Am Anfang steht ein Mord. Daniel Stillmann, Student im siebten Semester der Mathematikwissenschaft, mag keine Probleme, für die es genau zwei einander widersprechende Lösungen gibt.
Als er Zeuge eines Verbrechens an der Kreuzberger Admiralsbrücke wird, lässt ihn die kalte Logik seiner Formeln im Stich. Er steht vor einer großen Unbekannten, gerät in eine Sprirale aus Angst und fürchtet immer mehr, die Geschichte eines anderen zu leben. Die Grenzen der Geschlechter erweisen sich als ebenso unzuverlässig wie die Naturgesetze von Raum und Zeit.
Als er Zeuge eines Verbrechens an der Kreuzberger Admiralsbrücke wird, lässt ihn die kalte Logik seiner Formeln im Stich. Er steht vor einer großen Unbekannten, gerät in eine Sprirale aus Angst und fürchtet immer mehr, die Geschichte eines anderen zu leben. Die Grenzen der Geschlechter erweisen sich als ebenso unzuverlässig wie die Naturgesetze von Raum und Zeit.
Gemeinschaftskunde: Antje Rávic Strubel springt im Erzähldreieck
Der Sturm tobt vorbildlich. Die Nacht ist ordnungsgemäß schwarz, die Äste der Kastanien klopfen böse ans Fenster. Alles ist bereitet für Szene eins eines Roman noir. "Nachtstück" nennt Antje Rávic Strubel ihre Prosaübung "Fremd Gehen" im Untertitel. Es ist ihr dritter Roman innerhalb eines Jahres. Man müßte diese Produktivität bewundern, wäre das Ergebnis nicht so dünn. In Handkescher Diktion könnte man das Stück als Versuch über den Kriminalroman bezeichnen. Mehr als ein Exerzitium in Sachen "Wie denke ich mir eine Geschichte aus und worüber um Himmels willen soll ich bloß schreiben?" ist nicht dabei herausgekommen.
Man nehme einen an die Berechenbarkeit der Dinge glaubenden Mathematikstudenten und stelle ihn ans Fenster. Man nenne ihn Daniel Stillmann, weil er so still dasteht und wahrnimmt. Drunten schiebt sich ein alter Mann in den Lichtkreis der Laterne auf der Kreuzberger Admiralsbrücke. Berlinroman, genau! Der Alte trägt den zum Namen der Brücke passenden Marinemantel und blickt bedrohlich nach oben, genau dorthin, wo Daniel steht. Das kann kein Zufall sein. Doch die mathematische Formel, mit der die Zusammenhänge sich klären ließen, fehlt. Daniel ist verwirrt und verängstigt. Am nächsten Tag ist das Kanalufer polizeilich abgesperrt. Ein Ohrläppchen und ein Unterschenkel werden gefunden. Zum kompletten Verbrechen fehlt jedoch der Rest der Leiche.
Das klingt schrecklich ausgedacht, und das ist es auch: Die Erzählung, kaum begonnen, bricht ab. "Wir dachten uns, das wäre ein guter Anfang", meldet sich ein Erzählerduo zu Wort, das sich die beiden Nachtgestalten ausgedacht hat. Für ganz dumme Leser ist diese Erzählebene farblich abgesetzt in Grün gedruckt: Achtung, Achtung! Die Erzähler der Erzählung heißen Marlies und "Ich". "Ich", vermutlich ebenfalls eine junge Frau, ist in Marlies verliebt. Marlies erwidert diese Liebe nicht. "Ich" leidet darunter. Das Erfinden der beiden Kunstfiguren im nächtlichen Kreuzberg erscheint nun als verzweifelter Versuch der Erzählerinnen, im Erzählen eine Gemeinschaft herzustellen. Doch bald hat Marlies kein Interesse mehr an der Geschichte. Man kann das verstehen. Besonders aufregend ist sie nicht.
Antje Rávic Strubel demonstriert das Handwerk des Erfindens und Konstruierens. Sie zahlt dafür einen hohen Preis. Eine Geschichte, die von Anfang an als Fiktion vorgeführt wird, kann keine Sogkraft entwickeln; Spannung muß sich da auf andere Weise herstellen. Strubel versucht das, indem sie die Erzählebenen unmerklich übereinanderschiebt und ineinander spiegelt und alles verrätselt, was auch klar sein könnte. Daß die Zeit für Daniel plötzlich rückwärts läuft, hat vielleicht damit zu tun, daß sich die Imagination der Autorin vom Ereignis ausgehend langsam zu den Ursachen in die Vergangenheit zurücktastet. Zeit und Raum verschwimmen. Kein Wunder, daß die Geschichte jegliche Richtung verliert.
Marlies, unter deren Männergeschichten die Ich-Erzählerin stets zu leiden hatte, verschwindet spurlos. "Ich" muß nun alleine weitererzählen, obwohl es doch Marlies war, der die Oberhoheit über die Figuren zukam. Das Weiterphantasieren könnte als Versuch der Ich-Erzählerin gelesen werden, Marlies zurückzugewinnen und sich zugleich von ihr zu emanzipieren. Auch Daniel vermißt nun seine Freundin. Daß er dem Alten schließlich in dessen Wohnung folgt, hätte Marlies abgelehnt, erfährt der ratlose Leser. Aber warum? Weshalb hat Daniel soviel Angst? Ist er womöglich selbst der Mörder? Was wurde aus seiner reizenden Freundin mit den blonden Zöpfen? Hat der Alte nun seinen Sohn umgebracht oder bloß einen Politoffizier der DDR? Oder hat die Ich-Erzählerin Marlies auf dem Gewissen? Aber wen interessiert das eigentlich noch?
Leerstellen überall, Projektionen, Imaginationen, Konstruktionen. Der zentrale Satz, auf den das Geschehen sich zuquält, lautet: "Es ist so geheimnisvoll, wie alles, was leer ist." Doch Geheimniskonstruktion allein macht noch keine gelungene Literatur, vor allem dann nicht, wenn die konstatierte Leere mit bedeutungsschweren Sentenzen vollgestopft wird. Wo nichts ist, soll Tiefsinn wuchern. Am Ende heißt es in schöner Selbsterkenntnis: "Nichts wird sich verändern, und nichts kann kommen, was nicht schon gekommen ist." Da weiß man dann, warum man sich so gelangweilt hat. Immerhin gelangt die Erzählung damit in die Nähe der Ahnung ihres Scheiterns: "Alles wird immer schon dagewesen sein", so die letzte Bedeutungshuberei. "Nur die Bedeutungen können sich um wenige Grade verschieben, auch das ist die Kunst und die Trägheit der Sprache."
JÖRG MAGENAU
Antje Rávic Strubel: "Fremd Gehen". Ein Nachtstück. Marebuchverlag, Hamburg 2002. 192 S., geb., 18,- [Euro].
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»Kein atemberaubendes Doppelstudium, kein bemerkenswerter Familienhintergrund - aber das zur Zeit interessanteste Erzähltalent.«
(Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau über Antje Ravic Strubel)
(Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau über Antje Ravic Strubel)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Trotz einiger Kritik spricht Kai Martin Wiegand dem dritten Roman von Antje Ravic Strubel ein großes Lob aus. Nachdem der Anfang des Romans wie der eines konventionellen Krimis wirke, werde schnell klar, dass es sich dabei nur um die Erfindung zweier Freundinnen handele, die einen Roman schreiben. Nachdem die eine der Freundinnen verschwunden ist, schreibt die zweite allein weiter, und für sie beginnen Realität und Fiktion miteinander zu verschwimmen. Die Handlungsebene werde daher immer komplexer, und es sei überaus deutlich, dass es von diesem Punkt an nicht mehr um die Handlung an sich gehe, sondern vielmehr um "Interferenzen zwischen dem Schreiben und dem Leben". Ein einziges und deutlich gekennzeichnetes Konstrukt sei dieser Roman, so der Rezensent, und manches Mal wähle die Autorin vielleicht die falsche der von ihr aufgezeigten Alternativen, so dass es der Handlung an sich letztlich an Sinn fehle. Dennoch werde Strubels Talent hierin mehr als deutlich, besonders auch in ihrer hervorragenden Charakterzeichnung der Erzählerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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