In seinem philosophisch-literarischen Großessay führt Bailly die Beobachtungen und Reflexionen aus seinen Reisen auch in entlegene Gegenden Frankreichs zusammen, immer mit dem Ziel, die Identität der Republik zu erfassen und die in ihr gespiegelte Landschaft und Gesellschaft auf seine Weise zu kartografieren. Landschaftsbuch, Soziogramm und Reportage in einem, führt er uns von einer Fabrik für Fischernetze im alten Bordeaux zu Rodins Atelier in Meudon, von einem Karpfenteich in Fontainebleau, an dem Franz I. schon spielte, bis zu einem Gehöft in Roche, das 1918 von Deutschen gesprengt worden war. Bailly lässt sich führen und verführen von Leuten und Flüssen, Geschichten und Geschichte und legt ein buntes Mosaik des heutigen Frankreich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2017Denk ich ans Karpfenbecken von Fontainebleau
Genau der Blick, reich das Wissen, poetisch das Verfahren: Was Jean-Christophe Bailly sieht, wenn er Frankreich bereist
"Sie können zwanzig Jahre in Paris leben und doch nicht Frankreich kennen." So steht es in Stendhals "Mémoires d'un touriste", als Einsicht des Eisenhändlers, der dort von seinen Reisen in der französischen Provinz berichtet. Sie zielte darauf, dass sich abseits der Hauptstadt wirklich die Chance biete, Frankreich kennenzulernen, während in Paris dazu die Erfahrungen eines ganzen Lebens kaum ausreichten.
Wenn Jean-Christoph Bailly in seinem eigenen Buch der Reisen durch das heutige Frankreich die Sentenz Stendhals von 1838 zitiert, glaubt man ihn schon auf dem Weg, das gegenwärtige Verhältnis zwischen Hauptstadt und "tiefem Frankreich" zu behandeln. Doch weil man es bei diesem Essayisten, Erzähler und Dichter, der von Haus aus Philosoph ist und an einer Grande École in Blois "Geschichte der Landschaft" lehrt, mit einem Autor zu tun hat, der recht genau weiß, wo Fragestellungen zu groß geraten und sich von konkreten Eindrücken und Erfahrungen loslösen, wird daraus eine andere Erkundung: Wo eigentlich beginnt das Frankreich jenseits von Paris?
Irgendwo hinter dem Périphérique, dem Stadtautobahnring, mag die Antwort lauten. Aber was das genauer bedeuten könnte, erschließt sich (vielleicht) erst demjenigen, der sich auf den Weg macht, etwa einmal nicht einfach in die Schnellbahn steigt, um von einer Vorstadt zurück nach Paris zu fahren, sondern sich im Umkreis der Stationen umsieht und - es lässt sich ja da und dort machen - zu Fuß den Gürtel des Périphérique überwindet.
Das ist eine der Reisen und Wanderungen, die Bailly in den Jahren 2008 bis 2010 unternommen hat (das Buch erschien im Original im Jahr darauf). Paris berühren sie an der Banlieue, mit nur kurzen Übertritten in die Stadt, um sich dann gleich wieder der Provinz, ihren Städten, Städtchen und Landschaften, zuzuwenden. Mit einem Text, der sich gar nicht so einfach charakterisieren lässt. Das geht manchmal in Richtung Essay, versetzt mit unvorhersehbaren Abschweifungen, erreicht aber auch oft die Evokationsfülle des Prosagedichts, bleibt mitunter beim Notat.
Der durchgehende Anspruch ist es, nahe an den Dingen und den von ihnen angestoßenen, von persönlichen wie historischen Erinnerungsspuren durchquerten Erfahrungen zu bleiben. Oder wie es Bailly auch formuliert, glaubhaft werden zu lassen, dass sich sein Schreiben dem Diktat der von ihm wahrgenommenen Welt verdankt. Woraus schon ersichtlich ist, dass man es bei diesem Buch nicht etwa mit einer aufgelockerten Form der Landeskunde zu tun hat. Dass der Verlag es unter seine Sachbücher reiht, lädt fast schon zu Missverständnissen ein.
Man lernt über die besuchten Orte und ihre Geschichte bei Bailly beiläufig zwar vieles, doch nicht davon lebt im Grunde der Text. Um es nur scheinbar paradox zu formulieren: Gerade weil er so nahe, und in seiner Formgebung äußerst bewusst, an den Gegenständen operiert, geht er in diesen nicht auf. Man muss nicht einmal Erfahrungen mit Frankreich haben oder suchen, um ihn als poetisches Exerzitium zu schätzen.
Selbst wenn es zuerst Frankreich zugeneigte Leser sein werden, die diesen Band zur Hand nehmen. Um dann mit dem Autor, der auch an bekannten, touristisch erschlossenen Orten nicht ganz vorbeigeht, etwa an einem Wintermorgen durch Schloss Fontainebleau zu streifen. Aber eben nicht so, wie man es mit einem noch so kundigen und belesenen Cicerone tun würde. In Baillys Fall ist da zuerst eine tiefliegende Reminiszenz, die mit dem dortigen Karpfenbecken zusammenhängt, an welche sich wiederum Erinnerungen knüpfen, wie dem Kind die große französische Geschichte nahegebracht wurde, um dann aber nicht bei Miniaturen zu Franz I. oder dem abdankenden Napoléon zu enden, sondern auf dem Weg zurück zum Bahnhof an "unergründlich tristem Ort" die Namen der Geschäfte zu notieren, "Speed Auto" und "Royal Canin", nachdem er vorher schon das Fitnesscenter Club du Château gleich neben dem Schloss ins Auge gefasst hatte.
Um solches Ineinander von Zeitschichten, denen Bilder, Überlieferungen und Spuren - in Objekten, Landschaften oder auch nur noch in Namen - entsprechen, geht es oft: um das Wiederauftauchen von Vergangenheiten an die betrachtete Oberfläche. Gleich nach dem Gang durch Fontainebleau zeigt es Bailly in einem Kapitel, das im Städtchen Varennes seinen Ausgang nimmt, wo die flüchtende königliche Familie im Sommer 1791 festgesetzt wurde, mit weltgeschichtlichen Folgen. Da ist die "große offizielle Geschichte" berührt, "doch verschmolzen und verwoben mit Winkeln, Käffern, mehr oder weniger entlegenen Dörfern". Am Rande auch mit einem Dorf, von dem Goethe 1792 in seiner "Kampagne in Frankreich" berichtet. Nicht weit davon entfernt in diesem nordöstlichen Frankreich, im Argonner Wald, liegt eine Gedenkstätte für im Ersten Weltkrieg gefallene amerikanische Soldaten, aber auch ein Städtchen, das 1870 eine Schlacht zwischen Frankreich und Preußen über sich ergehen lassen musste; in den nahen Ardennen brachen die Deutschen 1940 ins Innere Frankreichs durch; man kommt durch den Landstrich, in dem Rimbaud aufwuchs.
Ein solches Resümee der verknüpften Orte nimmt sich freilich viel durchsichtiger, auch schwerfälliger aus, als es Baillys konkrete Vergegenwärtigungen sind. Er muss dazu nicht über Dörfer ziehen, sondern kann auch, wie gleich zu Beginn, all die Fangvorrichtungen für Tiere mustern, die ein Spezialgeschäft in Bordeaux anbietet, um daraus zwanglos Betrachtungen über die Listen der Jagd zu gewinnen, in denen sich landschaftliche Besonderheiten genauso niederschlagen wie das Verhalten der Tiere - und die "unentwirrbare und rätselhafte Verbindung von Land und Blut", faszinierend und abschreckend in einem.
Man hat es mit einem Autor von literarischem Format zu tun, kundig zudem auf mehreren Terrains. Spät, aber doch, Bailly geht auf die siebzig zu, liegt nun ein erstes und auch noch stattliches Buch von ihm auf Deutsch vor. Und schön wäre es eigentlich, wenn ihm noch andere folgen würden, seine Essays über Tiere etwa, die übrigens auch in den "Reisen" nicht übergangen werden. Doch das Lob für den Verlag muss man gleich wieder einschränken. Denn die Übersetzung, die er vorlegt, lässt sehr zu wünschen übrig. Dass Baillys Text einfach zu übersetzen sei, wird niemand behaupten wollen, es gibt da manche etwas rätselhafte Wendung. Aber das entschuldigt nicht, was der deutschen Fassung alles an Ungeschicklichkeiten und Fehlern unterläuft.
Der Übersetzer ist imstande, nicht etwa die Fußgängerbrücke den Périphérique überspannen zu lassen, sondern die Treppe, die zu ihr führt (wofür dann sogar der Beginn des nächsten Satzes geändert wird); aus gleich darauf folgenden Kämpfen zwischen "groupes d'étudiants de diverses factions" werden solche "zwischen Studentengruppen unterschiedlicher aufrührerischer Gruppen", aus erlebten Szenen "[qui] se détachent d'elles mêmes pour produire une sorte de fiction stationnaire" werden "Szenen, die von selbst abheben, um eine Art ortsgebundene Fiktion zu erzeugen", aus einem Effekt "facilement mais si efficacement obtenu" wird ein "leichter, aber sehr wirksamer" Effekt, wenn Rodin Wege "presque tactilement" kennt, wird daraus, dass er von den Wegen "eine beinahe fassbare Kenntnis besaß", in Verdun focht man einen "Positionskrieg", aus einer erbaulichen ("édifiant") Genreszene à la Greuze wird eine "aufschlussreiche", "papier vergé" ist "Papier mit Wasserzeichen".
Und so fort. Dass aus den im französischen Text einmal eingefügten Davidsternen - wenn Bailly die Inschriften auf Soldatengräbern des "Großen Kriegs" zitiert - Asteriske werden, die auf nichts verweisen, zeigt überdies die Sorgfalt des Verlags. Will der sein Ansehen als Ort für französische Literatur wahren, sollte er gleich an eine Überarbeitung der Übersetzung gehen, auf dass die zweite Auflage sich besser aus der Affäre zieht. Denn diesem Autor mit genauem Blick für die Dinge wie für den Text, den sie anstoßen, folgt man gern auf seinen manchmal etwas gewundenen Wegen.
HELMUT MAYER
Jean-Christophe Bailly: "Fremd gewordenes Land". Streifzüge durch Frankreich. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
461 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Genau der Blick, reich das Wissen, poetisch das Verfahren: Was Jean-Christophe Bailly sieht, wenn er Frankreich bereist
"Sie können zwanzig Jahre in Paris leben und doch nicht Frankreich kennen." So steht es in Stendhals "Mémoires d'un touriste", als Einsicht des Eisenhändlers, der dort von seinen Reisen in der französischen Provinz berichtet. Sie zielte darauf, dass sich abseits der Hauptstadt wirklich die Chance biete, Frankreich kennenzulernen, während in Paris dazu die Erfahrungen eines ganzen Lebens kaum ausreichten.
Wenn Jean-Christoph Bailly in seinem eigenen Buch der Reisen durch das heutige Frankreich die Sentenz Stendhals von 1838 zitiert, glaubt man ihn schon auf dem Weg, das gegenwärtige Verhältnis zwischen Hauptstadt und "tiefem Frankreich" zu behandeln. Doch weil man es bei diesem Essayisten, Erzähler und Dichter, der von Haus aus Philosoph ist und an einer Grande École in Blois "Geschichte der Landschaft" lehrt, mit einem Autor zu tun hat, der recht genau weiß, wo Fragestellungen zu groß geraten und sich von konkreten Eindrücken und Erfahrungen loslösen, wird daraus eine andere Erkundung: Wo eigentlich beginnt das Frankreich jenseits von Paris?
Irgendwo hinter dem Périphérique, dem Stadtautobahnring, mag die Antwort lauten. Aber was das genauer bedeuten könnte, erschließt sich (vielleicht) erst demjenigen, der sich auf den Weg macht, etwa einmal nicht einfach in die Schnellbahn steigt, um von einer Vorstadt zurück nach Paris zu fahren, sondern sich im Umkreis der Stationen umsieht und - es lässt sich ja da und dort machen - zu Fuß den Gürtel des Périphérique überwindet.
Das ist eine der Reisen und Wanderungen, die Bailly in den Jahren 2008 bis 2010 unternommen hat (das Buch erschien im Original im Jahr darauf). Paris berühren sie an der Banlieue, mit nur kurzen Übertritten in die Stadt, um sich dann gleich wieder der Provinz, ihren Städten, Städtchen und Landschaften, zuzuwenden. Mit einem Text, der sich gar nicht so einfach charakterisieren lässt. Das geht manchmal in Richtung Essay, versetzt mit unvorhersehbaren Abschweifungen, erreicht aber auch oft die Evokationsfülle des Prosagedichts, bleibt mitunter beim Notat.
Der durchgehende Anspruch ist es, nahe an den Dingen und den von ihnen angestoßenen, von persönlichen wie historischen Erinnerungsspuren durchquerten Erfahrungen zu bleiben. Oder wie es Bailly auch formuliert, glaubhaft werden zu lassen, dass sich sein Schreiben dem Diktat der von ihm wahrgenommenen Welt verdankt. Woraus schon ersichtlich ist, dass man es bei diesem Buch nicht etwa mit einer aufgelockerten Form der Landeskunde zu tun hat. Dass der Verlag es unter seine Sachbücher reiht, lädt fast schon zu Missverständnissen ein.
Man lernt über die besuchten Orte und ihre Geschichte bei Bailly beiläufig zwar vieles, doch nicht davon lebt im Grunde der Text. Um es nur scheinbar paradox zu formulieren: Gerade weil er so nahe, und in seiner Formgebung äußerst bewusst, an den Gegenständen operiert, geht er in diesen nicht auf. Man muss nicht einmal Erfahrungen mit Frankreich haben oder suchen, um ihn als poetisches Exerzitium zu schätzen.
Selbst wenn es zuerst Frankreich zugeneigte Leser sein werden, die diesen Band zur Hand nehmen. Um dann mit dem Autor, der auch an bekannten, touristisch erschlossenen Orten nicht ganz vorbeigeht, etwa an einem Wintermorgen durch Schloss Fontainebleau zu streifen. Aber eben nicht so, wie man es mit einem noch so kundigen und belesenen Cicerone tun würde. In Baillys Fall ist da zuerst eine tiefliegende Reminiszenz, die mit dem dortigen Karpfenbecken zusammenhängt, an welche sich wiederum Erinnerungen knüpfen, wie dem Kind die große französische Geschichte nahegebracht wurde, um dann aber nicht bei Miniaturen zu Franz I. oder dem abdankenden Napoléon zu enden, sondern auf dem Weg zurück zum Bahnhof an "unergründlich tristem Ort" die Namen der Geschäfte zu notieren, "Speed Auto" und "Royal Canin", nachdem er vorher schon das Fitnesscenter Club du Château gleich neben dem Schloss ins Auge gefasst hatte.
Um solches Ineinander von Zeitschichten, denen Bilder, Überlieferungen und Spuren - in Objekten, Landschaften oder auch nur noch in Namen - entsprechen, geht es oft: um das Wiederauftauchen von Vergangenheiten an die betrachtete Oberfläche. Gleich nach dem Gang durch Fontainebleau zeigt es Bailly in einem Kapitel, das im Städtchen Varennes seinen Ausgang nimmt, wo die flüchtende königliche Familie im Sommer 1791 festgesetzt wurde, mit weltgeschichtlichen Folgen. Da ist die "große offizielle Geschichte" berührt, "doch verschmolzen und verwoben mit Winkeln, Käffern, mehr oder weniger entlegenen Dörfern". Am Rande auch mit einem Dorf, von dem Goethe 1792 in seiner "Kampagne in Frankreich" berichtet. Nicht weit davon entfernt in diesem nordöstlichen Frankreich, im Argonner Wald, liegt eine Gedenkstätte für im Ersten Weltkrieg gefallene amerikanische Soldaten, aber auch ein Städtchen, das 1870 eine Schlacht zwischen Frankreich und Preußen über sich ergehen lassen musste; in den nahen Ardennen brachen die Deutschen 1940 ins Innere Frankreichs durch; man kommt durch den Landstrich, in dem Rimbaud aufwuchs.
Ein solches Resümee der verknüpften Orte nimmt sich freilich viel durchsichtiger, auch schwerfälliger aus, als es Baillys konkrete Vergegenwärtigungen sind. Er muss dazu nicht über Dörfer ziehen, sondern kann auch, wie gleich zu Beginn, all die Fangvorrichtungen für Tiere mustern, die ein Spezialgeschäft in Bordeaux anbietet, um daraus zwanglos Betrachtungen über die Listen der Jagd zu gewinnen, in denen sich landschaftliche Besonderheiten genauso niederschlagen wie das Verhalten der Tiere - und die "unentwirrbare und rätselhafte Verbindung von Land und Blut", faszinierend und abschreckend in einem.
Man hat es mit einem Autor von literarischem Format zu tun, kundig zudem auf mehreren Terrains. Spät, aber doch, Bailly geht auf die siebzig zu, liegt nun ein erstes und auch noch stattliches Buch von ihm auf Deutsch vor. Und schön wäre es eigentlich, wenn ihm noch andere folgen würden, seine Essays über Tiere etwa, die übrigens auch in den "Reisen" nicht übergangen werden. Doch das Lob für den Verlag muss man gleich wieder einschränken. Denn die Übersetzung, die er vorlegt, lässt sehr zu wünschen übrig. Dass Baillys Text einfach zu übersetzen sei, wird niemand behaupten wollen, es gibt da manche etwas rätselhafte Wendung. Aber das entschuldigt nicht, was der deutschen Fassung alles an Ungeschicklichkeiten und Fehlern unterläuft.
Der Übersetzer ist imstande, nicht etwa die Fußgängerbrücke den Périphérique überspannen zu lassen, sondern die Treppe, die zu ihr führt (wofür dann sogar der Beginn des nächsten Satzes geändert wird); aus gleich darauf folgenden Kämpfen zwischen "groupes d'étudiants de diverses factions" werden solche "zwischen Studentengruppen unterschiedlicher aufrührerischer Gruppen", aus erlebten Szenen "[qui] se détachent d'elles mêmes pour produire une sorte de fiction stationnaire" werden "Szenen, die von selbst abheben, um eine Art ortsgebundene Fiktion zu erzeugen", aus einem Effekt "facilement mais si efficacement obtenu" wird ein "leichter, aber sehr wirksamer" Effekt, wenn Rodin Wege "presque tactilement" kennt, wird daraus, dass er von den Wegen "eine beinahe fassbare Kenntnis besaß", in Verdun focht man einen "Positionskrieg", aus einer erbaulichen ("édifiant") Genreszene à la Greuze wird eine "aufschlussreiche", "papier vergé" ist "Papier mit Wasserzeichen".
Und so fort. Dass aus den im französischen Text einmal eingefügten Davidsternen - wenn Bailly die Inschriften auf Soldatengräbern des "Großen Kriegs" zitiert - Asteriske werden, die auf nichts verweisen, zeigt überdies die Sorgfalt des Verlags. Will der sein Ansehen als Ort für französische Literatur wahren, sollte er gleich an eine Überarbeitung der Übersetzung gehen, auf dass die zweite Auflage sich besser aus der Affäre zieht. Denn diesem Autor mit genauem Blick für die Dinge wie für den Text, den sie anstoßen, folgt man gern auf seinen manchmal etwas gewundenen Wegen.
HELMUT MAYER
Jean-Christophe Bailly: "Fremd gewordenes Land". Streifzüge durch Frankreich. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
461 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2018LITERATUR
Das lebendige Zucken der Landschaft
In einem großen Essay erkundet der französische Schriftsteller Jean-Christophe Bailly sein „fremd gewordenes Land“.
Er schafft dabei ungeahnte Querverbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart
VON HELMUT BÖTTIGER
Ende der siebziger Jahre war Jean-Christophe Bailly für einige Zeit in New York, setzte sich der total absorbierenden amerikanischen Gegenwart aus und hielt dann doch für einen Moment inne. Er sah durch Zufall den Film „Die Spielregel“ von Jean Renoir aus dem Jahr 1939, und plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass er ja ein Franzose war. Dieser poetische, tragikomische Film wirkte auf so unverwechselbare Weise französisch, mit geheimen Codes, die wohl nur von solchermaßen sozialisierten Menschen zu entschlüsseln sind. Dies war der Auslöser für Baillys kaleidoskopartiges, das Französische sublim auslotende Buch „Le Dépaysement“ von 2011, dessen Titel charakteristischerweise nicht wörtlich ins Deutsche übernommen werden kann. „Fremd gewordenes Land“ trifft nun das Grundgefühl, das sich durch die Zeilen zieht. „Entlandung“, die abstrakt und hölzern wirkende mögliche deutsche Entsprechung, birgt in sich aber eine Mehrdeutigkeit, die man mitlesen sollte. Das Französische jedenfalls ist sich seiner selbst nicht mehr sicher, das stellt schon der Titel klar. Und das Entscheidende dabei sind nicht vordergründige politische Entwicklungen, sondern kulturelle Dispositionen.
Die Leselust, die dieses Buch erzeugt, entspringt einem essayistisch-literarischen Stil, der analytisch und poetisch zugleich ist. Dieses Schillernde, diese Lust an Zwischenräumen, diese Aussagekraft durch atmosphärisches Verdichten wird im deutschen Sprachraum eher selten gepflegt. Bailly knüpft an eine spezifische essayistische Tradition an, die Erkenntnis durch Beobachtung und Verknüpfung vermittelt. Sein Buch beginnt in Bordeaux, der Stadt zwischen den Wassern, an einer eher unscheinbaren Stelle: ein Fachgeschäft für Angel- und Fischfang-Bedarf führt ihn dazu, dem „Geist der wogenden Kräfte“ nachzuspüren. Der Glibber in den Reusen, „das lebendige Zucken der Landschaft“, wird zu einem allgemeineren Bild, das die französischen Kulturbewegungen insgesamt erfasst. Die Gegenüberstellung von Bordeaux als der Stadt der Fischreusen und Toulouse als der Stadt einer „Fischtreppe“, einem raffinierten Schleusensystem nicht nur für Lachse, geht über das bloße Lokalkolorit hinaus und ist typisch für die Wahrnehmungsweise Baillys.
Landschaft, Kultur und Geschichte sind in diesem Buch immer gleichzeitig präsent, sie bilden Assoziationsräume, die sich überschneiden und ergänzen. So kann der Ort, an dem Ludwig XVI. während der französischen Revolution verhaftet wurde, den Ausgangspunkt bilden für Erkundungen der Bildhauerei Auguste Rodins und des Außenseitertums Arthur Rimbauds.
Die Reise in das „traurige Loch“ von Rimbauds lothringischer Herkunft wird zu einer existenziellen Studie über Provinz und Entgrenzung und legt wie nebenbei auch die Quellen der Moderne frei. Die heutige Ruine an dem entlegenen Ort, an dem Rimbaud „Die Zeit in der Hölle“ schrieb, birgt in der Leere der umgebenden Landschaft immer noch jene Energie, die sie einmal freigesetzt hat. Bailly interpretiert an keiner Stelle Rimbauds Lyrik, er interpretiert die Landschaft, in die der Dichter hineinwuchs und die er als Nachempfindender heute vorfindet. Es sieht dabei vor allem „die Form der Dinge selbst, die Form der Landschaft, mit diesen großen, leicht gewellten Feldern, die wie ein endloser und zum Horizont ausgedehnter Sprechgesang anmuten.“
Das Programm von Baillys Frankreich-Streifzügen besteht darin, die heute „ausgestorbene Atmosphäre der Landgebiete“ noch einmal zu beschreiben. Wie die gesichtslose Kleinstadt Culoz, früher ein kleiner Eisenbahnknotenpunkt, hier geschildert ist, ein Ort ohne „Konsistenz, im Überleben verwässert“, zeigt eindringlich die Situation von „La France profonde“, dem viel beschworenen Kern der Nation.
Es gibt etliche Schilderungen, mit denen Bailly ungeahnte Querverbindungen schafft, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auch zwischen den Sprach- und Denkebenen. Die spektakuläre Quelle des Flusses Loue, aus einem tiefen Felsloch, unterliegt derselben Ästhetik wie das berühmte Bild über den „Ursprung der Welt“ des dort geborenen Malers Gustave Courbet, das in für diesen Künstler verblüffend konkreter Weise das weibliche Geschlechtsteil zeigt – spätestens durch Baillys äußerst anschauliche geologisch-geographische Beschwörung des Loue-Ursprungs wird das offenkundig.
Der „idyllisch-homerische Zustand“, den Goethe den französischen Landgebieten zusprach, ist mittlerweile nur noch in der Ideologie vorhanden, daran lässt Bailly keinen Zweifel. Die tatsächlich so heißende „Straße des Welt-Endes“ im bretonischen Lorient entfaltet in seiner Annäherung von selbst ihren symbolischen Gehalt, und wie endlose Zuckerrübenfelder und die dazugehörigen Fabriken im Tal der Oise von einem „freudlosen Land“ künden, glaubt man diesem Autor sofort. Die Oise bildet zeitweilig auch einen Hintergrund in Peter Handkes neuestem Epos „Die Obstdiebin“, und in ähnlicher Weise scheint bei Bailly im Flusstal der Oise doch noch etwas Anderes auf – im Bild der drei Mädchen am Flussufer etwa, das Robert Louis Stevenson vor mehr als hundert Jahren in Erinnerung behielt und das für Bailly heute „so nicht mehr vorstellbar“ ist, aber, so wie er hinsieht, wie ein Palimpsest weiter existiert.
Ein zunächst unscheinbarer, aber intensiv weiter wirkender Orientierungspunkt sind für den Autor die „Arbeitergärten“ von St. Etienne, einer proletarischen Stadt jenseits der Rhone – ein anarchisch ungeregeltes und doch nachbarschaftlich-solidarisches Biotop, das sich in einem ständigen „Kampf mit den Einfamilienhäusern drumherum“ befindet. Ein Pendant finden diese städtischen Kleingärten in den „cabanons“, den Winzerhäuschen in Südwestfrankreich. Sie sind immer noch eine „von der Erhabenheit losgelöste Utopie“ und eine der Grundlagen für Baillys Plädoyer für das „Buntgescheckte“ („bariol“), das sich jeglicher Normierung widersetzt. Damit ist der Blick nach vorne gerichtet, und hier liegt auch der geheime Sinn im Titel „Le Dépaysement“. Es geht nicht nur um das Verschwinden der französischen Provinz, um die „Rurbanität“, wie es in einem Wortspiel heißt, nicht nur um das „gesellschaftliche Scheitern“, das sich in den Vorortsiedlungen zeigt. Es geht parallel auch um eine positive Wahrnehmungsweise von „Entlandung“, nämlich darum, „nicht in der Pose der Identität zu erstarren“.
Baillys Schreibweise gibt dabei einen Weg vor. Wie er am Flüsschen Loir, an dem Marcel Proust seine Kindheitsorte imaginierte, den „Prousts Sätze imitierenden Flusslauf“ erkennt, ist ein Beispiel dafür. Und wie er die Schriftzüge der Werbung für die vormals unzähligen Apéritifs in den französischen Bars nachvollzieht, im immer noch existierenden „Suze“ das Anagramm von „Zeus“ benennt und die „sowjetisch“ anmutenden Ansichtskarten der 50er und 60er Jahre der Firma Yvon ins Gedächtnis ruft, ein anderes.
In solchen Momenten zeigt sich eine „unbewusste Gemeinschaft“, die mehr umfasst als das Wort „Nation“ und die gerade dadurch auch zukunftsfähig erscheint. Baillys essayistisch-poetische Ausschweifungen beziehen ihre suggestive Wirkung aus sinnlich-konkreten „Fiktionsauslösern“, wie er sie selbst nennt. Und man ist geneigt, ihm rückhaltlos Recht zu geben: derlei Fiktionsauslöser sind manchmal elektrisierender als echte Romane.
Jean-Christophe Bailly: Fremd gewordenes Land. Streifzüge durch Frankreich. Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 461 Seiten, 28 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Es geht auch darum,
„nicht in der Pose der Identität
zu erstarren“
Die spektakuläre Quelle des Flusses Loue, aus einem tiefen Felsloch, unterliegt derselben Ästhetik wie das berühmte Bild über den „Ursprung der Welt“ des dort geborenen Malers Gustave Courbet.
Foto: imago/imagebroker
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das lebendige Zucken der Landschaft
In einem großen Essay erkundet der französische Schriftsteller Jean-Christophe Bailly sein „fremd gewordenes Land“.
Er schafft dabei ungeahnte Querverbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart
VON HELMUT BÖTTIGER
Ende der siebziger Jahre war Jean-Christophe Bailly für einige Zeit in New York, setzte sich der total absorbierenden amerikanischen Gegenwart aus und hielt dann doch für einen Moment inne. Er sah durch Zufall den Film „Die Spielregel“ von Jean Renoir aus dem Jahr 1939, und plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass er ja ein Franzose war. Dieser poetische, tragikomische Film wirkte auf so unverwechselbare Weise französisch, mit geheimen Codes, die wohl nur von solchermaßen sozialisierten Menschen zu entschlüsseln sind. Dies war der Auslöser für Baillys kaleidoskopartiges, das Französische sublim auslotende Buch „Le Dépaysement“ von 2011, dessen Titel charakteristischerweise nicht wörtlich ins Deutsche übernommen werden kann. „Fremd gewordenes Land“ trifft nun das Grundgefühl, das sich durch die Zeilen zieht. „Entlandung“, die abstrakt und hölzern wirkende mögliche deutsche Entsprechung, birgt in sich aber eine Mehrdeutigkeit, die man mitlesen sollte. Das Französische jedenfalls ist sich seiner selbst nicht mehr sicher, das stellt schon der Titel klar. Und das Entscheidende dabei sind nicht vordergründige politische Entwicklungen, sondern kulturelle Dispositionen.
Die Leselust, die dieses Buch erzeugt, entspringt einem essayistisch-literarischen Stil, der analytisch und poetisch zugleich ist. Dieses Schillernde, diese Lust an Zwischenräumen, diese Aussagekraft durch atmosphärisches Verdichten wird im deutschen Sprachraum eher selten gepflegt. Bailly knüpft an eine spezifische essayistische Tradition an, die Erkenntnis durch Beobachtung und Verknüpfung vermittelt. Sein Buch beginnt in Bordeaux, der Stadt zwischen den Wassern, an einer eher unscheinbaren Stelle: ein Fachgeschäft für Angel- und Fischfang-Bedarf führt ihn dazu, dem „Geist der wogenden Kräfte“ nachzuspüren. Der Glibber in den Reusen, „das lebendige Zucken der Landschaft“, wird zu einem allgemeineren Bild, das die französischen Kulturbewegungen insgesamt erfasst. Die Gegenüberstellung von Bordeaux als der Stadt der Fischreusen und Toulouse als der Stadt einer „Fischtreppe“, einem raffinierten Schleusensystem nicht nur für Lachse, geht über das bloße Lokalkolorit hinaus und ist typisch für die Wahrnehmungsweise Baillys.
Landschaft, Kultur und Geschichte sind in diesem Buch immer gleichzeitig präsent, sie bilden Assoziationsräume, die sich überschneiden und ergänzen. So kann der Ort, an dem Ludwig XVI. während der französischen Revolution verhaftet wurde, den Ausgangspunkt bilden für Erkundungen der Bildhauerei Auguste Rodins und des Außenseitertums Arthur Rimbauds.
Die Reise in das „traurige Loch“ von Rimbauds lothringischer Herkunft wird zu einer existenziellen Studie über Provinz und Entgrenzung und legt wie nebenbei auch die Quellen der Moderne frei. Die heutige Ruine an dem entlegenen Ort, an dem Rimbaud „Die Zeit in der Hölle“ schrieb, birgt in der Leere der umgebenden Landschaft immer noch jene Energie, die sie einmal freigesetzt hat. Bailly interpretiert an keiner Stelle Rimbauds Lyrik, er interpretiert die Landschaft, in die der Dichter hineinwuchs und die er als Nachempfindender heute vorfindet. Es sieht dabei vor allem „die Form der Dinge selbst, die Form der Landschaft, mit diesen großen, leicht gewellten Feldern, die wie ein endloser und zum Horizont ausgedehnter Sprechgesang anmuten.“
Das Programm von Baillys Frankreich-Streifzügen besteht darin, die heute „ausgestorbene Atmosphäre der Landgebiete“ noch einmal zu beschreiben. Wie die gesichtslose Kleinstadt Culoz, früher ein kleiner Eisenbahnknotenpunkt, hier geschildert ist, ein Ort ohne „Konsistenz, im Überleben verwässert“, zeigt eindringlich die Situation von „La France profonde“, dem viel beschworenen Kern der Nation.
Es gibt etliche Schilderungen, mit denen Bailly ungeahnte Querverbindungen schafft, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auch zwischen den Sprach- und Denkebenen. Die spektakuläre Quelle des Flusses Loue, aus einem tiefen Felsloch, unterliegt derselben Ästhetik wie das berühmte Bild über den „Ursprung der Welt“ des dort geborenen Malers Gustave Courbet, das in für diesen Künstler verblüffend konkreter Weise das weibliche Geschlechtsteil zeigt – spätestens durch Baillys äußerst anschauliche geologisch-geographische Beschwörung des Loue-Ursprungs wird das offenkundig.
Der „idyllisch-homerische Zustand“, den Goethe den französischen Landgebieten zusprach, ist mittlerweile nur noch in der Ideologie vorhanden, daran lässt Bailly keinen Zweifel. Die tatsächlich so heißende „Straße des Welt-Endes“ im bretonischen Lorient entfaltet in seiner Annäherung von selbst ihren symbolischen Gehalt, und wie endlose Zuckerrübenfelder und die dazugehörigen Fabriken im Tal der Oise von einem „freudlosen Land“ künden, glaubt man diesem Autor sofort. Die Oise bildet zeitweilig auch einen Hintergrund in Peter Handkes neuestem Epos „Die Obstdiebin“, und in ähnlicher Weise scheint bei Bailly im Flusstal der Oise doch noch etwas Anderes auf – im Bild der drei Mädchen am Flussufer etwa, das Robert Louis Stevenson vor mehr als hundert Jahren in Erinnerung behielt und das für Bailly heute „so nicht mehr vorstellbar“ ist, aber, so wie er hinsieht, wie ein Palimpsest weiter existiert.
Ein zunächst unscheinbarer, aber intensiv weiter wirkender Orientierungspunkt sind für den Autor die „Arbeitergärten“ von St. Etienne, einer proletarischen Stadt jenseits der Rhone – ein anarchisch ungeregeltes und doch nachbarschaftlich-solidarisches Biotop, das sich in einem ständigen „Kampf mit den Einfamilienhäusern drumherum“ befindet. Ein Pendant finden diese städtischen Kleingärten in den „cabanons“, den Winzerhäuschen in Südwestfrankreich. Sie sind immer noch eine „von der Erhabenheit losgelöste Utopie“ und eine der Grundlagen für Baillys Plädoyer für das „Buntgescheckte“ („bariol“), das sich jeglicher Normierung widersetzt. Damit ist der Blick nach vorne gerichtet, und hier liegt auch der geheime Sinn im Titel „Le Dépaysement“. Es geht nicht nur um das Verschwinden der französischen Provinz, um die „Rurbanität“, wie es in einem Wortspiel heißt, nicht nur um das „gesellschaftliche Scheitern“, das sich in den Vorortsiedlungen zeigt. Es geht parallel auch um eine positive Wahrnehmungsweise von „Entlandung“, nämlich darum, „nicht in der Pose der Identität zu erstarren“.
Baillys Schreibweise gibt dabei einen Weg vor. Wie er am Flüsschen Loir, an dem Marcel Proust seine Kindheitsorte imaginierte, den „Prousts Sätze imitierenden Flusslauf“ erkennt, ist ein Beispiel dafür. Und wie er die Schriftzüge der Werbung für die vormals unzähligen Apéritifs in den französischen Bars nachvollzieht, im immer noch existierenden „Suze“ das Anagramm von „Zeus“ benennt und die „sowjetisch“ anmutenden Ansichtskarten der 50er und 60er Jahre der Firma Yvon ins Gedächtnis ruft, ein anderes.
In solchen Momenten zeigt sich eine „unbewusste Gemeinschaft“, die mehr umfasst als das Wort „Nation“ und die gerade dadurch auch zukunftsfähig erscheint. Baillys essayistisch-poetische Ausschweifungen beziehen ihre suggestive Wirkung aus sinnlich-konkreten „Fiktionsauslösern“, wie er sie selbst nennt. Und man ist geneigt, ihm rückhaltlos Recht zu geben: derlei Fiktionsauslöser sind manchmal elektrisierender als echte Romane.
Jean-Christophe Bailly: Fremd gewordenes Land. Streifzüge durch Frankreich. Aus dem Französischen von Andreas Riehle. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 461 Seiten, 28 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Es geht auch darum,
„nicht in der Pose der Identität
zu erstarren“
Die spektakuläre Quelle des Flusses Loue, aus einem tiefen Felsloch, unterliegt derselben Ästhetik wie das berühmte Bild über den „Ursprung der Welt“ des dort geborenen Malers Gustave Courbet.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Der deutsche Titel erscheint Wolf Lepenies ein wenig irreführend sein, ansonsten aber findet der Rezensent nicht nur Andreas Riehles Übersetzung von Jean-Christophe Baillys "Streifzügen durch Frankreich" brillant. Allein mit welcher Genauigkeit der in New York lebende Schriftsteller die Landschaften seiner einstigen Heimat schildert, ringt dem Kritiker größte Anerkennung ab. Großartig, wie Bailly Geografie und Geschichte verschränkt und dabei immer wieder originelle Einblicke gewährt, schwärmt der Rezensent, der Bailly gerne folgt, wenn er ihn in Bordeaux mit dem Gründer einer mittelalterlichen Netzmanufaktur bekannt macht oder ihn in Toulouse mit zu einer Lachstreppe nimmt. In der Kunst der "Verknüpfung" steht Bailly Montesquieu oder Levi-Strauss in nichts nach, versichert der hingerissene Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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