Es ist ihr Lebensbericht, den Elisabeth einem jungen Arzt erzählt. Sie ist erst siebenundzwanzig. Früh war der Vater gestorben und die Kindheit nach dem Ersten Weltkrieg in dem kleinen Dorf in Deutschland voll Entbehrungen. Die Mutter ist eine schweigsame und strenge Frau. Erst viele Jahre später, kurz vor ihrem Tod, wird Elisabeth ihr nahe sein. Aus dem Kind reift eine selbstbewusste Frau heran, die ihr Leben trotz vieler Schicksalsschläge zu meistern versteht. Bei einem Urlaub in der Ostmark lernt sie ihren Mann kennen und lieben. Doch der Krieg Nazideutschlands setzt dem Glück ein jähes Ende. In ihrem Schmerz begeht Elisabeth einen Akt des Widerstandes, der ihr einzig richtig erscheint.In ihrem neuen Roman schildert Christine Haidegger ein authentisches Stimmungsbild der Zwischenkriegszeit. Bisher nur mit der unmittelbaren Gegenwart beschäftigt, wird aus einer jungen Frau eine Beobachterin der politischen Verhältnisse. In den schwierigsten Zeiten des 20. Jahrhunderts wächst sie durch Selbstbestimmung und Anteilnahme über sich selbst hinaus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2007Mut und Milieu
Christine Haideggers Zeitroman „Fremde Mutter”
„Wie ging es weiter, Elisabeth?” Die 27-jährige Elisabeth erzählt einem angehenden Arzt ihr Leben. Sie ahnt, dass sie sterben wird, durch die Hand der Nazis. Sie haben sie in eine Anstalt für behinderte Menschen gesteckt, wenig später werden sie sie in Hartheim ermorden. Wie so viele Tausende, die der Euthanasie zum Opfer fallen: „Das Urteil wurde in meiner Abwesenheit verkündet, und ich wurde für geisteskrank erklärt.”
Elisabeth ist alles andere als geisteskrank. Ihr Vergehen besteht darin, dass sie sich auf einen Bahnhof gestellt hatte, in der Hand ein Schild mit der Aufschrift „Nie wieder Krieg”. Kurz zuvor ist ihr Mann Hans in Norwegen gefallen. Den eineinhalbjährigen Sohn hat sie danach weggegeben, zu einer französischen Familie. Sie will nicht, dass er in Deutschland aufwächst. Es sind diese Schicksalsschläge, die aus der bislang gänzlich unpolitischen und ein wenig naiven Frau einen mutigen Menschen werden lassen. „So vieles”, merkt sie am Ende selbstkritisch an, „habe ich im Leben erst zu spät verstanden.” Der Satz ist auch als Mahnung für ihren jungen Zuhörer gedacht. Er behauptet, von dem tödlichen Treiben um ihn herum nichts zu wissen.
Christine Haideggers Roman „Fremde Mutter” muss man unter dem Aspekt dieses Einstellungswandels lesen. Die Größe des Wandels ist umso radikaler, als der Leser erst auf den allerletzten Seiten die Hintergründe von Elisabeths Inhaftierung erfährt. Mehr noch: Das politische Welt-Geschehen spielt bis zu diesem Zeitpunkt in Elisabeths biographischem Rückblick überhaupt keine Rolle. Sie verliert kein Wort über die Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machtübernahme. Sie berichtet von ihrer entbehrungsreichen Kindheit in einem Dorf in Süddeutschland. Diese ist geprägt von Armut und der strengen, verschlossenen Mutter. Sie berichtet von ihrer Arbeit im Pfarrhaus, die einen ersten sozialen Aufstieg bedeutet. Es ist auch der Pfarrer, der das fleißige Mädchen in die Stadt schickt, auf die Haushaltungsschule. Nach dem Tod der Mutter erhält sie in einer betuchten Fabrikantenfamilie eine Anstellung. Trotz der vielen Arbeit dort ist das ein weiterer Aufstieg. Sie freundet sich mit der Tochter an, liest viel, geht ins Theater. Schließlich lernt sie im Urlaub in Österreich ihren Mann kennen.
„Fremde Mutter” ist in der kenntnisreichen Schilderung des Alltags einfacher Leute ein Zeitroman. Es ist aber auch eine Bildungsgeschichte: Erzählt wird das langsame Herauswachsen eines Mädchens aus seinem Milieu. Dass wir allerdings nie erfahren, welche Bücher Elisabeth liest, welche Theaterstücke sie sich ansieht, verweist auf eine Schwäche des Buches: Haidegger bevorzugt gerade an entscheidenden Stellen das Vage, die Pauschalisierung. Wahrhaft misslungen ist aber die erzähltechnische Anlage des Romans. Der junge Arzt ist im Gegensatz zur Erzählerin keine eigenständige Figur. Haidegger hat ihm lediglich die Rolle des Fragestellers zugewiesen: „Wie ging es weiter, Elisabeth?” Viele Seiten lang taucht er gar nicht auf. Bis er mit der nächsten Frage Elisabeth zur Erzählung des folgenden Lebensabschnitts bewegen darf.FLORIAN WELLE
CHRISTINE HAIDEGGER: Fremde Mutter. Otto Müller Verlag, Salzburg 2006. 262 Seiten, 21 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Christine Haideggers Zeitroman „Fremde Mutter”
„Wie ging es weiter, Elisabeth?” Die 27-jährige Elisabeth erzählt einem angehenden Arzt ihr Leben. Sie ahnt, dass sie sterben wird, durch die Hand der Nazis. Sie haben sie in eine Anstalt für behinderte Menschen gesteckt, wenig später werden sie sie in Hartheim ermorden. Wie so viele Tausende, die der Euthanasie zum Opfer fallen: „Das Urteil wurde in meiner Abwesenheit verkündet, und ich wurde für geisteskrank erklärt.”
Elisabeth ist alles andere als geisteskrank. Ihr Vergehen besteht darin, dass sie sich auf einen Bahnhof gestellt hatte, in der Hand ein Schild mit der Aufschrift „Nie wieder Krieg”. Kurz zuvor ist ihr Mann Hans in Norwegen gefallen. Den eineinhalbjährigen Sohn hat sie danach weggegeben, zu einer französischen Familie. Sie will nicht, dass er in Deutschland aufwächst. Es sind diese Schicksalsschläge, die aus der bislang gänzlich unpolitischen und ein wenig naiven Frau einen mutigen Menschen werden lassen. „So vieles”, merkt sie am Ende selbstkritisch an, „habe ich im Leben erst zu spät verstanden.” Der Satz ist auch als Mahnung für ihren jungen Zuhörer gedacht. Er behauptet, von dem tödlichen Treiben um ihn herum nichts zu wissen.
Christine Haideggers Roman „Fremde Mutter” muss man unter dem Aspekt dieses Einstellungswandels lesen. Die Größe des Wandels ist umso radikaler, als der Leser erst auf den allerletzten Seiten die Hintergründe von Elisabeths Inhaftierung erfährt. Mehr noch: Das politische Welt-Geschehen spielt bis zu diesem Zeitpunkt in Elisabeths biographischem Rückblick überhaupt keine Rolle. Sie verliert kein Wort über die Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machtübernahme. Sie berichtet von ihrer entbehrungsreichen Kindheit in einem Dorf in Süddeutschland. Diese ist geprägt von Armut und der strengen, verschlossenen Mutter. Sie berichtet von ihrer Arbeit im Pfarrhaus, die einen ersten sozialen Aufstieg bedeutet. Es ist auch der Pfarrer, der das fleißige Mädchen in die Stadt schickt, auf die Haushaltungsschule. Nach dem Tod der Mutter erhält sie in einer betuchten Fabrikantenfamilie eine Anstellung. Trotz der vielen Arbeit dort ist das ein weiterer Aufstieg. Sie freundet sich mit der Tochter an, liest viel, geht ins Theater. Schließlich lernt sie im Urlaub in Österreich ihren Mann kennen.
„Fremde Mutter” ist in der kenntnisreichen Schilderung des Alltags einfacher Leute ein Zeitroman. Es ist aber auch eine Bildungsgeschichte: Erzählt wird das langsame Herauswachsen eines Mädchens aus seinem Milieu. Dass wir allerdings nie erfahren, welche Bücher Elisabeth liest, welche Theaterstücke sie sich ansieht, verweist auf eine Schwäche des Buches: Haidegger bevorzugt gerade an entscheidenden Stellen das Vage, die Pauschalisierung. Wahrhaft misslungen ist aber die erzähltechnische Anlage des Romans. Der junge Arzt ist im Gegensatz zur Erzählerin keine eigenständige Figur. Haidegger hat ihm lediglich die Rolle des Fragestellers zugewiesen: „Wie ging es weiter, Elisabeth?” Viele Seiten lang taucht er gar nicht auf. Bis er mit der nächsten Frage Elisabeth zur Erzählung des folgenden Lebensabschnitts bewegen darf.FLORIAN WELLE
CHRISTINE HAIDEGGER: Fremde Mutter. Otto Müller Verlag, Salzburg 2006. 262 Seiten, 21 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Rezensent Florian Welle kommt zu einem gemischten Fazit zu Christine Haideggers Roman "Fremde Mutter". Einerseits scheint ihn die Geschichte einer Frau, die von den Nazis aufgrund ihres emotionalen und politischen Reifeprozess - sie protestiert gegen den Krieg - für geistig behindert erklärt wird, zu berühren. Welle findet auch die Schilderung des täglichen Lebens "kenntnisreich". Zudem überzeugt ihn, wie ihre persönliche Entwicklung, "das langsame Herauswachsen eines Mädchens aus seinem Milieu", geschildert wird. Andererseits stört den Rezensenten, dass das Buch zu "vage" bleibt und man kaum erfährt, was Haideggers Protagonisten wirklich umtreibt. Man erfahre beispielsweise nie, "welche Bücher Elisabeth liest". Und richtig kritikwürdig findet Welle die "erzähltechnische Anlage" der Geschichte, da die dazu führt, dass man als Leser einem Monolog der Hauptperson folgt, ohne eine andere Perspektive durch den Arzt, der sie ausfragt, zu bekommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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