Eine genaue Analyse der ersten Jahrzehnte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Vorarlberg läßt ein Bild entstehen, das sich von gängigen Vorstellungen gründlich unterscheidet: Weder war die Vorarlberger Sozialdemokratie eine Bewegung des Industrieproletariats, noch hat sie unter den zugewanderten italienischen Arbeitskräften nachhaltigen Widerhall gefunden. Auch ihre Entwicklung in den einzelnen Gemeinden läßt sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Untersucht man die alltäglichen Bedingungen der politischen Organisationsarbeit, so wird bald deutlich, daß kulturelle Konflikte mit Vertretern des katholisch-konservativen Lagers für die politische Entwicklung prägender waren als ökonomische Auseinandersetzungen mit den "Fabriksherren". An Orten, wo kein gefestigtes Lebens- und Wohnmilieu von Eisenbahnern die Grundlage sozialdemokratischer Organisationstätigkeit abgab, waren zeitweilige Bündnisse mit dem liberalen Bürgertum von ausschlaggebender Bedeutung. Insgesamt war somit die Vorarlberger Sozialdemokratie keine Bewegung der Industriearbeiter und schon gar nicht der Industriearbeiterinnen, sondern eine von vielen Rückschlägen begleitete Organisation von zu- und durchwandernden Handwerkern sowie von Eisenbahnern, die nicht selten aufgrund politisch begründeter Strafversetzungen nach Vorarlberg gekommen waren. Reinhard Mittersteiner, geb. 1952 in Hard (Vorarlberg), Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Lebt als Historiker und Ausstellungsdesigner in Wien.