Die Ehefrau des Literaturprofessors Miwa Shunsuke hat ein kurzes Verhältnis mit einem jungen Amerikaner, wenig später erkrankt sie unheilbar. Ihr Mann müht sich, die Familie zusammenzuhalten,aber unbeholfen verirrt er sich im Labyrinth der eigenen Fluchten. Meisterhaft, mit subtilem Humor und rückhaltloser Selbstentblößung schildert dieser Roman die Reaktionen der japanischen Gesellschaft auf die Einflüsse aus dem westlichen Ausland.Ein Klassiker der japanischen Nachkriegsliteratur - ausgezeichnet mit dem Tanizaki Junichiro-Literaturpreis.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2009Ein Charleston-Tanz im Tatami-Zimmer
Amerika, wunderbar: Kojima Nobuo erkundet in seinem Klassiker der Nachkriegsliteratur aus den sechziger Jahren die Psyche der Japaner im gesellschaftlichen Umbruch. Der Verfall einer Familie spiegelt die mühsame Suche der Nation nach einer neuen Identität.
Der japanische Schriftsteller, Anglist und Übersetzer Kojima Nobuo (1915 bis 2006), dessen Werk Einflüsse Gogols und Kafkas aufweist, beleuchtet in seinen Prosastücken und Erzählungen wie "Auf dem Zug" (1948) oder "American School" (1954) die Auswirkungen der Kriegsniederlage, Interaktionen mit der hassgeliebten Besatzungsmacht und die Okkupation der japanischen Psyche. Das an die bekenntnishaft-autobiographische Tradition des Ich-Romans (shishôsetsu) anknüpfende Werk "Fremde Familie" (hôyô kazoku, wörtlich "Die Umarmungsfamilie") ist ein Klassiker der japanischen Nachkriegsliteratur.
Im preisgekrönten Melodram von 1965 skizziert Kojima die zwischen Befreiungsillusionen und Hedonismus, Minderwertigkeitsgefühlen und latentem Rassismus angesiedelten Reaktionen seiner Landsleute auf die "zweite Öffnung Japans". Das Buch schildert den Niedergang einer bürgerlichen Familie und der Abhängigkeitssysteme des traditionellen japanischen Hauses ("ie"), in dem der Hausvorstand Sachwalter mit weitreichenden Machtbefugnissen war. Im Fokus stehen der unselbständig-vergeistigte Shunsuke, der als Universitätsdozent auch in den Vereinigten Staaten tätig gewesen war und seine Ehefrau und femme libérée Tokiko.
Das Erzählgerüst beschränkt sich beinahe obsessiv auf die häusliche Sphäre, auf Kontakte und Querverstrebungen zwischen den Hausbewohnern (zwei Kinder ergänzen die für die Nachkriegszeit typische Kernfamilie), Hausbediensteten und -besuchern. Doch die Idylle gerät durch Tokikos Seitensprung mit einem amerikanischen Soldaten, der das Haus der Familie seit längerem als Gast frequentiert, ins Wanken.
Als Ausweg aus der Ehekrise hat Shunsuke zunächst - eine Allegorie auf Japans bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts währende Landesabschließung - die Idee des Baus eines hohen Zauns um das Haus. Dann votiert das Ehepaar für einen Ortswechsel und Eigenheimbau in kalifornischem Stil in einem Vorort Tokios. Doch im äußeren Schein des Anwesens, im Resonanzraum des Glashauses werden die Befangenheit der Dialoge und die Notlage umso deutlicher gewahr: "Er ging die Betonstufen hinunter und öffnete das Tor. Für so etwas haben wir Geld ausgegeben, aber was machen wir bloß als Ehepaar?"
Kojimas Nachkriegschronik zeigt die Erschütterung hierarchischer und patriarchalischer Traditionsbestände. Symbolisch ist eine Szene zu Beginn des Buchs, als das frischverliebte Paar auf Tatami-Matten Charleston tanzte - Sinnbild eines historischen Wertewandels. Der Autoritätsverlust des Familienoberhaupts, die Dekonstruktion des Zentrums, die sich auch in der diskontinuierlichen Erzählstruktur und einer Romanarchitektur unter Ausblendung eines allwissenden Autors niederschlägt, können in Analogie zur Kapitulationserklärung des Tennô 1945 gelesen werden.
Alle Versuche, sich ein künstliches Paradies zu erschaffen, laufen ins Leere: Schönheitsoperationen gehen schief, defekte Klimaanlagen werden provisorisch installiert - so wird die ohne philosophischen Überbau vollzogene Übernahme westlicher Kultur ironisiert. Vielmehr verspürt der Anti-Held eine existentielle Ermüdung angesichts der omnipräsenten Wiederaufbaurhetorik: ",Lasst uns kämpfen, Vitamix. Vitamix, Vitamix, voller Kraft' plärrte es mit lauter Stimme aus der Fernsehwerbung. Shunsuke hielt seine eigene Existenz für schwächer als die dieses Fernsehapparats."
So gehen Verwestlichung, Entmännlichung und Identitätsverlust bei Kojima mit einer leitmotivischen Verlebendigung der (importierten) Dingwelt einher. Der Verfall der Familie spielt vor dem Hintergrund der allgemeinen Degenerierung. Kurz nach Beginn der Bauarbeiten für das neue Haus erkrankt Tokiko an Krebs; die flügge werdenden Kinder wollen ausziehen und sich selbst verwirklichen. Modernisierung und Amerikanisierung greifen um sich und bilden gesamtgesellschaftliche Metastasen aus.
In Zeiten der Isolation und der Erosion aller Werte vermag sich der Protagonist paradoxerweise erst im Kaufhaus seiner Restlebendigkeit zu vergewissern. Quasi im Konsumrausch überkommt ihn eine Art buddhistische Erleuchtung über den Verlust der Werte und den tieferen Zusammenhang aller Geschöpfe: "Wir sind alle miteinander verbunden. Wir sind alle Menschen voller Unsicherheiten und Qualen. Ich bin zwar ein Mann, der gerade einkauft, aber bitte, denken Sie nicht, dass ich nur dieser einkaufende Mann bin. Ich spreche hier mit Ihnen, weil ich als Mensch mit anderen in Verbindung treten will. Wir stehen in einer Beziehung zueinander, obwohl wir uns noch nie gesehen haben und uns nicht kennen."
STEFFEN GNAM
Kojima Nobuo: "Fremde Familie". Roman. Aus dem Japanischen und mit einem Nachwort von Ralph Degen. be.bra Verlag, Berlin 2008. 200 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amerika, wunderbar: Kojima Nobuo erkundet in seinem Klassiker der Nachkriegsliteratur aus den sechziger Jahren die Psyche der Japaner im gesellschaftlichen Umbruch. Der Verfall einer Familie spiegelt die mühsame Suche der Nation nach einer neuen Identität.
Der japanische Schriftsteller, Anglist und Übersetzer Kojima Nobuo (1915 bis 2006), dessen Werk Einflüsse Gogols und Kafkas aufweist, beleuchtet in seinen Prosastücken und Erzählungen wie "Auf dem Zug" (1948) oder "American School" (1954) die Auswirkungen der Kriegsniederlage, Interaktionen mit der hassgeliebten Besatzungsmacht und die Okkupation der japanischen Psyche. Das an die bekenntnishaft-autobiographische Tradition des Ich-Romans (shishôsetsu) anknüpfende Werk "Fremde Familie" (hôyô kazoku, wörtlich "Die Umarmungsfamilie") ist ein Klassiker der japanischen Nachkriegsliteratur.
Im preisgekrönten Melodram von 1965 skizziert Kojima die zwischen Befreiungsillusionen und Hedonismus, Minderwertigkeitsgefühlen und latentem Rassismus angesiedelten Reaktionen seiner Landsleute auf die "zweite Öffnung Japans". Das Buch schildert den Niedergang einer bürgerlichen Familie und der Abhängigkeitssysteme des traditionellen japanischen Hauses ("ie"), in dem der Hausvorstand Sachwalter mit weitreichenden Machtbefugnissen war. Im Fokus stehen der unselbständig-vergeistigte Shunsuke, der als Universitätsdozent auch in den Vereinigten Staaten tätig gewesen war und seine Ehefrau und femme libérée Tokiko.
Das Erzählgerüst beschränkt sich beinahe obsessiv auf die häusliche Sphäre, auf Kontakte und Querverstrebungen zwischen den Hausbewohnern (zwei Kinder ergänzen die für die Nachkriegszeit typische Kernfamilie), Hausbediensteten und -besuchern. Doch die Idylle gerät durch Tokikos Seitensprung mit einem amerikanischen Soldaten, der das Haus der Familie seit längerem als Gast frequentiert, ins Wanken.
Als Ausweg aus der Ehekrise hat Shunsuke zunächst - eine Allegorie auf Japans bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts währende Landesabschließung - die Idee des Baus eines hohen Zauns um das Haus. Dann votiert das Ehepaar für einen Ortswechsel und Eigenheimbau in kalifornischem Stil in einem Vorort Tokios. Doch im äußeren Schein des Anwesens, im Resonanzraum des Glashauses werden die Befangenheit der Dialoge und die Notlage umso deutlicher gewahr: "Er ging die Betonstufen hinunter und öffnete das Tor. Für so etwas haben wir Geld ausgegeben, aber was machen wir bloß als Ehepaar?"
Kojimas Nachkriegschronik zeigt die Erschütterung hierarchischer und patriarchalischer Traditionsbestände. Symbolisch ist eine Szene zu Beginn des Buchs, als das frischverliebte Paar auf Tatami-Matten Charleston tanzte - Sinnbild eines historischen Wertewandels. Der Autoritätsverlust des Familienoberhaupts, die Dekonstruktion des Zentrums, die sich auch in der diskontinuierlichen Erzählstruktur und einer Romanarchitektur unter Ausblendung eines allwissenden Autors niederschlägt, können in Analogie zur Kapitulationserklärung des Tennô 1945 gelesen werden.
Alle Versuche, sich ein künstliches Paradies zu erschaffen, laufen ins Leere: Schönheitsoperationen gehen schief, defekte Klimaanlagen werden provisorisch installiert - so wird die ohne philosophischen Überbau vollzogene Übernahme westlicher Kultur ironisiert. Vielmehr verspürt der Anti-Held eine existentielle Ermüdung angesichts der omnipräsenten Wiederaufbaurhetorik: ",Lasst uns kämpfen, Vitamix. Vitamix, Vitamix, voller Kraft' plärrte es mit lauter Stimme aus der Fernsehwerbung. Shunsuke hielt seine eigene Existenz für schwächer als die dieses Fernsehapparats."
So gehen Verwestlichung, Entmännlichung und Identitätsverlust bei Kojima mit einer leitmotivischen Verlebendigung der (importierten) Dingwelt einher. Der Verfall der Familie spielt vor dem Hintergrund der allgemeinen Degenerierung. Kurz nach Beginn der Bauarbeiten für das neue Haus erkrankt Tokiko an Krebs; die flügge werdenden Kinder wollen ausziehen und sich selbst verwirklichen. Modernisierung und Amerikanisierung greifen um sich und bilden gesamtgesellschaftliche Metastasen aus.
In Zeiten der Isolation und der Erosion aller Werte vermag sich der Protagonist paradoxerweise erst im Kaufhaus seiner Restlebendigkeit zu vergewissern. Quasi im Konsumrausch überkommt ihn eine Art buddhistische Erleuchtung über den Verlust der Werte und den tieferen Zusammenhang aller Geschöpfe: "Wir sind alle miteinander verbunden. Wir sind alle Menschen voller Unsicherheiten und Qualen. Ich bin zwar ein Mann, der gerade einkauft, aber bitte, denken Sie nicht, dass ich nur dieser einkaufende Mann bin. Ich spreche hier mit Ihnen, weil ich als Mensch mit anderen in Verbindung treten will. Wir stehen in einer Beziehung zueinander, obwohl wir uns noch nie gesehen haben und uns nicht kennen."
STEFFEN GNAM
Kojima Nobuo: "Fremde Familie". Roman. Aus dem Japanischen und mit einem Nachwort von Ralph Degen. be.bra Verlag, Berlin 2008. 200 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diesen in der Tradition bekenntnishafter Ich-Romane stehenden Text von Kojima Nobuo, ein Klassiker der japanischen Nachkriegsliteratur, wie Steffen Gnam weiß, schildert den Verfall einer Familie vor dem Hintergrund der Befreiungsbestrebungen der japanischen Gesellschaft, ihrer Öffnung in Richtung Westen und des gleichzeitigen Verlustes eigener "Traditionsbestände". Die Beschränkung der Erzählung auf die häusliche Sphäre einer Familie und ihrer nächsten Umgebung stört Gnam nicht. Die allgemeine Degenerierung wird für ihn immer wieder sichtbar, so wenn Nobuo den verständnislosen Umgang des seiner Macht verlustig gehenden Patriarchen mit importierten Konsumgütern beschreibt. Die gebrochene Erzählstruktur und der Verzicht auf einen allwissenden Erzähler verstärken für Gnam die Auslegung der Geschichte als eine Parabel auf Verwestlichung und Identitätsverlust.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH