Elisabeth Götte, Deutschlehrerin, wirft das Handtuch. Sie verläßt ihre Schule, ihr Land, ihre Sprache und folgt einer Einladung nach Cambridge. Sie wird freundlich empfangen, fühlt sich rasch heimisch in der anderen Sprache, bis sie allmählich bemerkt, dass sie nichts versteht. Bleibt sie eine Fremde in dieser Sprache, in dieser Welt?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.1999Schulweisheiten letzter Schluss
Auch in England findet Ruth Rehmann nur die gleiche Welt
"Eine Tür schlägt, Schritte auf dem Plattenweg. Das Gartentor kreischt." Es gibt in diesem Buch eine Stelle von geradezu furioser Turbulenz! "Draußen springt ein Motor an. Sie findet den Schlüssel, schließt auf, fährt, geblendet vom Hoflicht, ins Freie, läuft, winkt, ruft, gerät zwischen die Steine, stolpert, stürzt, weiß mit dem Schmerzblitz, der ihren Körper durchzuckt, dass es passiert ist . . ." - Der Rest ist Schreiten, tatenarm und gedankenvoll.
Lange bevor der Gang der Dinge sich auf derart unvermutete Weise beschleunigt, begegnet die Erzählerin von Ruth Rehmanns Roman dem Leser auf bedeutungsvoll ausgeleuchtetem Gelände: Victoria Station, Scheideweg, Ankunft und Abfahrt, Menschenmassen und Wortgetöse, ein Ort, an dem ihres Bleibens nicht ist. Und schon steht sie da, wo so viel Beobachter und Berichterstatter im Werk dieses langen Autorenlebens stehen: "Abseits . . . "
Obgleich seit über vierzig Jahren präsent, hat auch Ruth Rehmann immer ein wenig am Rande des Geschehens gestanden. Das vorherrschende Thema ihrer Romane und Erzählungen ist das Netz der kleinen Lebenslügen, jenes Gespinst aus bequemen Halbwahrheiten und ängstlich bemänteltem Selbstbetrug, das doch vielfach die Existenz unter den jeweiligen misslichen Umständen überhaupt möglich oder erträglich macht. Der neue, schmale Band enthält die "Hinterlassenschaft" der Gymnasiallehrerin Dr. Elisabeth Götte, lesefruchtgarnierte Reiseaufzeichnungen, in denen Erinnerung, Erlebnisschilderung, Selbstbeobachtung und zeitkritische Bemerkungen mit sprachtheoretischen Reflexionen und Betrachtungen über das Leben und Streben des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein verwoben sind. Der nicht ganz unwichtige Anlass für diese ein wenig umständlich geratene Schreibarbeit lässt sich aus verstreuten Hinweisen rekonstruieren.
Im Zentrum - wie soll es anders sein - steht die in die Jahre gekommene, leicht flatterhafte, im Grunde aber kreuzbrave Studienrätin, die durch eine Enttäuschung ihres engagierten Pädagogendaseins in eine Sinn-, ja, Lebenskrise gestürzt ist. Folgenreich war die bittere Erfahrung, dass die verwandelnde Macht großer Literatur nicht notwendigerweise dorthin reicht, "wo Gefühle, Gewissen, Haltungen, Handlungen sich bilden". Kurz: Es kann einer auf der Bühne stehen und den Außenseiter geben, so glanzvoll und mitleidheischend, dass im Publikum Tränen vergossen werden, und er kann doch ein Kerl sein von infamer Niedertracht. So Philipp Senger, "King der Klasse" 10 b.
Was war geschehen? Der zarte Daniel hat dem rohen Philipp seine Liebe eingestanden, eine Schwäche, die den Sadismus der halbwüchsigen Klassenkameraden herausfordert. Es kommt zu Demütigungen und Erpressung, Suizidabsichten werden angedeutet ebenso wie der Missbrauch des Jungen durch Philipps Vater. Kurz nach Bekanntwerden dieser Katastrophe lässt Elisabeth Götte sich für ein Jahr vom Schuldienst beurlauben. Sie weiß selber, dass ihr die Maßstäbe unentschuldbar durcheinander geraten sind, wenn ihr im Zusammenhang mit jenen Ereignissen Gaskammern in den Sinn kommen und Mozart spielende Massenmörder. Doch unaufhaltsam breitet der "Ekel" sich in ihr aus. Mit einer pathologischen Wahrnehmungsschärfe ist sie seither geschlagen, die ihr das eigene Idiom verdächtig macht. Fortan irrt sie durch "den deutschen Sprachraum . . . - ein nacktes ungeschütztes Ohr, das alles, alles hören musste . . . Das Gesagte und das Ungesagte und den Lügenschleim, der es verklebt, und das Vergangene, das darin brütet".
In solcher Situation ist nichts begreiflicher als der Wunsch nach Luftveränderung. Eine Einladung nach Cambridge kommt wie gerufen. Das gesundheitlich angeschlagene Lehrfräulein flieht das deutsche Klassenzimmer, aber nur, um sogleich die englische Collegestube zu betreten. Denn es ist dieselbe Energie, mit der sie einmal auf die "Suche nach dem verschütteten Ich ihrer Schüler" gegangen war, die sie jetzt drängt, dem armen lebensuntüchtigen Jeremy zu sagen: "Hör auf, deine Gefühle zu verstecken! Sei einmal offen!"
Und so schreitet sie nun, bewegt sich viele, viele Seiten lang als veritable Nervensäge vor grob gezeichneter Universitätskulisse, im Austausch mit britisch kostümierten, Schulenglisch parlierenden Allerweltsfiguren, um am Ende zu der bleischweren Einsicht zu gelangen, dass auch in der Fremde der Schein trügt, Unaufrichtigkeit an der Tagesordnung ist, einer den zerstreuten Gelehrten gibt und doch ein Versager sein kann und miserabler Vater.
Ruth Rehmann hat ein als Roman bezeichnetes Thesenpapier vorgelegt, das eine blasse, orientierungsbedürftige Literaturliebhaberin mit ermüdendem Ernst referiert. "Bin ich pathetisch geworden bei der Schilderung meines Scheiterns?", fragt sie einmal. Die Antwort können wir ihr nicht ersparen.
ROLF DÄHN
Ruth Rehmann: "Fremd in Cambridge". Roman. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1999. 165 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch in England findet Ruth Rehmann nur die gleiche Welt
"Eine Tür schlägt, Schritte auf dem Plattenweg. Das Gartentor kreischt." Es gibt in diesem Buch eine Stelle von geradezu furioser Turbulenz! "Draußen springt ein Motor an. Sie findet den Schlüssel, schließt auf, fährt, geblendet vom Hoflicht, ins Freie, läuft, winkt, ruft, gerät zwischen die Steine, stolpert, stürzt, weiß mit dem Schmerzblitz, der ihren Körper durchzuckt, dass es passiert ist . . ." - Der Rest ist Schreiten, tatenarm und gedankenvoll.
Lange bevor der Gang der Dinge sich auf derart unvermutete Weise beschleunigt, begegnet die Erzählerin von Ruth Rehmanns Roman dem Leser auf bedeutungsvoll ausgeleuchtetem Gelände: Victoria Station, Scheideweg, Ankunft und Abfahrt, Menschenmassen und Wortgetöse, ein Ort, an dem ihres Bleibens nicht ist. Und schon steht sie da, wo so viel Beobachter und Berichterstatter im Werk dieses langen Autorenlebens stehen: "Abseits . . . "
Obgleich seit über vierzig Jahren präsent, hat auch Ruth Rehmann immer ein wenig am Rande des Geschehens gestanden. Das vorherrschende Thema ihrer Romane und Erzählungen ist das Netz der kleinen Lebenslügen, jenes Gespinst aus bequemen Halbwahrheiten und ängstlich bemänteltem Selbstbetrug, das doch vielfach die Existenz unter den jeweiligen misslichen Umständen überhaupt möglich oder erträglich macht. Der neue, schmale Band enthält die "Hinterlassenschaft" der Gymnasiallehrerin Dr. Elisabeth Götte, lesefruchtgarnierte Reiseaufzeichnungen, in denen Erinnerung, Erlebnisschilderung, Selbstbeobachtung und zeitkritische Bemerkungen mit sprachtheoretischen Reflexionen und Betrachtungen über das Leben und Streben des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein verwoben sind. Der nicht ganz unwichtige Anlass für diese ein wenig umständlich geratene Schreibarbeit lässt sich aus verstreuten Hinweisen rekonstruieren.
Im Zentrum - wie soll es anders sein - steht die in die Jahre gekommene, leicht flatterhafte, im Grunde aber kreuzbrave Studienrätin, die durch eine Enttäuschung ihres engagierten Pädagogendaseins in eine Sinn-, ja, Lebenskrise gestürzt ist. Folgenreich war die bittere Erfahrung, dass die verwandelnde Macht großer Literatur nicht notwendigerweise dorthin reicht, "wo Gefühle, Gewissen, Haltungen, Handlungen sich bilden". Kurz: Es kann einer auf der Bühne stehen und den Außenseiter geben, so glanzvoll und mitleidheischend, dass im Publikum Tränen vergossen werden, und er kann doch ein Kerl sein von infamer Niedertracht. So Philipp Senger, "King der Klasse" 10 b.
Was war geschehen? Der zarte Daniel hat dem rohen Philipp seine Liebe eingestanden, eine Schwäche, die den Sadismus der halbwüchsigen Klassenkameraden herausfordert. Es kommt zu Demütigungen und Erpressung, Suizidabsichten werden angedeutet ebenso wie der Missbrauch des Jungen durch Philipps Vater. Kurz nach Bekanntwerden dieser Katastrophe lässt Elisabeth Götte sich für ein Jahr vom Schuldienst beurlauben. Sie weiß selber, dass ihr die Maßstäbe unentschuldbar durcheinander geraten sind, wenn ihr im Zusammenhang mit jenen Ereignissen Gaskammern in den Sinn kommen und Mozart spielende Massenmörder. Doch unaufhaltsam breitet der "Ekel" sich in ihr aus. Mit einer pathologischen Wahrnehmungsschärfe ist sie seither geschlagen, die ihr das eigene Idiom verdächtig macht. Fortan irrt sie durch "den deutschen Sprachraum . . . - ein nacktes ungeschütztes Ohr, das alles, alles hören musste . . . Das Gesagte und das Ungesagte und den Lügenschleim, der es verklebt, und das Vergangene, das darin brütet".
In solcher Situation ist nichts begreiflicher als der Wunsch nach Luftveränderung. Eine Einladung nach Cambridge kommt wie gerufen. Das gesundheitlich angeschlagene Lehrfräulein flieht das deutsche Klassenzimmer, aber nur, um sogleich die englische Collegestube zu betreten. Denn es ist dieselbe Energie, mit der sie einmal auf die "Suche nach dem verschütteten Ich ihrer Schüler" gegangen war, die sie jetzt drängt, dem armen lebensuntüchtigen Jeremy zu sagen: "Hör auf, deine Gefühle zu verstecken! Sei einmal offen!"
Und so schreitet sie nun, bewegt sich viele, viele Seiten lang als veritable Nervensäge vor grob gezeichneter Universitätskulisse, im Austausch mit britisch kostümierten, Schulenglisch parlierenden Allerweltsfiguren, um am Ende zu der bleischweren Einsicht zu gelangen, dass auch in der Fremde der Schein trügt, Unaufrichtigkeit an der Tagesordnung ist, einer den zerstreuten Gelehrten gibt und doch ein Versager sein kann und miserabler Vater.
Ruth Rehmann hat ein als Roman bezeichnetes Thesenpapier vorgelegt, das eine blasse, orientierungsbedürftige Literaturliebhaberin mit ermüdendem Ernst referiert. "Bin ich pathetisch geworden bei der Schilderung meines Scheiterns?", fragt sie einmal. Die Antwort können wir ihr nicht ersparen.
ROLF DÄHN
Ruth Rehmann: "Fremd in Cambridge". Roman. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1999. 165 S., geb., 34,- DM.
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"Eine figurenreiche Geschichte voll innerer Spannung, mit kundigen Einblicken in eine skurrile Sonderwelt. Ein kluges Buch von großer Sprachdichte und -präzision." Süddeutsche Zeitung