Vom Auftritt der Ethnologie geht eine Erschütterung, wenn nicht gar eine Bedrohung aus, der sich die europäische Philosophie nicht entziehen kann. Daher muß diese neue Wissenschaft vom kulturell Fremden auf Willhelm Dilthey, Edmund Husserl, Martin Heidegger, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida eine verstörende Wirkung ausüben. Doch der Schock des Fremdkulturellen wird aufgefangen in transzendentalen oder aber ethisch aufgeladenen Theorien des Anderen und der Gabe. Die umfangreiche Auseinandersetzung der hermeneutisch-phänomenologischen Philosophien mit der Ethnologie eines Bastian, Frazer, Tyler, Boas, Malinowski, Lévy-Bruhl, Mauss und Lévi-Strauss wird dabei jedoch nie zum Anlaß notwendiger Selbstkritik und einer Konfrontation mit dem 'Primitiven' im kulturtheoretischen und philosophischen Diskurs genommen. Bis hin zu Derrida bleibt die Philosophie in der Konfrontation mit fremdkulturellen Wahrheitsansprüchen in ihren universalen Geltungsanmaßungen und damit in den Grenzen des griechischen Logos befangen. Das Gegenstück zur Europäisierung, nämlich eine Indianisierung der europäischen Philosophien, sucht man daher vergeblich. Iris Därmann gelingt es, Möglichkeiten einer inversiven Ethnologie aufzuzeigen, die aus der Perspektive fremder Kulturen die eigene Kultur in Frage stellen und den Eurozentrismus abendländischer Philosophie demontieren. Damit hat sie einen Beitrag vorgelegt, der die grundlegenden philosophischen Positionen zum Fremden herausfordern wird. Aus dem Inhalt: I. Inversive Ethnographien statt Konstruktion des Fremden II. Marcel Mauss' Gabenweltreise III. Freuds Psychoanalyse der Idenfizierung und Gabe IV. Diltheys Hermeneutik im Fadenkreuz des Fremden und der Ethnologie V. Fremdes, Allzufremdes: Husserls Phänomenologie der Fremderfahrung und Fremdwelt VI. 'Primitives Dasein' und Gabe bei Heidegger VII. Fremderfahrung im Denken von Levinas VIII. Dekonstruktion ohne inversive Ethnographien: Derrida Iris Därmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2005Im Hauptseminar Schamanismus
Der Fremde ist unser Zeitgenosse: Iris Därmanns Studie über Ethnologie und Philosophie
Nachdem die Ethnologie umfangreiches Material und zahlreiche Erkenntnisse in der Ferne gesammelt und nach Europa gebracht hatte, begann hier leider nicht das, was man eine "Indianisierung" westlichen Denkens nennen könnte. Die Autorin zeigt, warum sich die Denker stur stellten und sich in ihren angestammten Ansichten über die Vernunft überboten. Die Fremden sollten fremd bleiben: Sie wurden nicht zu unseren Zeitgenossen.
Die Vorstellung, es könnte zweckmäßig und erhellend sein, die Weltbevölkerung analytisch in zusammenhängende Unterpopulationen aufzuteilen und taxonomisch nach Kulturkreisen zu unterscheiden, ist nicht ganz so zwingend, wie Ethnologen gern suggerieren.
Man könnte das, was über zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution nur noch in Sonntagsreden "Menschheit" heißt, genausogut nach Wirtschaftsräumen oder politischen Einflußzonen untergliedern - und müßte, so man's täte, bald anerkennen, daß dergleichen meistens dazu zwingt, ein paar scharfe laterale Schnitte ins Bild angeblich homogener Kulturkreise einzuziehen. Auch sonst leidet dies Bild an ernsten Mängeln; etwa im Hinblick auf die Einlösbarkeit des löblichen Vorsatzes der Wertfreiheit beim Vergleichen. Wer aus den Nachrichten weiß, daß Menschen aus Afrika häufiger Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen, während der umgekehrte Fall eher selten zu beobachten ist, der wird dran zweifeln, daß es im Sudan besonders schön ist. Soweit hat er ganz recht und ist mit den Flüchtlingen einig, egal, was sozialprojektiv versierte Metropolenintellektuelle predigen, die Elend als "fremde Kultur" adeln wollen. Glaubt er aber außerdem auch nur ein bißchen selbst an die Kulturkreisidee, könnte er sich als Europäer obendrein für den Sudanesen kulturell überlegen halten, und das ist er nun gerade nicht - bloß reich.
Iris Därmanns aus einer Habilitationsschrift hervorgegangene umfangreiche Abhandlung "Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie" hat solche Probleme zum Glück nicht. Das Buch will nämlich keineswegs auf Vergleiche zwischen Kulturkreisen, sondern auf eine akribische Fallbeschreibung dessen hinaus, was mit einer mehr oder weniger klar in einer bestimmten Gegend und einer spezifischen Epoche lokalisierten intellektuellen Tradition passiert, wenn sie sich solchen Vergleichen aussetzt. Die europäische Philosophie, so Därmanns Grundbehauptung, habe sich dazu gezwungen gesehen, ihre Gesamtarchitektur umzubauen, als die Ethnologie um 1900 als eigenständige Disziplin Gestalt annahm und, gestützt auf Vorarbeiten vor allem des britischen, genauer: viktorianischen neunzehnten Jahrhunderts, von Leuten wie Sigmund Freud und Wilhelm Dilthey intellektuell salonfähig gemacht wurde.
Bei Sichtung des von der Ethnologie angehäuften empirischen Materials sei es, so Därmann, für die genannten beiden Denker wie später für Edmund Husserl, Martin Heidegger, Emanuel Levinas und Jacques Derrida um die Gewinnung einer aus diesem Material zu abstrahierenden neuen Leitidee gegangen, mit der eigene kulturkritische wie -konstruktive Strategien durch eine selbstreflexive Krise hindurch zur positiven Stabilisierung eines neuen und anderen Argumentierens geführt werden sollten. Die Auseinandersetzung mit dem, was Ethnologen von J. G. Frazer bis Claude Lévi-Strauss da anzubieten hatten, habe in jedem der von Därmann entfalteten Fälle als Konfrontation mit sozialen und intellektuellen Phänomenen begonnen, die sich nicht auf die Schnittmusterbögen europäisch-metaphysischer Tradition herunterrechnen ließen.
Nach der beschwerlichen Passage durch "inverse und geteilte Ethnographien", das heißt: Kritik am "Eigenen" im Medium des konstruierten "Fremden", habe diese Auseinandersetzung letzlich stets als "Abwehr der Wahrheitsansprüche" außereuropäischer Denkweisen und Praktiken geendet. Die "Indianisierung" oder "Pazifizierung" hiesiger Denker sei vor allem deswegen mißlungen, weil die durch ethnologische Befunde vermittelte Kritik an abendländischen Philosophievorgaben stets nur zu deren Selbstüberbietung hin zu noch vernünftigeren, noch differenzierteren und in rousseauschem Sinne "gerechteren" Ansichten über alles mögliche gedient habe. Am Beispiel von Erörterungen ökonomischen Handelns und Rechnens in außereuropäischen Kulturen, die sich europäischen Tauschbegriffen entziehen und abstrakte Wertbildung auszuschließen scheinen, zeigt Därmann bei Heidegger, Levinas und Marcel Mauss, daß und wie europäisches Denken dazu neigt, selbst bei sonst antimetaphysischer Stoßrichtung am Ende immer nur gut abgehangene weise Lehren für "Seßhafte und Besitzende" zu produzieren. Diesem Schwerefeld hiesiger Vergesellschaftungsweisen könnte, so skizziert die Autorin in einem abschließenden Ausblick, nur entgehen, wer einige kategoriale Vorentscheidungen verabschiedet, die bislang jede abendländische philosophische Aneignung des von der Ethnologie Bereitgestellten aus deren Feldforschung übernommen hat - es ließe sich "eine Pluralität von wechselseitigen Philosophien denken, die die Fremden und die fremden Philosophien nicht mehr in eine zeitliche und kulturelle Distanz rückten, sondern sie - hier und jetzt - als Zeitgenossen betrachteten". Die Zeitgenossen, an die sich Iris Därmanns Buch wendet, sind reif für solche Ideen. Noch vor ein paar Jahren, als man an westlichen Universitäten die Frage zu stellen begann, ob die Silbe "post-" am Anfang des Wortes "postkolonial" dasselbe oder wenigstens etwas ähnliches meine wie in den Verbindungen "postmodern" und "poststrukturalistisch", war der Schritt vom Kulturvergleich zur Anerkennung der Fragwürdigkeit des dabei Verglichenen und angeblich inkommensurabel Verschiedenen schwierig zu denken.
Die Auseinandersetzung über die verschiedenen Arten des Postmodernen und des Postkolonialen, sich von der Moderne zu unterscheiden, ist aber inzwischen hinreichend hochauflösend geführt worden (mit welchen Ergebnissen, kann man zum Beispiel im 2004 erschienenen "Cambridge Companion to Postcolonial Literary Studies" von Neil Lazarus nachlesen).
So ist jetzt das Feld bereitet für Bücher der Sorte "Fremde Monde der Vernunft" oder die ebenso faszinierende wie problematische Riesen-Étude "Real Spaces" (2003) von David Summers über die Entstehung des westlichen Modernismus in der Kunst und die damit verbundene Verfehlung bis Vereitelung der Etablierung geeigneter begrifflicher und praktischer Kategorien für einen wirklich globalen Kunstbegriff. Wo Summers die scheinbar kulturinvariante Voraussetzung für die bekannten modernistischen Auseinandersetzungen mit außereuropäischen Ästhetiken benennt und angreift, die sich seiner Meinung nach in dem Satz zusammenfassen läßt, alle bildende Kunst handle von visuellen Erfahrungen, und wo er dieser Idee der "visuellen Künste" als einheitlicher Block die angeblich weniger exklusionistische und eurozentrische Idee "räumliche Künste" entgegensetzt, will Iris Därmann analog alle "Axiome, Kategorien, Begriffe, Methoden, Geltungs- und Wahrheitsansprüche der eigenen Kultur im einzelnen auf ihre interkulturelle Gültigkeit überprüfen". Das ehrt beide, dürfte aber kein Zuckerschlecken werden - denn von wo aus soll diese neue Überprüfung eigentlich stattfinden?
Es ist das alte Problem jeder Vernunftkritik, welche mehr sein will als bloß der banale Nachweis, daß Teile des in unseren Breiten für vernünftig Ausgegebenen gar nicht vernünftig sind. Wer darüber hinaus der Kategorie der Vernunft als solcher ans Leder will, sieht sich dem Einwand ausgesetzt: Wie willst du Kritik leisten, wenn nicht unter Rekurs auf das, was unsere Tradition "Vernunft" nennt?
Tradition und Vernunft stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis: Überlieferung kann irrational naturwüchsig sein, aber auch das Überprüfbare und Verabredete, nicht nur das Gottgegebene läßt sich vererben. Hier öffnet sich die scheinbar rein räumliche Kulturkreisfrage einer zeitlichen Dimension. Und was nun diese angeht, kann man durchaus zu anderen Schlüssen über die von Iris Därmann behandelten geistesgeschichtlichen Erscheinungen kommen als den bei ihr entwickelten. Die These zum Beispiel, wonach die Funde der Ethnographen eine "Provokation" oder "Erschütterung" der abendländischen Philosophen bewirkt haben, darf bezweifelt werden - schon weil sie dazu verführt, die Heldentaten und Irrtümer von Denkern und Forschern für etwas zu halten, das bloß vom Denken und Forschen kommt. Erschüttert und provoziert war Mitteleuropa im frühen zwanzigsten Jahrhundert jedoch von ganz anderen Dingen, nämlich den nicht mehr nur in den fernen Kolonien, sondern plötzlich auch in den mächtigsten Staaten der Welt spürbaren Rückwirkungen imperialistischer Wirtschafts- und Militärpolitik. Die großen Fragen, die im westlichen Kulturraum standen, waren der soziale Umsturz und die Angst davor. Die Skepsis gegenüber abendländischen Denktraditionen, die diese Erschütterungen begleitete, konnte neben ethnologisch munitionierten Infragestellungen westlich-linear-aristotelischen Denkens auch geschichts- und lebensphilosophische Gestalt annehmen, in Deutschland etwa bei Spengler und Klages, oder sich auf den Stand der Naturwissenschaften und deren Legitimationskrise beziehen, wie etwa bei Bohr, Heisenberg oder Husserl.
Der Zeitabschnitt, um den es Iris Därmann zu tun ist, war keiner der ruhigen Sammler und kontemplativen Komparatisten, die durch verblüffende Nachrichten aus entlegenen Regionen plötzlich in ihrem liebenswerten Trott verstört worden wären und dann versuchten, diese Provokation abzuwehren, sondern eine der sozial und intellektuell unruhigsten Epochen der Weltgeschichte überhaupt. Wer sich damals so verhielt, als wäre er von neuen Ideen und Funden provoziert worden, war in neunundneunzig von hundert Fällen in Wahrheit darauf aus, selbst zu provozieren und den sozialen Status quo entweder abzuschaffen oder mit rabiaten polemischen Interventionen zu verteidigen.
Solchen Einwänden zum Trotz aber liegt mit "Fremde Monde der Vernunft" ein wegweisender, nicht unbedingt vollständiger, in der Ausdeutung exemplarischer Einzelfälle jedoch im besten Wortsinn erschöpfender Katalog verschiedener Möglichkeiten vor, sich als europäischer Intellektueller für Europa zu schämen, davor zu ekeln und dagegen zu argumentieren. Ob es indigenen Ethnien oder sonst irgendwelchen Ausgebeuteten, Erniedrigten und Betrogenen allerdings etwas hilft, wenn die Hausdenker der Herrschaft unter Verweis auf die Interessantheit oder Schönheit fremder Hütten den Palast schlechtreden, in dem sie sitzen und der mit dem Leiden der Fremden erkauft ist, anstatt die Türen zu öffnen und jenen ihren rechtmäßigen Anteil am Reichtum auszuzahlen, ist fraglich. Intellektuelle Indianisierung kostet gewiß weniger als die Herstellung einer solidarischen Menschheit. Der Preis dieser Dinge entspricht ihrem Wert.
DIETMAR DATH
Iris Därmann: "Fremde Monde der Vernunft". Die ethnologische Provokation der Philosophie. Wilhelm Fink Verlag, München 2005. 789 S., br., 69,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Fremde ist unser Zeitgenosse: Iris Därmanns Studie über Ethnologie und Philosophie
Nachdem die Ethnologie umfangreiches Material und zahlreiche Erkenntnisse in der Ferne gesammelt und nach Europa gebracht hatte, begann hier leider nicht das, was man eine "Indianisierung" westlichen Denkens nennen könnte. Die Autorin zeigt, warum sich die Denker stur stellten und sich in ihren angestammten Ansichten über die Vernunft überboten. Die Fremden sollten fremd bleiben: Sie wurden nicht zu unseren Zeitgenossen.
Die Vorstellung, es könnte zweckmäßig und erhellend sein, die Weltbevölkerung analytisch in zusammenhängende Unterpopulationen aufzuteilen und taxonomisch nach Kulturkreisen zu unterscheiden, ist nicht ganz so zwingend, wie Ethnologen gern suggerieren.
Man könnte das, was über zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution nur noch in Sonntagsreden "Menschheit" heißt, genausogut nach Wirtschaftsräumen oder politischen Einflußzonen untergliedern - und müßte, so man's täte, bald anerkennen, daß dergleichen meistens dazu zwingt, ein paar scharfe laterale Schnitte ins Bild angeblich homogener Kulturkreise einzuziehen. Auch sonst leidet dies Bild an ernsten Mängeln; etwa im Hinblick auf die Einlösbarkeit des löblichen Vorsatzes der Wertfreiheit beim Vergleichen. Wer aus den Nachrichten weiß, daß Menschen aus Afrika häufiger Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen, während der umgekehrte Fall eher selten zu beobachten ist, der wird dran zweifeln, daß es im Sudan besonders schön ist. Soweit hat er ganz recht und ist mit den Flüchtlingen einig, egal, was sozialprojektiv versierte Metropolenintellektuelle predigen, die Elend als "fremde Kultur" adeln wollen. Glaubt er aber außerdem auch nur ein bißchen selbst an die Kulturkreisidee, könnte er sich als Europäer obendrein für den Sudanesen kulturell überlegen halten, und das ist er nun gerade nicht - bloß reich.
Iris Därmanns aus einer Habilitationsschrift hervorgegangene umfangreiche Abhandlung "Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie" hat solche Probleme zum Glück nicht. Das Buch will nämlich keineswegs auf Vergleiche zwischen Kulturkreisen, sondern auf eine akribische Fallbeschreibung dessen hinaus, was mit einer mehr oder weniger klar in einer bestimmten Gegend und einer spezifischen Epoche lokalisierten intellektuellen Tradition passiert, wenn sie sich solchen Vergleichen aussetzt. Die europäische Philosophie, so Därmanns Grundbehauptung, habe sich dazu gezwungen gesehen, ihre Gesamtarchitektur umzubauen, als die Ethnologie um 1900 als eigenständige Disziplin Gestalt annahm und, gestützt auf Vorarbeiten vor allem des britischen, genauer: viktorianischen neunzehnten Jahrhunderts, von Leuten wie Sigmund Freud und Wilhelm Dilthey intellektuell salonfähig gemacht wurde.
Bei Sichtung des von der Ethnologie angehäuften empirischen Materials sei es, so Därmann, für die genannten beiden Denker wie später für Edmund Husserl, Martin Heidegger, Emanuel Levinas und Jacques Derrida um die Gewinnung einer aus diesem Material zu abstrahierenden neuen Leitidee gegangen, mit der eigene kulturkritische wie -konstruktive Strategien durch eine selbstreflexive Krise hindurch zur positiven Stabilisierung eines neuen und anderen Argumentierens geführt werden sollten. Die Auseinandersetzung mit dem, was Ethnologen von J. G. Frazer bis Claude Lévi-Strauss da anzubieten hatten, habe in jedem der von Därmann entfalteten Fälle als Konfrontation mit sozialen und intellektuellen Phänomenen begonnen, die sich nicht auf die Schnittmusterbögen europäisch-metaphysischer Tradition herunterrechnen ließen.
Nach der beschwerlichen Passage durch "inverse und geteilte Ethnographien", das heißt: Kritik am "Eigenen" im Medium des konstruierten "Fremden", habe diese Auseinandersetzung letzlich stets als "Abwehr der Wahrheitsansprüche" außereuropäischer Denkweisen und Praktiken geendet. Die "Indianisierung" oder "Pazifizierung" hiesiger Denker sei vor allem deswegen mißlungen, weil die durch ethnologische Befunde vermittelte Kritik an abendländischen Philosophievorgaben stets nur zu deren Selbstüberbietung hin zu noch vernünftigeren, noch differenzierteren und in rousseauschem Sinne "gerechteren" Ansichten über alles mögliche gedient habe. Am Beispiel von Erörterungen ökonomischen Handelns und Rechnens in außereuropäischen Kulturen, die sich europäischen Tauschbegriffen entziehen und abstrakte Wertbildung auszuschließen scheinen, zeigt Därmann bei Heidegger, Levinas und Marcel Mauss, daß und wie europäisches Denken dazu neigt, selbst bei sonst antimetaphysischer Stoßrichtung am Ende immer nur gut abgehangene weise Lehren für "Seßhafte und Besitzende" zu produzieren. Diesem Schwerefeld hiesiger Vergesellschaftungsweisen könnte, so skizziert die Autorin in einem abschließenden Ausblick, nur entgehen, wer einige kategoriale Vorentscheidungen verabschiedet, die bislang jede abendländische philosophische Aneignung des von der Ethnologie Bereitgestellten aus deren Feldforschung übernommen hat - es ließe sich "eine Pluralität von wechselseitigen Philosophien denken, die die Fremden und die fremden Philosophien nicht mehr in eine zeitliche und kulturelle Distanz rückten, sondern sie - hier und jetzt - als Zeitgenossen betrachteten". Die Zeitgenossen, an die sich Iris Därmanns Buch wendet, sind reif für solche Ideen. Noch vor ein paar Jahren, als man an westlichen Universitäten die Frage zu stellen begann, ob die Silbe "post-" am Anfang des Wortes "postkolonial" dasselbe oder wenigstens etwas ähnliches meine wie in den Verbindungen "postmodern" und "poststrukturalistisch", war der Schritt vom Kulturvergleich zur Anerkennung der Fragwürdigkeit des dabei Verglichenen und angeblich inkommensurabel Verschiedenen schwierig zu denken.
Die Auseinandersetzung über die verschiedenen Arten des Postmodernen und des Postkolonialen, sich von der Moderne zu unterscheiden, ist aber inzwischen hinreichend hochauflösend geführt worden (mit welchen Ergebnissen, kann man zum Beispiel im 2004 erschienenen "Cambridge Companion to Postcolonial Literary Studies" von Neil Lazarus nachlesen).
So ist jetzt das Feld bereitet für Bücher der Sorte "Fremde Monde der Vernunft" oder die ebenso faszinierende wie problematische Riesen-Étude "Real Spaces" (2003) von David Summers über die Entstehung des westlichen Modernismus in der Kunst und die damit verbundene Verfehlung bis Vereitelung der Etablierung geeigneter begrifflicher und praktischer Kategorien für einen wirklich globalen Kunstbegriff. Wo Summers die scheinbar kulturinvariante Voraussetzung für die bekannten modernistischen Auseinandersetzungen mit außereuropäischen Ästhetiken benennt und angreift, die sich seiner Meinung nach in dem Satz zusammenfassen läßt, alle bildende Kunst handle von visuellen Erfahrungen, und wo er dieser Idee der "visuellen Künste" als einheitlicher Block die angeblich weniger exklusionistische und eurozentrische Idee "räumliche Künste" entgegensetzt, will Iris Därmann analog alle "Axiome, Kategorien, Begriffe, Methoden, Geltungs- und Wahrheitsansprüche der eigenen Kultur im einzelnen auf ihre interkulturelle Gültigkeit überprüfen". Das ehrt beide, dürfte aber kein Zuckerschlecken werden - denn von wo aus soll diese neue Überprüfung eigentlich stattfinden?
Es ist das alte Problem jeder Vernunftkritik, welche mehr sein will als bloß der banale Nachweis, daß Teile des in unseren Breiten für vernünftig Ausgegebenen gar nicht vernünftig sind. Wer darüber hinaus der Kategorie der Vernunft als solcher ans Leder will, sieht sich dem Einwand ausgesetzt: Wie willst du Kritik leisten, wenn nicht unter Rekurs auf das, was unsere Tradition "Vernunft" nennt?
Tradition und Vernunft stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis: Überlieferung kann irrational naturwüchsig sein, aber auch das Überprüfbare und Verabredete, nicht nur das Gottgegebene läßt sich vererben. Hier öffnet sich die scheinbar rein räumliche Kulturkreisfrage einer zeitlichen Dimension. Und was nun diese angeht, kann man durchaus zu anderen Schlüssen über die von Iris Därmann behandelten geistesgeschichtlichen Erscheinungen kommen als den bei ihr entwickelten. Die These zum Beispiel, wonach die Funde der Ethnographen eine "Provokation" oder "Erschütterung" der abendländischen Philosophen bewirkt haben, darf bezweifelt werden - schon weil sie dazu verführt, die Heldentaten und Irrtümer von Denkern und Forschern für etwas zu halten, das bloß vom Denken und Forschen kommt. Erschüttert und provoziert war Mitteleuropa im frühen zwanzigsten Jahrhundert jedoch von ganz anderen Dingen, nämlich den nicht mehr nur in den fernen Kolonien, sondern plötzlich auch in den mächtigsten Staaten der Welt spürbaren Rückwirkungen imperialistischer Wirtschafts- und Militärpolitik. Die großen Fragen, die im westlichen Kulturraum standen, waren der soziale Umsturz und die Angst davor. Die Skepsis gegenüber abendländischen Denktraditionen, die diese Erschütterungen begleitete, konnte neben ethnologisch munitionierten Infragestellungen westlich-linear-aristotelischen Denkens auch geschichts- und lebensphilosophische Gestalt annehmen, in Deutschland etwa bei Spengler und Klages, oder sich auf den Stand der Naturwissenschaften und deren Legitimationskrise beziehen, wie etwa bei Bohr, Heisenberg oder Husserl.
Der Zeitabschnitt, um den es Iris Därmann zu tun ist, war keiner der ruhigen Sammler und kontemplativen Komparatisten, die durch verblüffende Nachrichten aus entlegenen Regionen plötzlich in ihrem liebenswerten Trott verstört worden wären und dann versuchten, diese Provokation abzuwehren, sondern eine der sozial und intellektuell unruhigsten Epochen der Weltgeschichte überhaupt. Wer sich damals so verhielt, als wäre er von neuen Ideen und Funden provoziert worden, war in neunundneunzig von hundert Fällen in Wahrheit darauf aus, selbst zu provozieren und den sozialen Status quo entweder abzuschaffen oder mit rabiaten polemischen Interventionen zu verteidigen.
Solchen Einwänden zum Trotz aber liegt mit "Fremde Monde der Vernunft" ein wegweisender, nicht unbedingt vollständiger, in der Ausdeutung exemplarischer Einzelfälle jedoch im besten Wortsinn erschöpfender Katalog verschiedener Möglichkeiten vor, sich als europäischer Intellektueller für Europa zu schämen, davor zu ekeln und dagegen zu argumentieren. Ob es indigenen Ethnien oder sonst irgendwelchen Ausgebeuteten, Erniedrigten und Betrogenen allerdings etwas hilft, wenn die Hausdenker der Herrschaft unter Verweis auf die Interessantheit oder Schönheit fremder Hütten den Palast schlechtreden, in dem sie sitzen und der mit dem Leiden der Fremden erkauft ist, anstatt die Türen zu öffnen und jenen ihren rechtmäßigen Anteil am Reichtum auszuzahlen, ist fraglich. Intellektuelle Indianisierung kostet gewiß weniger als die Herstellung einer solidarischen Menschheit. Der Preis dieser Dinge entspricht ihrem Wert.
DIETMAR DATH
Iris Därmann: "Fremde Monde der Vernunft". Die ethnologische Provokation der Philosophie. Wilhelm Fink Verlag, München 2005. 789 S., br., 69,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht gänzlich einverstanden ist Dietmar Dath mit Iris Därmanns Studie über Ethnologie und Philosophie. Die Autorin setzt den Ausführungen des Rezensenten zufolge bei der Herausforderung an, die die neue Wissenschaft der Ethnologie im 20. Jahrhundert für die Philosophie darstellte. Als zentral in Därmanns Darstellung betrachtet Dath die Kritik an der Philosophie, habe diese Auseinandersetzung letztlich doch stets als "Abwehr der Wahrheitsansprüche" außereuropäischer Denkweisen und Praktiken geendet. Därmann zeige etwa bei Heidegger, Levinas und Marcel Mauss, dass und wie europäisches Denken dazu neige, am Ende immer nur gut abgehangene Lehren für "Seßhafte und Besitzende" zu produzieren. Auch wenn Dath hier gar nicht widersprechen will, die Alternative, die Därmann in der Verabschiedung einiger kategorialer Vorentscheidungen sieht, hält er für fragwürdig. Zweifelhaft erscheint ihm zudem die Grundthese einer "Provokation" oder "Erschütterung" der abendländischen Philosophie durch die Ethnologie, diese "Erschütterung" sieht er im frühen zwanzigsten Jahrhundert vielmehr in den Rückwirkungen imperialistischer Wirtschafts- und Militärpolitik und in der sozialen Frage.
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