Feiner, kalter Nebel bedeckt die kahlen Bäume, die erstarrte Landschaft, unter Schnee und Reif verborgen, leuchtet klar und hell - dieser Winter des Jahres 1936 ist wie immer: Nur etwas ist anders in jenem Winter. Unbeleuchtete Lastwagen und endlose Karawanen von Maultieren transportieren des Nachts Munition und Waffen. Wie Todesboten ziehen diese langsamen Prozessionen vorbei - der Beginn eines Krieges. Die Menschen sind auf der Flucht und schleppen ihr wertvollstes Gut mit sich: ihr Leben.
Und so dringt der Schmerz allmählich in jeden Winkel und in jedes Dorf, in jedes Haus und in das Leben jedes einzelnen. Aber doch geschehen noch ganz andere Dinge. Wichtige Dinge, die ihre Bedeutung unter den dräuenden Schatten des Krieges verlieren, um erst viel später einen Platz in der Erinnerung zu bekommen. Wie die Vergewaltigung der María Antonia Etxarri oder die sonderbare Komplizenschaft des hinkenden Arztes Castro.
Als der Wahnsinn des Krieges den Alltag auslöschte, herrschte Dunkelheit. Eine, zwei oder drei Generationen später tauchen die Erinnerungen wieder auf.
Und so dringt der Schmerz allmählich in jeden Winkel und in jedes Dorf, in jedes Haus und in das Leben jedes einzelnen. Aber doch geschehen noch ganz andere Dinge. Wichtige Dinge, die ihre Bedeutung unter den dräuenden Schatten des Krieges verlieren, um erst viel später einen Platz in der Erinnerung zu bekommen. Wie die Vergewaltigung der María Antonia Etxarri oder die sonderbare Komplizenschaft des hinkenden Arztes Castro.
Als der Wahnsinn des Krieges den Alltag auslöschte, herrschte Dunkelheit. Eine, zwei oder drei Generationen später tauchen die Erinnerungen wieder auf.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nico Bleutge zeigt sich von diesem Roman des spanischen Autors Manuel de Lope beeindruckt. Er spielt vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkriegs und ist dennoch kein Kriegsbuch, das sich für exakte historischen Daten interessiert, stellt der Rezensent klar. Vielmehr geht es um die alte Maria Antonia Etxarri, die in einem Haus voller Gemälde ihren Erinnerungen nachhängt, die durch den Enkel der früheren, verstorbenen Hausbesitzerin Miguel Goitia eine Verschiebung erleben, fasst Bleutge zusammen. Er findet es ein bisschen schade, dass der Autor sich in seiner literarischen Erinnerungsarbeit mitunter allzu stark Marcel Proust "an den Hals wirft" und ebenfalls etwas ermüdend findet er die vielen "Embleme und allegorischen Kleinigkeiten", mit denen De Lope seinen Roman verrätselt hat. Andererseits räumt der Rezensent ein, dass dieses Verfahren vielleicht ganz gut zu dem "Geheimnis" passt, dass in diesem Buch steckt. Auf jeden Fall lobt Bleutge die "eigentümliche Spannung", die der Roman aufbaut und die seiner Ansicht nach vor allem darin liegt, dass der junge Enkel die Lösung dieses Rätsels, die den Lesern irgendwann aufgeht, nicht erfährt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2004Leeren Venen des Lebens
Manuel de Lope enthüllt die Wunden des Spanischen Bürgerkriegs
Den jungen Anwalt kümmern keine Kriege. Wenn Miguel Goitia aus Madrid in jenes baskische Landhaus unfern der französischen Grenze zurückkehrt, in dem einst seine Mutter kurz nach dem Einmarsch Francos aufwuchs, so leitet ihn kaum die Suche nach der verlorenen Zeit: Im Dezember möchte er als Notar zugelassen werden. Nichts kann sein Interesse erwecken als ein wenig ländliche Ruhe, um seine Prüfungen vorzubereiten; nicht einmal der Nachbar Dr. Castro, ein Bekannter bereits seiner verstorbenen Großmutter Isabel, obgleich der Arzt den wiederholten Versuch unternimmt, dem historischen Gedächtnis neues Leben einzuhauchen. An Goitias Unbeteiligtheit ändert sich wenig, bis er schließlich nach ein paar Wochen seine juristischen Fachbücher zuschlägt, um zurück nach Madrid zu reisen, und noch auf der Türschwelle die beharrliche Einladung der Hausherrin Maria Antonia Etxarri ausschlägt, ihm einen Stockfisch zum Abendessen zu bereiten.
Für einen Romanstoff mag das mager klingen. Dennoch liegen fast dreihundert Seiten zwischen dem Betreten und dem Verlassen des Landhauses "Las Cruces" ("Die Kreuze"), wo sich, ganz seinem Namen entsprechend, die Schicksale ebenso wie Gegenwart und Vergangenheit kreuzen. Eine verborgene Geschichte über vier Generationen hinweg kommt hier ans Licht, die Spaniens Geschichte des vergangenen Jahrhunderts en miniature abbildet. Zielpunkt und Zentralfigur ist dabei der junge Goitia, und zwar ohne davon auch nur eine Spur zu erahnen oder vielleicht auch einfach: erahnen zu wollen. Im scharfen Kontrast zur studiösen Eintönigkeit dieses langweiligsten aller möglichen Helden dagegen zieht uns der Roman mit einer des titelgebenden Blutes nicht entbehrenden, ja zuweilen fast animalischen Brutalität von der ersten Seite an in die Erinnerungen der Bewohner des baskischen Hondarribia - ein Strudel, dessen Mittelpunkt der Spanische Bürgerkrieg bildet.
Am Anfang steht eine mit geradezu bürokratischem Gleichmut geplante Vergewaltigung. Zu seinem Hochzeitstag erhält, kurz nach Kriegsausbruch, ein Feldwebel von seinem Oberleutnant das Geschenk, "wie ein Pferd" die von ihren Eltern verlassene sechzehnjährige Maria Antonia Etxarri besteigen zu dürfen. Von Francos Truppen wird zur selben Zeit der republikanische Hauptmann Herraíz erschossen, Miguel Goitias Großvater, soeben erst von der Hochzeitsreise mit seiner Frau Isabel zurückgekehrt. Den Höhepunkt des Romans bildet eine Fehlgeburt. Mit ebenso aufopferungsvoller wie hilfloser Mühe kämpft Dr. Castro gegen die Ausstoßung von Fruchtwasser, Blut, Plazentastücken und einem violetten Fötus mit Fischaugen, der das späte und einzige Produkt jener gewaltsam abgebrochenen Liebe Isabels darstellen sollte. Die Zusammenhänge zwischen diesen Ereignissen kann der Leser schließlich trotz ihrer kruden Darstellung durch die Augen Castros und Maria Antonias Etxarris überblicken - ganz im Gegensatz zum ebenso ahnungs- wie interesselos abreisenden Goitia.
Lope verzichtet sowohl auf künstlich erzeugte Spannungseffekte und forcierte narrative Experimente als auch auf eine politische Agitation und Positionsnahme, die angesichts seiner Biographie nur zu verständlich wäre - 1949 geboren, wurde er als Zwanzigjähriger von Francos Diktatur ins französische Exil gedrängt. Aus der subtilen Faszinationskraft seiner Charaktere und den sich stets verdichtenden Fragen gewinnt der Roman seine Stimmigkeit und Kraft. Da es der Autor mit Hilfe einer sehr natürlichen und gelungenen Parallelmontage erreicht, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart als Handlungsstränge zu entwickeln, ist "Fremdes Blut" nicht einfach nur ein weiteres Erzählwerk über den Spanischen Bürgerkrieg, sondern auch eine subtile Reflexion über die Welt, die er hinterlassen hat.
Es wirft ein melancholisches Licht auf eine junge Generation, die wie Goitia kein Bewußtsein für ihr "Fremdes Blut" besitzt und so, wie es das dem Roman vorangestellte Zitat aus Wilfred Owens "War Poems" andeutet, nicht in der Lage ist, "wieder mit Jugend die leeren Venen des Lebens" derjenigen zu füllen, denen der Krieg die wichtigsten Jahre geraubt hat. Träger dieser dennoch keineswegs bitter wirkenden Trauer ist besonders der alte Dr. Castro, auf den auch der resignierte letzte Satz des Romans gemünzt ist: "Aber der dort droben gibt den Alten nun mal nicht die Chance auf eine neue Jugend."
FLORIAN BORCHMEYER
Manuel de Lope: "Fremdes Blut". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Stefanie Gerhold. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003. 269 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Manuel de Lope enthüllt die Wunden des Spanischen Bürgerkriegs
Den jungen Anwalt kümmern keine Kriege. Wenn Miguel Goitia aus Madrid in jenes baskische Landhaus unfern der französischen Grenze zurückkehrt, in dem einst seine Mutter kurz nach dem Einmarsch Francos aufwuchs, so leitet ihn kaum die Suche nach der verlorenen Zeit: Im Dezember möchte er als Notar zugelassen werden. Nichts kann sein Interesse erwecken als ein wenig ländliche Ruhe, um seine Prüfungen vorzubereiten; nicht einmal der Nachbar Dr. Castro, ein Bekannter bereits seiner verstorbenen Großmutter Isabel, obgleich der Arzt den wiederholten Versuch unternimmt, dem historischen Gedächtnis neues Leben einzuhauchen. An Goitias Unbeteiligtheit ändert sich wenig, bis er schließlich nach ein paar Wochen seine juristischen Fachbücher zuschlägt, um zurück nach Madrid zu reisen, und noch auf der Türschwelle die beharrliche Einladung der Hausherrin Maria Antonia Etxarri ausschlägt, ihm einen Stockfisch zum Abendessen zu bereiten.
Für einen Romanstoff mag das mager klingen. Dennoch liegen fast dreihundert Seiten zwischen dem Betreten und dem Verlassen des Landhauses "Las Cruces" ("Die Kreuze"), wo sich, ganz seinem Namen entsprechend, die Schicksale ebenso wie Gegenwart und Vergangenheit kreuzen. Eine verborgene Geschichte über vier Generationen hinweg kommt hier ans Licht, die Spaniens Geschichte des vergangenen Jahrhunderts en miniature abbildet. Zielpunkt und Zentralfigur ist dabei der junge Goitia, und zwar ohne davon auch nur eine Spur zu erahnen oder vielleicht auch einfach: erahnen zu wollen. Im scharfen Kontrast zur studiösen Eintönigkeit dieses langweiligsten aller möglichen Helden dagegen zieht uns der Roman mit einer des titelgebenden Blutes nicht entbehrenden, ja zuweilen fast animalischen Brutalität von der ersten Seite an in die Erinnerungen der Bewohner des baskischen Hondarribia - ein Strudel, dessen Mittelpunkt der Spanische Bürgerkrieg bildet.
Am Anfang steht eine mit geradezu bürokratischem Gleichmut geplante Vergewaltigung. Zu seinem Hochzeitstag erhält, kurz nach Kriegsausbruch, ein Feldwebel von seinem Oberleutnant das Geschenk, "wie ein Pferd" die von ihren Eltern verlassene sechzehnjährige Maria Antonia Etxarri besteigen zu dürfen. Von Francos Truppen wird zur selben Zeit der republikanische Hauptmann Herraíz erschossen, Miguel Goitias Großvater, soeben erst von der Hochzeitsreise mit seiner Frau Isabel zurückgekehrt. Den Höhepunkt des Romans bildet eine Fehlgeburt. Mit ebenso aufopferungsvoller wie hilfloser Mühe kämpft Dr. Castro gegen die Ausstoßung von Fruchtwasser, Blut, Plazentastücken und einem violetten Fötus mit Fischaugen, der das späte und einzige Produkt jener gewaltsam abgebrochenen Liebe Isabels darstellen sollte. Die Zusammenhänge zwischen diesen Ereignissen kann der Leser schließlich trotz ihrer kruden Darstellung durch die Augen Castros und Maria Antonias Etxarris überblicken - ganz im Gegensatz zum ebenso ahnungs- wie interesselos abreisenden Goitia.
Lope verzichtet sowohl auf künstlich erzeugte Spannungseffekte und forcierte narrative Experimente als auch auf eine politische Agitation und Positionsnahme, die angesichts seiner Biographie nur zu verständlich wäre - 1949 geboren, wurde er als Zwanzigjähriger von Francos Diktatur ins französische Exil gedrängt. Aus der subtilen Faszinationskraft seiner Charaktere und den sich stets verdichtenden Fragen gewinnt der Roman seine Stimmigkeit und Kraft. Da es der Autor mit Hilfe einer sehr natürlichen und gelungenen Parallelmontage erreicht, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart als Handlungsstränge zu entwickeln, ist "Fremdes Blut" nicht einfach nur ein weiteres Erzählwerk über den Spanischen Bürgerkrieg, sondern auch eine subtile Reflexion über die Welt, die er hinterlassen hat.
Es wirft ein melancholisches Licht auf eine junge Generation, die wie Goitia kein Bewußtsein für ihr "Fremdes Blut" besitzt und so, wie es das dem Roman vorangestellte Zitat aus Wilfred Owens "War Poems" andeutet, nicht in der Lage ist, "wieder mit Jugend die leeren Venen des Lebens" derjenigen zu füllen, denen der Krieg die wichtigsten Jahre geraubt hat. Träger dieser dennoch keineswegs bitter wirkenden Trauer ist besonders der alte Dr. Castro, auf den auch der resignierte letzte Satz des Romans gemünzt ist: "Aber der dort droben gibt den Alten nun mal nicht die Chance auf eine neue Jugend."
FLORIAN BORCHMEYER
Manuel de Lope: "Fremdes Blut". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Stefanie Gerhold. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003. 269 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein wahrhaft unvergeßlicher Roman!" - "Krieg, Liebe und ein Geheimnis bestimmen das Leben dieser Menschen. Es gibt Szenen von großer Brutalität, bewegende Stellen und Seiten, die reine Poesie sind." (Isabel Allende)