Keiner hatte die Chance der Gegenrede - oder des freimütigen Geständnisses."
Der genannte ehemalige Odenwaldschüler Gerhard Roese hat nun das Pech, im Buch von Jens als einer der unseriösesten Belastungszeugen vorgeführt zu werden. "Kein anderer hat das mediale Abbild der Missbrauchsfälle im Odenwald so nachdrücklich, so folgenreich geprägt wie Gerhard Roese. Er hat das öffentliche Erschaudern mit immer neuen Details des Horrors angeheizt." Demnach hatte Roese im vergangenen Jahr zunächst die Namen von neun Lehrern öffentlichkeitswirksam bekanntgegeben, bei denen er die Berichte im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch "aus eigener Anschauung und aus eigenem Erleben prinzipiell bestätigen" könne. Die beschuldigten Pädagogen setzten sich zur Wehr. Und was passierte? "Gerhard rudert zurück, diesmal allerdings unter Umgehung einer breiteren Öffentlichkeit." In Absprache mit seinem Anwalt erklärte der von "Fliege TV" bis "heute" medial allgegenwärtige Ankläger Roese nun ohne Mikrofon, er halte die Liste der von ihm genannten Täter mit Ausnahme der beiden notorischen Täter Gerold Becker und Wolfgang Held "nicht länger aufrecht und werde diese Namen Dritten gegenüber nicht mehr wiederholen". Die Entlasteten blieben freilich mit einem Hausverbot belegt.
Sowenig Vorgänge wie dieser letztendlich über Wahrheit und Lüge im Fall Odenwaldschule Aufschluss geben - Jens unterschätzt hier wiederum das Raffinement der juristischen Abwehrrhetorik -, so viel sagen sie über den Stil einer Faktenermittlung, die die "Glaubhaftigkeitsprüfung" (Burgsmüller/Tilmann) der Beweislage als entbehrliches Beiwerk versteht und lieber eine Generalabrechnung mit dem System Odenwaldschule vornehmen möchte.
Das plädoyerhafte Buch von Jens nennt, wo es zu Vorverurteilungen kam, Ross und Reiter. Es nimmt dem Skandal nicht seine Spitze. Aber es ist das Korrektiv einer Unkultur des Verdachts, die in medialer Echtzeit die Gebote der Aufklärung über den Haufen rennt. Gerhard Roese hat keinen Grund, sich darüber zu beschweren.
CHRISTIAN GEYER
Tilman Jens: "Freiwild". Die Odenwaldschule - Ein Lehrstück von Opfern und Tätern.
Güterloher Verlagshaus, Gütersloh 2011. 192 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Blick auf unseriöse Belastungszeugen im Sexskandal der Odenwaldschule fragt Tilman Jens: Reichen bloße Namensnennungen, um jemanden zum Freiwild zu erklären?
Dass der Bildhauer Gerhard Roese in der "taz" Zeter und Mordio schreit über das Buch "Freiwild" von Tilman Jens, mag man als Wutausbruch eines Getroffenen zur Kenntnis nehmen. Als Rezension ist Roeses Text ein Machwerk. Er hat mit dem Buch kaum etwas zu tun. Roese unterstellt Jens eine Beschönigung des sexuellen Missbrauchs in der Odenwaldschule, eine Rechtfertigung des damaligen Zeitgeists.
In dem Buch wird aber nichts beschönigt. Wo der Zeitgeist gegenüber sexuellem Missbrauch ein Auge, nein, gleich beide Augen zudrückte, wird er von Jens ins Spiel gebracht, aber doch klar als unseliger Zeitgeist identifiziert. Es ist ein beliebtes Spiel, historische Einbettungen von Verbrechen als Entlastungsstrategien zu verunglimpfen. Aber auch hier gilt: Hermeneutik ist nicht Relativismus. Der Blick auf den Werdegang der Täter heißt nicht, "die Taten nahtlos den Idealen einer bestimmten Epoche zuschreiben" zu wollen, wie Roese dies Jens unterstellt.
Dem ehemaligen Odenwaldschüler Jens geht es, wenn er Umstände gewürdigt sehen möchte, nicht um die Verharmlosung von Sexualdelikten. Ihm geht es um etwas anderes: die Verbrechensaufklärung nicht durch eine Hetzjagd zu ersetzen, bei der bloße Namensnennungen reichen, um jemanden zum Freiwild zu erklären. Jens betreibt keine Schuldumkehr, wenn er feststellt: "Der hektische und mit so viel zeitlichem Abstand notgedrungen recht hilflose Versuch, die Missbrauchs-Taten, auch ihr Umfeld aufzuklären, ist im Begriff, neue Opfer zu produzieren. Auch der über weite Strecken eindrückliche Abschlussbericht von Burgsmüller/Tilmann macht da keine Ausnahme. Die Autorinnen haben offenkundig unter argem Zeitdruck gestanden, auch weil das auftraggebende Internat daran interessiert sein musste, schnellstmöglich aus den Schlagzeilen zu kommen und sich nicht vollends im Sumpf seiner unrühmlichen Vergangenheit zu verlieren."
Dem juristischen Team Burgsmüller/Tilmann hält Jens vor, sich bei der Beweiswürdigung über die Regeln der Kunst hinweggesetzt, "einseitig und hart an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit ermittelt" zu haben. ",Wir haben als Aufklärerinnen', schreiben die beiden ebenso selbstbewusst wie treuherzig, ,keine kunstgerechte Glaubhaftigkeitsprüfung vornehmen können und wollen.' Im Klartext: Kein Beschuldigter wurde je mit den Vorwürfen gegen die eigene Person konfrontiert. Keiner hatte die Chance der Gegenrede - oder des freimütigen Geständnisses."
Der genannte ehemalige Odenwaldschüler Gerhard Roese hat nun das Pech, im Buch von Jens als einer der unseriösesten Belastungszeugen vorgeführt zu werden. "Kein anderer hat das mediale Abbild der Missbrauchsfälle im Odenwald so nachdrücklich, so folgenreich geprägt wie Gerhard Roese. Er hat das öffentliche Erschaudern mit immer neuen Details des Horrors angeheizt." Demnach hatte Roese im vergangenen Jahr zunächst die Namen von neun Lehrern öffentlichkeitswirksam bekanntgegeben, bei denen er die Berichte im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch "aus eigener Anschauung und aus eigenem Erleben prinzipiell bestätigen" könne. Die beschuldigten Pädagogen setzten sich zur Wehr. Und was passierte? "Gerhard rudert zurück, diesmal allerdings unter Umgehung einer breiteren Öffentlichkeit." In Absprache mit seinem Anwalt erklärte der von "Fliege TV" bis "heute" medial allgegenwärtige Ankläger Roese nun ohne Mikrofon, er halte die Liste der von ihm genannten Täter mit Ausnahme der beiden notorischen Täter Gerold Becker und Wolfgang Held "nicht länger aufrecht und werde diese Namen Dritten gegenüber nicht mehr wiederholen". Die Entlasteten blieben freilich mit einem Hausverbot belegt.
Sowenig Vorgänge wie dieser letztendlich über Wahrheit und Lüge im Fall Odenwaldschule Aufschluss geben - Jens unterschätzt hier wiederum das Raffinement der juristischen Abwehrrhetorik -, so viel sagen sie über den Stil einer Faktenermittlung, die die "Glaubhaftigkeitsprüfung" (Burgsmüller/Tilmann) der Beweislage als entbehrliches Beiwerk versteht und lieber eine Generalabrechnung mit dem System Odenwaldschule vornehmen möchte.
Das plädoyerhafte Buch von Jens nennt, wo es zu Vorverurteilungen kam, Ross und Reiter. Es nimmt dem Skandal nicht seine Spitze. Aber es ist das Korrektiv einer Unkultur des Verdachts, die in medialer Echtzeit die Gebote der Aufklärung über den Haufen rennt. Gerhard Roese hat keinen Grund, sich darüber zu beschweren.
CHRISTIAN GEYER
Tilman Jens: "Freiwild". Die Odenwaldschule - Ein Lehrstück von Opfern und Tätern.
Güterloher Verlagshaus, Gütersloh 2011. 192 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2011Der Täter hat sich wie wenige andere in Kinder hineindenken können
Kampf den „Verschwörungstheorien“: Der Autor Tilman Jens, selbst Absolvent der Odenwaldschule, sieht im sexuellen Missbrauch von Schülern kein System, sondern „Tragik“
Tilman Jens, nach Schulproblemen an einem Tübinger Gymnasium seit 1972 selbst Schüler der Odenwaldschule in den letzten Jahren vor dem Abitur, versucht sich an einem riskanten „Lehr-stück“: Die Rollen von Tätern und Opfern im Missbrauchs-Skandal an der hessischen Reformschule – in der Öffentlichkeit schon eindeutig zugewiesen – werden von ihm radikal problematisiert, Opfer werden zu Tätern, Täter zu Opfern, beide zum „Freiwild“ der öffentlichen Behandlung des Themas, so der Titel des Buches. Überzeugt die Inszenierung? Ist die Debatte eines neues Exempel für „erregte Aufklärung“, die Katharina Rutschky, offenbar Vorbild des Autors, für den Kindesmissbrauch in Familien schon früher analysiert hatte?
Jens beginnt literarisch und autobiographisch; er lässt Bilder vom „Paradies“ entstehen, das Internate sein können, wenn man nur Erich Kästner und dem guten Lehrer Bökh folgt oder sich, wie Jens sein eigenes Schicksal erinnert, vor dem „leibhaftigen Stadtschul-Pauker in Tübingen“ an die Odenwaldschule („OSO“) und zu Gerold Becker, dem „Wahlverwandten Johann Bökhs“ retten kann. Hier findet er sein Musterbild des Aufwachsens in Gemeinschaft, vor allem in einem Text von Gerold Becker über „Soziales Lernen als Problem der Schule“. Dieser hatte sich dabei allerdings nur „Zur Frage der Internatserziehung“ geäußert, aber nicht das „erfrischend rebellische Curriculum, das auf Ober-Hambachs Höhen gepflegt wurde“ insgesamt dargestellt, wie Jens sagt, sondern nur einen Ausschnitt: „40 Aufgaben für das Soziale Lernen“, so Becker selbst, ganz ohne einen Blick auf den Unterricht, über dessen Bedeutung – Gleich- oder Nachrangigkeit – dann in der Schule selbst Konflikte entstehen, von deren Bedeutung Jens nichts sagt. Er beschreibt die Odenwaldschule als eine Becker-Schule: „Die Odenwaldschule, das bin ich.“
Dieses Bild der OSO als „Paradies“, wird der „Hölle“ kontrastiert, das die Öffentlichkeit heute von der Schule zeichnet, nicht zuletzt wegen der unbestreitbaren und nicht nur vereinzelten Praktiken des sexuellen Missbrauchs, die Becker und andere Lehrer sich haben zuschulden kommen lassen. Diese Praktiken werden auch von Tilman Jens nicht verschwiegen, die „Hölle“ wird so deutlich beschrieben wie „Vibratoren statt Kanonen“ als Indizien einer libertären, dann problematischen Sexualmoral. Auch dass der im Juli 2010 verstorbene Gerold Becker im Zentrum der Missbrauchs-Praktiken und deshalb zu Recht im Zentrum der öffentlichen Kritik steht, das erfährt man in diesem Buch.
Aber schon hier, in der Chronik des Elends, beginnt die eigenartige Praxis der Deutung von Ereignissen, in der aus scheinbar distanzierter Beobachtung zunehmend Apologie wird. Das argumentative Muster sieht aus wie eine methodisch notwendige Historisierung; aber der Duktus wird dabei narrativ, biographisierend und exkulpierend. „Von heutigem Kenntnisstand aus gelesen“ ist zum Beispiel eine Becker-Festrede von 1978 auf Astrid Lindgren „gespenstisch“, die Diskrepanz von heiler Kindwelt-Rhetorik zur „unheilen Welt“, die Becker selbst zeichnete, wird aber als „Läuterungsübung von hohem moralischen Anspruch“ gelobt, die Diskrepanz zum eigenen Becker-Verhalten ist „tragisch“.
Das Tragische wird in diesem Buch überhaupt eine Attribuierung, die das Urteil über Becker grundiert. Aber die Frage, ob es wirklich unverdientes Leiden ist, wie man es dem Tragischen zuschreibt, das deshalb nicht nur Furcht, sondern zugleich Mitleid wecken kann, das wird nicht diskutiert. Jens reicht es offenbar, dass man Mitlied haben kann mit einer „Lichtgestalt der Reformpädagogik“ und der „tragischen Ambivalenz“, in der Becker zwischen Programm und Praxis lebte. Das Mitleid bleibt, auch wenn die Selbstrechtfertigung, wie Jens selbst sagt, dem bekannten Muster folgt: „Schuldig sind immer die anderen“. Trotz allem gelte: „Gewiss – und das bleibt: Er hat sich, wie wenige andere, in Kinder hineindenken können.“
Vergleichbares Verständnis finden diejenigen nicht, denen Jens zuschreibt, „Sündenböcke“ zu konstruieren, auch nicht die, deren Erklärungen er den Charakter von „Verschwörungstheorien“ zuschreibt. Für die erste Gruppe steht exemplarisch eines der Opfer, der der Öffentlichkeit zunächst neun Lehrer benannt hat, die ihn missbraucht haben, dann aber die Zahl reduziert, wie Jens detailliert nachzeichnet. „False memory“ schreibt er solchen Opfern zu, die zu Tätern werden, weil die Öffentlichkeit die Korrektur nicht wahrnimmt. Dann wäre aber die Öffentlichkeit, die mediale zumal, der Täter; für Jens aber bildet der missbrauchte Schüler das „Lehrstück“, nämlich „über Wahrheit und Lüge, über Erinnerung und Verdrängung“. Das ist aber eine höchst problematische Zuschreibung, weil Erinnern und Vergessen nicht im Dual von Wahrheit und Lüge aufgehen.
Mitfühlend beschreibt Tilman Jens wiederum, wie ehemalige Lehrer, die sich fälschlich beschuldigt finden, ihr Lebenswerk zerstört sehen, schon weil „die selbsternannten Richter (. . .) keine Unschuldsvermutung (kennen)“. Die „Verschwörungstheoretiker“ schließlich, vor allem sein journalistischer Kollege Christian Füller (SZ vom 16. März) oder ein Bildungshistoriker wie J. Oelkers, erfahren Kritik aus der Konfrontation von Zeitzeugenerinnerung mit Beobachterwissen. Aber hier historisiert Jens nicht, weder im Blick auf die Geschichte der Reformpädagogik insgesamt oder von Landerziehungsheimen (die saloppen Bemerkungen zum Schulgründer Paul Geheeb leisten das nicht) oder geschlossenen pädagogischen Einrichtungen, noch aus der Erfahrung von Erziehung in totalen Institutionen, zu denen Internate ohne Zweifel gehören.
Relationiert man so, dann erweist sich die eigene Erinnerung des Autors als ein bekanntes Muster, etwa im Vergleich mit Erinnerungen ehemaliger HJ-, BDM- oder FDJ-Mitglieder. Sie erinnern sich an die Interaktionserfahrung, an die Freude in der Gemeinschaft und die Freundschaften, aber die Funktionalisierung für das System ist ihnen nicht alltäglich präsent und – für die Zeit nach 1945 – auch die Differenz von Pionier-Freuden und schulischem Kontrollpraktiken nicht. Zeitzeugen, auch wenn sie sich als investigative Journalisten präsentieren, sind nicht nur keine guten Quellen, wie Historiker wissen, sie neigen offenbar auch dazu, schlechte Analytiker zu sein.
Nicht dass Tilman Jens auch nur den leisesten Zweifel daran ließe, dass er den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen so scharf verurteilt, wie das die Öffentlichkeit auch getan hat. Aber der Gang der Argumentation und seine Sprache im Detail verraten seine Präferenzen: Als „die wackere Schulleiterin“ wird Margarita Kaufmann abqualifiziert, die den Weg der Selbstkritik überhaupt erst eröffnete; eine andere Schulleiterin, nahe bei Becker, ist „eine kompetente, honorige Dame“. Zu der rhetorischen Zuspitzung tragen auch Zitate bei, die dem Buch wie den Kapiteln vorangestellt sind, so das Selbstzitat im Waschzettel: „Das also soll die Odenwaldschule gewesen sein, ein abgrundgeiles Freudenhaus, ein Knabenpuff mit Zwangsarbeit, als reformpädagogische Anstalt getarnt?" Das lässt sich in seiner unsinnigen Zuspitzung natürlich leicht entkräften. Vergleichbar wird die Kritik an der Täter-Kritik mit einem Zitat des Berliner Jesuiten Mertes vorab beglaubigt - aber die Sprache von Jens ist nicht die von Mertes.
Die Analyse des Autors überzeugt nicht: „Was haben wir gewusst damals, geahnt zumindest?“ fragt Jens; er weiß: “. . . wir hatten keine Begrifflichkeit für das, was geschah“; er räumt ein: „Zugegeben: ich bin befangen“ – aber wenn es zum Thema kommt, argumentiert er doch nur mit Geschichten, mit Biographisierung und dem Einzelfall, ohne analytische Distanz und Selbstkritik, immer bereit zum Mitleid für Gerold Becker und emphatischen Bekenntnissen zur Schule. Ohne hinreichend erörtert zu haben, was „System“ hier bedeuten könnte, ist er sich sicher: „Nein, die Regel war der Missbrauch nicht. Auch kein System“, allenfalls „die Unkultur des Wegschauens und die Nichtexistenz jeglicher Kontrollmechanismen“ – als wenn das keine systemischen Probleme wären.
Die Erklärungen des Autors bleiben die des OSO-Schülers: „Wir waren eine verschworene Gemeinschaft“, die Abwehr steht fest: Es war nicht diese Internatsschule, nicht die Lebensform der „Familie“ – „eine hermetisch nach außen abgeschirmte Zelle. Aber wir haben uns nichts dabei gedacht . . .“ – , nicht die Distanzlosigkeit der reformpädagogischen Kindheitsrhetorik, nicht die Grenzverwischung von Lehrer, Kamerad und Erzieher, von Unterricht und sozialem Lernen. Nein, es darf nicht dieses Syndrom einer pädagogisierten Lebenswelt ohne Selbstkritik gewesen sein (in der nur die Abgrenzung funktionierte: wie in „Salem“ wollte man auf keinen Fall sein). So wird es „ein persönliches Schicksal (. . .), die Tragik eines begabten Mannes, der mit seiner Triebstruktur nicht fertig wurde“. Und generalisierter fragende Kritiker kann man vorab diskreditieren: „Aber muss man deswegen gleich zur Sippenhaftung blasen?“, fragt Jens, um die Ausdehnung der Debatte auf den großen Pädagogen Hartmut von Hentig abzuwehren, den Freund von Gerold Becker.
Das muss man nicht, aber man sollte vielleicht die Referenzen deutlicher einführen, die jenseits der notwendigen moralischen Verurteilung auch historisch und theoretisch eine Diskussion ermöglichen. Historisch liefert Tilman Jens nichts, aber am Ende steht bei ihm der Abdruck des „Sokratischen Eids“, den Hartmut von Hentig für die Pädagogik formuliert. Er erinnert daran, dass das System der Erziehung seine Legitimation nicht aus dem Zeitgeist – etwa der wechselnden Sexualmoral und gegen den Muff der „Adenauer-Ära“ (Jens) – gewinnen will, sondern aus der Autonomie des Pädagogischen.
Diese Ethik wurde schon beansprucht, als die Odenwaldschule gegründet wurde, Reformpädagogen fühlten sich als ihre Protagonisten, am eigenen Maßstab und seiner Realität sollte man sie deshalb messen – das ist die ethische Dimension des Systemproblems. „Offenheit und Mut zur Differenzierung, Augenmaß bei der Aufarbeitung“ sind notwendig, aber nicht hinreichend. Eine Analyse zudem, die der individuellen Erinnerung und dem privaten Bild der Odenwaldschule verhaftet bleibt, reicht zur Erkenntnis nicht aus.
Am Ende ist Tilman Jens’ Buch deshalb doch eher ein Lehrstück über die Folgen fehlender Distanz in der Analyse problematischer Erziehungsverhältnisse als eine Kritik „der oft selbsternannten, gelegentlich übereifrigen Aufklärer und Verschwörungstheoretiker“. Zur Kritik pädagogischer Verhältnisse kann es gar nicht genug Aufklärung geben. HEINZ-ELMAR TENORTH
TILMAN JENS: Freiwild. Die Odenwaldschule – ein Lehrstück von Opfern und Tätern. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011. 192 Seiten, 17,99 Euro.
„Gespenstisch“: Aus der scheinbar
distanzierten Beobachtung wird
zunehmend eine Apologie
Ein Zeitzeugenproblem:
„Wir hatten keine Begrifflichkeit
für das, was geschah . . .“
Der Publizist Tilman Jens, Jahrgang 1954, der zuletzt über seinen dementen Vater Walter Jens geschrieben hatte, hat jetzt ein „Lehrstück“ über die Vorgänge an der reformpädagogischen Odenwaldschule verfasst. Einst erlebte er das Internat in Hessen als „erfrischend rebellisch“.
Fotos: laif, dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kampf den „Verschwörungstheorien“: Der Autor Tilman Jens, selbst Absolvent der Odenwaldschule, sieht im sexuellen Missbrauch von Schülern kein System, sondern „Tragik“
Tilman Jens, nach Schulproblemen an einem Tübinger Gymnasium seit 1972 selbst Schüler der Odenwaldschule in den letzten Jahren vor dem Abitur, versucht sich an einem riskanten „Lehr-stück“: Die Rollen von Tätern und Opfern im Missbrauchs-Skandal an der hessischen Reformschule – in der Öffentlichkeit schon eindeutig zugewiesen – werden von ihm radikal problematisiert, Opfer werden zu Tätern, Täter zu Opfern, beide zum „Freiwild“ der öffentlichen Behandlung des Themas, so der Titel des Buches. Überzeugt die Inszenierung? Ist die Debatte eines neues Exempel für „erregte Aufklärung“, die Katharina Rutschky, offenbar Vorbild des Autors, für den Kindesmissbrauch in Familien schon früher analysiert hatte?
Jens beginnt literarisch und autobiographisch; er lässt Bilder vom „Paradies“ entstehen, das Internate sein können, wenn man nur Erich Kästner und dem guten Lehrer Bökh folgt oder sich, wie Jens sein eigenes Schicksal erinnert, vor dem „leibhaftigen Stadtschul-Pauker in Tübingen“ an die Odenwaldschule („OSO“) und zu Gerold Becker, dem „Wahlverwandten Johann Bökhs“ retten kann. Hier findet er sein Musterbild des Aufwachsens in Gemeinschaft, vor allem in einem Text von Gerold Becker über „Soziales Lernen als Problem der Schule“. Dieser hatte sich dabei allerdings nur „Zur Frage der Internatserziehung“ geäußert, aber nicht das „erfrischend rebellische Curriculum, das auf Ober-Hambachs Höhen gepflegt wurde“ insgesamt dargestellt, wie Jens sagt, sondern nur einen Ausschnitt: „40 Aufgaben für das Soziale Lernen“, so Becker selbst, ganz ohne einen Blick auf den Unterricht, über dessen Bedeutung – Gleich- oder Nachrangigkeit – dann in der Schule selbst Konflikte entstehen, von deren Bedeutung Jens nichts sagt. Er beschreibt die Odenwaldschule als eine Becker-Schule: „Die Odenwaldschule, das bin ich.“
Dieses Bild der OSO als „Paradies“, wird der „Hölle“ kontrastiert, das die Öffentlichkeit heute von der Schule zeichnet, nicht zuletzt wegen der unbestreitbaren und nicht nur vereinzelten Praktiken des sexuellen Missbrauchs, die Becker und andere Lehrer sich haben zuschulden kommen lassen. Diese Praktiken werden auch von Tilman Jens nicht verschwiegen, die „Hölle“ wird so deutlich beschrieben wie „Vibratoren statt Kanonen“ als Indizien einer libertären, dann problematischen Sexualmoral. Auch dass der im Juli 2010 verstorbene Gerold Becker im Zentrum der Missbrauchs-Praktiken und deshalb zu Recht im Zentrum der öffentlichen Kritik steht, das erfährt man in diesem Buch.
Aber schon hier, in der Chronik des Elends, beginnt die eigenartige Praxis der Deutung von Ereignissen, in der aus scheinbar distanzierter Beobachtung zunehmend Apologie wird. Das argumentative Muster sieht aus wie eine methodisch notwendige Historisierung; aber der Duktus wird dabei narrativ, biographisierend und exkulpierend. „Von heutigem Kenntnisstand aus gelesen“ ist zum Beispiel eine Becker-Festrede von 1978 auf Astrid Lindgren „gespenstisch“, die Diskrepanz von heiler Kindwelt-Rhetorik zur „unheilen Welt“, die Becker selbst zeichnete, wird aber als „Läuterungsübung von hohem moralischen Anspruch“ gelobt, die Diskrepanz zum eigenen Becker-Verhalten ist „tragisch“.
Das Tragische wird in diesem Buch überhaupt eine Attribuierung, die das Urteil über Becker grundiert. Aber die Frage, ob es wirklich unverdientes Leiden ist, wie man es dem Tragischen zuschreibt, das deshalb nicht nur Furcht, sondern zugleich Mitleid wecken kann, das wird nicht diskutiert. Jens reicht es offenbar, dass man Mitlied haben kann mit einer „Lichtgestalt der Reformpädagogik“ und der „tragischen Ambivalenz“, in der Becker zwischen Programm und Praxis lebte. Das Mitleid bleibt, auch wenn die Selbstrechtfertigung, wie Jens selbst sagt, dem bekannten Muster folgt: „Schuldig sind immer die anderen“. Trotz allem gelte: „Gewiss – und das bleibt: Er hat sich, wie wenige andere, in Kinder hineindenken können.“
Vergleichbares Verständnis finden diejenigen nicht, denen Jens zuschreibt, „Sündenböcke“ zu konstruieren, auch nicht die, deren Erklärungen er den Charakter von „Verschwörungstheorien“ zuschreibt. Für die erste Gruppe steht exemplarisch eines der Opfer, der der Öffentlichkeit zunächst neun Lehrer benannt hat, die ihn missbraucht haben, dann aber die Zahl reduziert, wie Jens detailliert nachzeichnet. „False memory“ schreibt er solchen Opfern zu, die zu Tätern werden, weil die Öffentlichkeit die Korrektur nicht wahrnimmt. Dann wäre aber die Öffentlichkeit, die mediale zumal, der Täter; für Jens aber bildet der missbrauchte Schüler das „Lehrstück“, nämlich „über Wahrheit und Lüge, über Erinnerung und Verdrängung“. Das ist aber eine höchst problematische Zuschreibung, weil Erinnern und Vergessen nicht im Dual von Wahrheit und Lüge aufgehen.
Mitfühlend beschreibt Tilman Jens wiederum, wie ehemalige Lehrer, die sich fälschlich beschuldigt finden, ihr Lebenswerk zerstört sehen, schon weil „die selbsternannten Richter (. . .) keine Unschuldsvermutung (kennen)“. Die „Verschwörungstheoretiker“ schließlich, vor allem sein journalistischer Kollege Christian Füller (SZ vom 16. März) oder ein Bildungshistoriker wie J. Oelkers, erfahren Kritik aus der Konfrontation von Zeitzeugenerinnerung mit Beobachterwissen. Aber hier historisiert Jens nicht, weder im Blick auf die Geschichte der Reformpädagogik insgesamt oder von Landerziehungsheimen (die saloppen Bemerkungen zum Schulgründer Paul Geheeb leisten das nicht) oder geschlossenen pädagogischen Einrichtungen, noch aus der Erfahrung von Erziehung in totalen Institutionen, zu denen Internate ohne Zweifel gehören.
Relationiert man so, dann erweist sich die eigene Erinnerung des Autors als ein bekanntes Muster, etwa im Vergleich mit Erinnerungen ehemaliger HJ-, BDM- oder FDJ-Mitglieder. Sie erinnern sich an die Interaktionserfahrung, an die Freude in der Gemeinschaft und die Freundschaften, aber die Funktionalisierung für das System ist ihnen nicht alltäglich präsent und – für die Zeit nach 1945 – auch die Differenz von Pionier-Freuden und schulischem Kontrollpraktiken nicht. Zeitzeugen, auch wenn sie sich als investigative Journalisten präsentieren, sind nicht nur keine guten Quellen, wie Historiker wissen, sie neigen offenbar auch dazu, schlechte Analytiker zu sein.
Nicht dass Tilman Jens auch nur den leisesten Zweifel daran ließe, dass er den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen so scharf verurteilt, wie das die Öffentlichkeit auch getan hat. Aber der Gang der Argumentation und seine Sprache im Detail verraten seine Präferenzen: Als „die wackere Schulleiterin“ wird Margarita Kaufmann abqualifiziert, die den Weg der Selbstkritik überhaupt erst eröffnete; eine andere Schulleiterin, nahe bei Becker, ist „eine kompetente, honorige Dame“. Zu der rhetorischen Zuspitzung tragen auch Zitate bei, die dem Buch wie den Kapiteln vorangestellt sind, so das Selbstzitat im Waschzettel: „Das also soll die Odenwaldschule gewesen sein, ein abgrundgeiles Freudenhaus, ein Knabenpuff mit Zwangsarbeit, als reformpädagogische Anstalt getarnt?" Das lässt sich in seiner unsinnigen Zuspitzung natürlich leicht entkräften. Vergleichbar wird die Kritik an der Täter-Kritik mit einem Zitat des Berliner Jesuiten Mertes vorab beglaubigt - aber die Sprache von Jens ist nicht die von Mertes.
Die Analyse des Autors überzeugt nicht: „Was haben wir gewusst damals, geahnt zumindest?“ fragt Jens; er weiß: “. . . wir hatten keine Begrifflichkeit für das, was geschah“; er räumt ein: „Zugegeben: ich bin befangen“ – aber wenn es zum Thema kommt, argumentiert er doch nur mit Geschichten, mit Biographisierung und dem Einzelfall, ohne analytische Distanz und Selbstkritik, immer bereit zum Mitleid für Gerold Becker und emphatischen Bekenntnissen zur Schule. Ohne hinreichend erörtert zu haben, was „System“ hier bedeuten könnte, ist er sich sicher: „Nein, die Regel war der Missbrauch nicht. Auch kein System“, allenfalls „die Unkultur des Wegschauens und die Nichtexistenz jeglicher Kontrollmechanismen“ – als wenn das keine systemischen Probleme wären.
Die Erklärungen des Autors bleiben die des OSO-Schülers: „Wir waren eine verschworene Gemeinschaft“, die Abwehr steht fest: Es war nicht diese Internatsschule, nicht die Lebensform der „Familie“ – „eine hermetisch nach außen abgeschirmte Zelle. Aber wir haben uns nichts dabei gedacht . . .“ – , nicht die Distanzlosigkeit der reformpädagogischen Kindheitsrhetorik, nicht die Grenzverwischung von Lehrer, Kamerad und Erzieher, von Unterricht und sozialem Lernen. Nein, es darf nicht dieses Syndrom einer pädagogisierten Lebenswelt ohne Selbstkritik gewesen sein (in der nur die Abgrenzung funktionierte: wie in „Salem“ wollte man auf keinen Fall sein). So wird es „ein persönliches Schicksal (. . .), die Tragik eines begabten Mannes, der mit seiner Triebstruktur nicht fertig wurde“. Und generalisierter fragende Kritiker kann man vorab diskreditieren: „Aber muss man deswegen gleich zur Sippenhaftung blasen?“, fragt Jens, um die Ausdehnung der Debatte auf den großen Pädagogen Hartmut von Hentig abzuwehren, den Freund von Gerold Becker.
Das muss man nicht, aber man sollte vielleicht die Referenzen deutlicher einführen, die jenseits der notwendigen moralischen Verurteilung auch historisch und theoretisch eine Diskussion ermöglichen. Historisch liefert Tilman Jens nichts, aber am Ende steht bei ihm der Abdruck des „Sokratischen Eids“, den Hartmut von Hentig für die Pädagogik formuliert. Er erinnert daran, dass das System der Erziehung seine Legitimation nicht aus dem Zeitgeist – etwa der wechselnden Sexualmoral und gegen den Muff der „Adenauer-Ära“ (Jens) – gewinnen will, sondern aus der Autonomie des Pädagogischen.
Diese Ethik wurde schon beansprucht, als die Odenwaldschule gegründet wurde, Reformpädagogen fühlten sich als ihre Protagonisten, am eigenen Maßstab und seiner Realität sollte man sie deshalb messen – das ist die ethische Dimension des Systemproblems. „Offenheit und Mut zur Differenzierung, Augenmaß bei der Aufarbeitung“ sind notwendig, aber nicht hinreichend. Eine Analyse zudem, die der individuellen Erinnerung und dem privaten Bild der Odenwaldschule verhaftet bleibt, reicht zur Erkenntnis nicht aus.
Am Ende ist Tilman Jens’ Buch deshalb doch eher ein Lehrstück über die Folgen fehlender Distanz in der Analyse problematischer Erziehungsverhältnisse als eine Kritik „der oft selbsternannten, gelegentlich übereifrigen Aufklärer und Verschwörungstheoretiker“. Zur Kritik pädagogischer Verhältnisse kann es gar nicht genug Aufklärung geben. HEINZ-ELMAR TENORTH
TILMAN JENS: Freiwild. Die Odenwaldschule – ein Lehrstück von Opfern und Tätern. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011. 192 Seiten, 17,99 Euro.
„Gespenstisch“: Aus der scheinbar
distanzierten Beobachtung wird
zunehmend eine Apologie
Ein Zeitzeugenproblem:
„Wir hatten keine Begrifflichkeit
für das, was geschah . . .“
Der Publizist Tilman Jens, Jahrgang 1954, der zuletzt über seinen dementen Vater Walter Jens geschrieben hatte, hat jetzt ein „Lehrstück“ über die Vorgänge an der reformpädagogischen Odenwaldschule verfasst. Einst erlebte er das Internat in Hessen als „erfrischend rebellisch“.
Fotos: laif, dpa
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Empört reagiert Jörg Schindler auf Tilman Jens' Buch über den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule, das für ihn einen "gründlich misslungenen" Versuch darstellt, den Skandal aufzuarbeiten. Dem Sohn von Walter Jens, der selbst als Schüler an der Odenwaldschule war und heute, wie er - in den Augen des Rezensenten "verschämt" - offenbart, in dessen Trägerverein sitzt, ist es offensichtlich nicht um Aufklärung, sondern maßgeblich um eine Apologie der Schule zu tun, stellt Schindler verärgert fest. Der Autor bediene sich einer beliebten Politikerstrategie, nämlich nur das zuzugeben, was sich nicht länger leugnen lässt, klagt Schindler. Es erzürnt ihn maßlos, dass Jens den Anschein erwecken will, "so schlimm" sei alles nicht gewesen und Täter und Mitwisser von damals würden nun durch die Opfer und übereifrige Journalisten ihrerseits zu "Freiwild". Dem Autor geht es hier gar nicht um Fragen nach "Schuld und Verantwortung", sondern allein um die Verteidigung der Schule, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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