In der Großstadt, in vermeintlichen Landidyllen, in den Grauzonen der Suburbs - überall begegnet in Sylvia Geists neuem Lyrikband dem Einzelnen die Wildnis, die in ihm selbst steckt. Mit glasklarem Verstand und sinnlicher Bildersprache erkunden diese Gedichte, wie weit wir gekommen sind, seit wir angefangen haben, uns in fremde Felle zu kleiden. Ob Geists Figuren in die Haut von Füchsen schlüpfen, die Okkupation ihres Hauses durch Rehe fürchten oder die Sehnsucht nach menschlicher Wärme unter der Trockenhaube stillen, immer sind sie auf der Spur der Welt, die wir mit den anderen teilen - einer Welt, in der das Echo massenhaft "die Felsen bespringt" und bereits die "Särge für das letzte bisschen Eis" angefertigt werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.03.2018Hochkalorische
Kicks
Wärme und Zerstörung:
Neue Gedichte von Sylvia Geist
Mit einem „Feuerlager“ beginnt dieser Band. Mit einem Gefüge aus 20 Zeilen, in dem sprachliche Wärme und die Kraft der Zerstörung genau austariert sind. Wir sehen eine Hornisse – und plötzlich ist das Knistern von Flämmchen zu hören. Doch diese Partikel von Welt sollen nichts abbilden. Vielmehr ist im Innersten des Gedichts eine wundersame Kunst der Verwandlung am Werk, die all die Elemente einer neuen Ordnung anvertraut.
Sylvia Geist, 1963 in Berlin geboren, ist eine Dichterin der Metamorphosen. Wer ihre Übersetzungen liest, von John Ashbery etwa oder Peter Gizzi, kann ihr Gespür für sprachliche Verschiebungen erleben. Erst recht aber in ihren Versen, die in einem halben Dutzend Bänden versammelt sind, ist eine große Lust fühlbar, sich der Kraft der Imagination und des Denkens zu überlassen. Auch ihre neuen Gedichte sind „Wärmewaben“, die Welt und Sprache mit einer eigenen Energie versehen – und die dem Leser einen „hochkalorischen Kick“ ermöglichen.
Viele der Gedichte sind von der Szenerie her im ländlichen Raum rund um Berlin angesiedelt. Dort gibt es nicht nur Hornissen zu entdecken, sondern auch streunende Füchse und ohnmächtige Hirsche. Daneben finden sich Reiseutensilien und Urlaubsrouten, die durch Polen führen oder in die Transitzonen von Flughäfen. Doch immer ist da eine „Vorfreude aufs Erinnern“ eingezogen, an die Kindheit etwa, an Mythen oder Märchen. So ändert alles seine Gestalt: Texas ist hier ein „Land aus steinaltem / Tannenhonig“, und das Meer nichts als Wasser, wo einen das Salz „wie auf Wasserbetten“ wiegt.
Nicht von ungefähr trägt gleich das erste Kapitel den Titel „In vitro“ als kleinen Hinweis auf Versuche, die unter künstlichen Bedingungen im Labor durchgeführt werden. Oder genauer: „außerhalb des Organismus, im Reagenzglas“, wie das Biologielexikon aufklärt. Das zeigt nicht nur etwas von Sylvia Geists Leidenschaft, poetische Sprachspeicher mit dem Denken und der Begrifflichkeit der Naturwissenschaft zu verbinden, sondern markiert auch jenen Grad von geschickt kalkulierter Künstlichkeit, den ihre Gedichte haben. Doch man lasse sich nicht täuschen. Die Gedichte entstehen zwar unter künstlichen Bedingungen. Was Sylvia Geist aber in ihren In- vitro-Versuchen erschafft, sind äußerst lebendige Organismen.
„Jede Ordnung frisst Energie“, heißt es einmal. Und diese Arbeit an der Form ist den Gedichten anzumerken, in einem emphatischen Sinn. Geist benutzt keine Sprache, die sich mit dem Gegebenen begnügen würde. Im Gegenteil, sie zeigt uns das Zwielicht in den Wörtern. Mit Reimen (mal rein, mal versteckt, mal bewusst schief), mit Anklängen und einem großen Gespür für rhythmische Verschiebungen verwandelt sie „Schindel“ in „Schwindel“ und „Strömen“ in „Stromern“. Die Trias aus „Suchen, / Verwerfen und Suchen“ treibt die Verse in eine Bewegung dauernder Wechsel. So ist jede Setzung nur vorläufig, und die eigentliche Energie der Verse verdankt sich dem fluiden Zusammenspiel von Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Momenten aus Klang. Wörter wie „Nanoblitzkitt“ oder „Schlangensilbe“ können hier aufleuchten.
Dabei erfahren wir als Leser immer auch etwas über die Flüchtigkeit jener Vorstellung, die den großen Namen „Ich“ trägt. Die wechselnden Sprecher, mal an ein „Ich“ gekoppelt, mal in der Maske des „Wir“, verlieren in den Windungen der Reflexion noch den letzten Hauch von Eindeutigkeit. Wo die eigene Stimme immer schon eine „gelieferte Fabel“ ist, wo wir fortwährend von „Chimären“ und „Erfindungen“ lesen, ist auf plane Klarheit nicht zu hoffen. Was bleibt, ist ein Ensemble wechselnder Relationen: „Ich sehe dich, meinen verlassenen / Mantel im Arm, vor dem Sandwichplattenbau des Restaurants / im Weg der andern stehen, und alles ist vertraut an diesem / Moment, in dem du der sein willst, den ich nicht kenne.“
Dazu passt, dass einige der Gedichte auf Zuruf entstanden sind. Als Antworten auf Gedichte wahlverwandter Schreibender wie Sonja Harter, Christian Uetz oder Ferdinand Schmatz. Aber auch in der Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst. Wie in einer jener Tapisserien, die der südafrikanische Künstler Cecil Skotnes angefertigt hat, überlagern sich in „Fremde Felle“ die Momente. Nur dass hier die Fäden nicht aus Wolle oder Leinen bestehen, sondern aus Tönen.
In Sylvia Geists vorletztem Band „Gordisches Paradies“ gibt es ein Gedicht namens „Pumpen“. Eine Szenerie, die sich aus Gedächtnissplittern speist, zusammengehalten von einem reflexionsgenau pulsenden Rhythmus und dem Bild einer Pumpe mit dröhnendem Motor. Sie hält die Menschen, die in einem sumpfigen Ufergebiet wohnen, sprichwörtlich auf dem Trockenen: „Ich hielt mich wach, hörte / die Pumpe, ihren Herzschlag, hörte das / auf, würden wir im Schlaf ertrinken.“ Ein solcher Herzschlag ist in Sylvia Geists stärksten Gedichten zu spüren. Ein Rhythmus ist das, der die Dinge und die Wörter dreht – und uns zeigt, dass alles stets in Bewegung ist.
NICO BLEUTGE
Sylvia Geist: Fremde Felle. Gedichte. Verlag Hanser Berlin, München 2018. 96 Seiten, 18 Euro.
„und alles ist vertraut an diesem /
Moment, in dem du der sein
willst, den ich nicht kenne.“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kicks
Wärme und Zerstörung:
Neue Gedichte von Sylvia Geist
Mit einem „Feuerlager“ beginnt dieser Band. Mit einem Gefüge aus 20 Zeilen, in dem sprachliche Wärme und die Kraft der Zerstörung genau austariert sind. Wir sehen eine Hornisse – und plötzlich ist das Knistern von Flämmchen zu hören. Doch diese Partikel von Welt sollen nichts abbilden. Vielmehr ist im Innersten des Gedichts eine wundersame Kunst der Verwandlung am Werk, die all die Elemente einer neuen Ordnung anvertraut.
Sylvia Geist, 1963 in Berlin geboren, ist eine Dichterin der Metamorphosen. Wer ihre Übersetzungen liest, von John Ashbery etwa oder Peter Gizzi, kann ihr Gespür für sprachliche Verschiebungen erleben. Erst recht aber in ihren Versen, die in einem halben Dutzend Bänden versammelt sind, ist eine große Lust fühlbar, sich der Kraft der Imagination und des Denkens zu überlassen. Auch ihre neuen Gedichte sind „Wärmewaben“, die Welt und Sprache mit einer eigenen Energie versehen – und die dem Leser einen „hochkalorischen Kick“ ermöglichen.
Viele der Gedichte sind von der Szenerie her im ländlichen Raum rund um Berlin angesiedelt. Dort gibt es nicht nur Hornissen zu entdecken, sondern auch streunende Füchse und ohnmächtige Hirsche. Daneben finden sich Reiseutensilien und Urlaubsrouten, die durch Polen führen oder in die Transitzonen von Flughäfen. Doch immer ist da eine „Vorfreude aufs Erinnern“ eingezogen, an die Kindheit etwa, an Mythen oder Märchen. So ändert alles seine Gestalt: Texas ist hier ein „Land aus steinaltem / Tannenhonig“, und das Meer nichts als Wasser, wo einen das Salz „wie auf Wasserbetten“ wiegt.
Nicht von ungefähr trägt gleich das erste Kapitel den Titel „In vitro“ als kleinen Hinweis auf Versuche, die unter künstlichen Bedingungen im Labor durchgeführt werden. Oder genauer: „außerhalb des Organismus, im Reagenzglas“, wie das Biologielexikon aufklärt. Das zeigt nicht nur etwas von Sylvia Geists Leidenschaft, poetische Sprachspeicher mit dem Denken und der Begrifflichkeit der Naturwissenschaft zu verbinden, sondern markiert auch jenen Grad von geschickt kalkulierter Künstlichkeit, den ihre Gedichte haben. Doch man lasse sich nicht täuschen. Die Gedichte entstehen zwar unter künstlichen Bedingungen. Was Sylvia Geist aber in ihren In- vitro-Versuchen erschafft, sind äußerst lebendige Organismen.
„Jede Ordnung frisst Energie“, heißt es einmal. Und diese Arbeit an der Form ist den Gedichten anzumerken, in einem emphatischen Sinn. Geist benutzt keine Sprache, die sich mit dem Gegebenen begnügen würde. Im Gegenteil, sie zeigt uns das Zwielicht in den Wörtern. Mit Reimen (mal rein, mal versteckt, mal bewusst schief), mit Anklängen und einem großen Gespür für rhythmische Verschiebungen verwandelt sie „Schindel“ in „Schwindel“ und „Strömen“ in „Stromern“. Die Trias aus „Suchen, / Verwerfen und Suchen“ treibt die Verse in eine Bewegung dauernder Wechsel. So ist jede Setzung nur vorläufig, und die eigentliche Energie der Verse verdankt sich dem fluiden Zusammenspiel von Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Momenten aus Klang. Wörter wie „Nanoblitzkitt“ oder „Schlangensilbe“ können hier aufleuchten.
Dabei erfahren wir als Leser immer auch etwas über die Flüchtigkeit jener Vorstellung, die den großen Namen „Ich“ trägt. Die wechselnden Sprecher, mal an ein „Ich“ gekoppelt, mal in der Maske des „Wir“, verlieren in den Windungen der Reflexion noch den letzten Hauch von Eindeutigkeit. Wo die eigene Stimme immer schon eine „gelieferte Fabel“ ist, wo wir fortwährend von „Chimären“ und „Erfindungen“ lesen, ist auf plane Klarheit nicht zu hoffen. Was bleibt, ist ein Ensemble wechselnder Relationen: „Ich sehe dich, meinen verlassenen / Mantel im Arm, vor dem Sandwichplattenbau des Restaurants / im Weg der andern stehen, und alles ist vertraut an diesem / Moment, in dem du der sein willst, den ich nicht kenne.“
Dazu passt, dass einige der Gedichte auf Zuruf entstanden sind. Als Antworten auf Gedichte wahlverwandter Schreibender wie Sonja Harter, Christian Uetz oder Ferdinand Schmatz. Aber auch in der Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst. Wie in einer jener Tapisserien, die der südafrikanische Künstler Cecil Skotnes angefertigt hat, überlagern sich in „Fremde Felle“ die Momente. Nur dass hier die Fäden nicht aus Wolle oder Leinen bestehen, sondern aus Tönen.
In Sylvia Geists vorletztem Band „Gordisches Paradies“ gibt es ein Gedicht namens „Pumpen“. Eine Szenerie, die sich aus Gedächtnissplittern speist, zusammengehalten von einem reflexionsgenau pulsenden Rhythmus und dem Bild einer Pumpe mit dröhnendem Motor. Sie hält die Menschen, die in einem sumpfigen Ufergebiet wohnen, sprichwörtlich auf dem Trockenen: „Ich hielt mich wach, hörte / die Pumpe, ihren Herzschlag, hörte das / auf, würden wir im Schlaf ertrinken.“ Ein solcher Herzschlag ist in Sylvia Geists stärksten Gedichten zu spüren. Ein Rhythmus ist das, der die Dinge und die Wörter dreht – und uns zeigt, dass alles stets in Bewegung ist.
NICO BLEUTGE
Sylvia Geist: Fremde Felle. Gedichte. Verlag Hanser Berlin, München 2018. 96 Seiten, 18 Euro.
„und alles ist vertraut an diesem /
Moment, in dem du der sein
willst, den ich nicht kenne.“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Sylvia Geists neue Gedichte sind 'Wärmewaben', die Welt und Sprache mit einer eigenen Energie versehen - und die dem Leser einen 'hochkalorischen Kick' ermöglichen. Geist benutzt keine Sprache, die sich mit dem Gegebenen begnügen würde. Im Gegenteil, sie zeigt uns das Zwielicht in den Wörtern. Mit Reimen, mit Anklängen und einem großen Gespür für rhythmische Verschiebungen. Ein Rhythmus ist das, der die Dinge und die Wörter dreht - und uns zeigt, dass alles stets in Bewegung ist." Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 27.03.2018
"Eine Lanze für die Lyrik: Sylvia Geist ist Berlinerin und schreibt sich seit zwanzig Jahren langsam und bezaubernd in die deutsche Literaturgeschichte. Ihre neuen Gedichte führen in die Wildnis, die sie überall findet." Katrin Schumacher, MDR, 17.03.2018
"Es ist ein Blick auf die Welt, in der das so genannte Wilde auf ganz lustige und witzige Weise Einzug hält. Was ich sehr schön finde, ist, dass hier Sprachwitz und Ironie am Werk sind und dass sich diese Gedichte einer schnellen Lektüre und einer vorschnellen Deutung entziehen. Dieses Offene ist Prinzip bei ihr: Sie ist eine Schatzsucherin." Claudia Kramatschek, Deutschlandfunk Kultur, 15.04.2018
"Eine Lanze für die Lyrik: Sylvia Geist ist Berlinerin und schreibt sich seit zwanzig Jahren langsam und bezaubernd in die deutsche Literaturgeschichte. Ihre neuen Gedichte führen in die Wildnis, die sie überall findet." Katrin Schumacher, MDR, 17.03.2018
"Es ist ein Blick auf die Welt, in der das so genannte Wilde auf ganz lustige und witzige Weise Einzug hält. Was ich sehr schön finde, ist, dass hier Sprachwitz und Ironie am Werk sind und dass sich diese Gedichte einer schnellen Lektüre und einer vorschnellen Deutung entziehen. Dieses Offene ist Prinzip bei ihr: Sie ist eine Schatzsucherin." Claudia Kramatschek, Deutschlandfunk Kultur, 15.04.2018