Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2017Selbst ist der Therapeut
Wie die Psychoanalyse nach England kam: John Forrester und Laura Cameron über ein vergessenes Kapitel der Rezeption Sigmund Freuds, in dem auch Ludwig Wittgenstein eine Rolle spielt.
Im Sommer 1922 erhielt Sigmund Freud eine Einladung für eine Vortragsreise nach Cambridge. Sichtlich beunruhigt fragte Ernest Jones, der sich als wichtigstes Sprachrohr der Psychoanalyse in England sah, den in Berchtesgaden weilenden Freud, wer dieser mysteriöse Mr. Sprott sei, der auch ihm geschrieben hatte: "Ich möchte zuerst von Ihnen etwas über die Glaubwürdigkeit des Mannes hören, denn vielleicht ist er bloss ein Agent. Ich weiss nichts über ihn." Die Antwort kam umgehend und zeigte, wie gut Freud über seinen Gastgeber informiert war: "Mr. Sprott ist ein Mann von vorzüglichen Manieren und guten Verbindungen, einer von Lytton Strachey's Favoriten und ein Freund von Maynard Keynes, ein Psychologiestudent aus Cambridge."
Obwohl ihn die Einladung sichtlich geschmeichelt hatte, sollte Freud nie nach Cambridge reisen. Seine nächste Reise nach England führte ihn nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach London, mit dem Ziel "in Freiheit zu sterben". Wenn Freud Cambridge auch nie betrat, seine Schriften fanden in der kleinen Universitätsstadt in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts viele enthusiastische Anhänger. In der gemeinsam mit Laura Cameron verfassten Studie "Freud in Cambridge" schildert der Wissenschaftshistoriker John Forrester, wie es dazu kam, dass die frühe englische Rezeption der Psychoanalyse ihren Schwerpunkt zunächst in Cambridge und nicht in London hatte - eine Episode, die von der Geschichtsschreibung vergessen wurde, da sie nicht in ein herkömmliches disziplinen- oder institutionengeschichtliches Schema passte.
Die Autoren bedienen sich auf überzeugende Weise der Methode der kollektiven Biographie, die sich der Rekonstruktion von miteinander verflochtenen individuellen Lebensverläufen und informellen Netzwerken widmet. Mit dem Entwurf dieses Bildes einer von Freud faszinierten britischen Bildungselite sowie ihrer zahlreichen Geheimgesellschaften und Klubs - wie der "Apostles" oder der "Heretics Society" - legen sie auch ein originelles Kapitel Universitätsgeschichte vor.
Die Freud-Faszination zog sich quer durch alle Disziplinen: So übte sich etwa der Botaniker Sir Arthur Tansley, dem die moderne Ökologie den Begriff des Ökosystems verdankt, ebenso in der Analyse seiner Träume wie der Anthropologe W.H.R. Rivers, der auch im Ersten Weltkrieg traumatisierte Soldaten mit einer entschärften Version der Psychoanalyse behandelte, oder der Philosoph Bertrand Russell, der 1921 apodiktisch verkündete, Träume folgten "ebenso Gesetzen wie die Bewegungen der Planeten".
Der Fall Tansleys ist überdies aufschlussreich, da dieser sich rühmte, die Methode der psychoanalytischen Traumanalyse schon entwickelt zu haben, bevor er überhaupt mit Freuds Schriften bekannt geworden war. Bereits vor dem Krieg begeisterte er seine Studenten für die Lehren der "neuen Psychologie", die er 1920 in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller "The New Psychology And Its Relation To Life" darstellte und so die Aufmerksamkeit Freuds und Jones' erregte.
Wie eine Reihe seiner Kollegen aus Cambridge reiste er in den zwanziger Jahren nach Wien, um den Meister persönlich kennenzulernen und sich sogar auf dessen Couch zu legen. Für einige, wie Lyttons Bruder James Strachey, den späteren Übersetzer und Herausgeber der Standard Edition von Freuds Werken, sollte dies eine entscheidende Wende bedeuten; für andere blieb es nur Episode, wie etwa für den späteren Soziologieprofessor Sebastian Sprott, der Freud bis in sein Feriendomizil nachgereist war, um ihn einzuladen.
Die vielgestaltige Rezeption der Psychoanalyse durch die britische Wissenschaftselite verdankte sich auch dem Umstand, dass Freuds Theorie und Therapie noch offengehalten waren: Wie das Beispiel Tansleys und anderer früher Freudianer in Cambridge zeigt, konnte man sich selbst durch die Analyse der eigenen Träume zum Psychoanalytiker ausbilden. Das Modell der meist schriftlich durchgeführten Selbstanalyse geriet in England erst in den zwanziger Jahren vermehrt in die Kritik von Seiten jener Freud-Schüler, die wie Ernest Jones eine strikte institutionelle Reglementierung der Ausbildung forderten.
Ab 1925 bildete sich um Tansley eine erste informelle Gruppe von Wissenschaftlern, die alle auf dem Kontinent persönliche Erfahrungen mit der Psychoanalyse gemacht hatten. Die in diesem Kreis diskutierten Forschungsthemen waren durchaus exzentrisch: Während etwa der Mathematiker Lionel Penrose sich mit Leidenschaft der Psychoanalyse des Schachspiels widmete, suchte der prominente Statistiker, Geophysiker und Astronom Harold Jeffreys mit Hinweis auf Melanie Kleins Analysen von Kleinkindern zu belegen, dass deren Handlungen den strengen Schlussregeln der Logik folgten. Es nimmt kaum wunder, dass in dieser Atmosphäre das Schulexperiment der von Susan Isaacs geleiteten Malting House School entstand, in der das Kind primär als angehender Naturforscher galt. Unter unausgesetzter Beobachtung durch die Erzieher sollten die Kinder der Wissenschaftselite hier die Natur wie kleine Wissenschaftler auf spielerische Weise entdecken lernen.
Ebenso erhellend wie die detailreiche Rekonstruktion solcher Episoden sind die aus neuem Archivmaterial geschilderten Auswirkungen der Freud-Rezeption auf bekanntere Vertreter ihres Fachs. So haben I. A. Richards, Bertrand Russell oder Ludwig Wittgenstein naturgemäß ebenfalls ihre gebührenden Auftritte in diesem Buch. Die vielfach kommentierte Auseinandersetzung des österreichischen Philosophen mit Freud erscheint allerdings in einem anderen Licht, wenn die Rolle von weniger bekannten Cambridge-Professoren wie John Wisdom in Rechnung gestellt wird.
Im Gegensatz zu Wittgenstein, der Distanz zur Universität hielt und von 1922 an immer weniger publizierte, hatte Wisdom institutionell größeres Gewicht und äußerte sich bereits früh und wiederholt zur "therapeutischen" Aufgabe der analytischen Philosophie, sowie deren Ähnlichkeiten und Differenzen zur Psychoanalyse. Wenn ein ungelöstes philosophisches Problem wie ein neurotisches Symptom zu behandeln ist, dann geht es dem Sprachphilosophen weniger um die endgültige Lösung, als um ein reflexives Problembewusstsein und das Verständnis tiefer liegender Mechanismen.
Das letzte, ungeschriebene Kapitel dieser Geschichte Freuds in Cambridge ist jenes von John Forresters eigener Karriere, die brillant in den siebziger Jahren mit einer Dissertation über die Rolle der Sprache in der Psychoanalyse begann (kaum zufällig war Wisdom einer der Hauptgutachter, der ihn fragte, was Wittgenstein wohl zu dieser Arbeit gesagt hätte). Über mehrere Jahrzehnte führten sein Unterricht und seine Veröffentlichungen einen neuen Ton in die Psychoanalyse-Geschichtsschreibung ein: spielerisch und humorvoll distanziert, in der Sache ohne Konzessionen und stets nah am Text. Dieses Buch, das er kurz vor seinem Tod im November 2015 noch abschließen konnte, verfügt über all diese Qualitäten und demonstriert, wie intellektuell anregend Freuds Nichtankunft in Cambridge war.
ANDREAS MAYER
John Forrester und Laura Cameron: "Freud in Cambridge".
Cambridge University Press, Cambridge 2017. 812 S., br. 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die Psychoanalyse nach England kam: John Forrester und Laura Cameron über ein vergessenes Kapitel der Rezeption Sigmund Freuds, in dem auch Ludwig Wittgenstein eine Rolle spielt.
Im Sommer 1922 erhielt Sigmund Freud eine Einladung für eine Vortragsreise nach Cambridge. Sichtlich beunruhigt fragte Ernest Jones, der sich als wichtigstes Sprachrohr der Psychoanalyse in England sah, den in Berchtesgaden weilenden Freud, wer dieser mysteriöse Mr. Sprott sei, der auch ihm geschrieben hatte: "Ich möchte zuerst von Ihnen etwas über die Glaubwürdigkeit des Mannes hören, denn vielleicht ist er bloss ein Agent. Ich weiss nichts über ihn." Die Antwort kam umgehend und zeigte, wie gut Freud über seinen Gastgeber informiert war: "Mr. Sprott ist ein Mann von vorzüglichen Manieren und guten Verbindungen, einer von Lytton Strachey's Favoriten und ein Freund von Maynard Keynes, ein Psychologiestudent aus Cambridge."
Obwohl ihn die Einladung sichtlich geschmeichelt hatte, sollte Freud nie nach Cambridge reisen. Seine nächste Reise nach England führte ihn nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach London, mit dem Ziel "in Freiheit zu sterben". Wenn Freud Cambridge auch nie betrat, seine Schriften fanden in der kleinen Universitätsstadt in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts viele enthusiastische Anhänger. In der gemeinsam mit Laura Cameron verfassten Studie "Freud in Cambridge" schildert der Wissenschaftshistoriker John Forrester, wie es dazu kam, dass die frühe englische Rezeption der Psychoanalyse ihren Schwerpunkt zunächst in Cambridge und nicht in London hatte - eine Episode, die von der Geschichtsschreibung vergessen wurde, da sie nicht in ein herkömmliches disziplinen- oder institutionengeschichtliches Schema passte.
Die Autoren bedienen sich auf überzeugende Weise der Methode der kollektiven Biographie, die sich der Rekonstruktion von miteinander verflochtenen individuellen Lebensverläufen und informellen Netzwerken widmet. Mit dem Entwurf dieses Bildes einer von Freud faszinierten britischen Bildungselite sowie ihrer zahlreichen Geheimgesellschaften und Klubs - wie der "Apostles" oder der "Heretics Society" - legen sie auch ein originelles Kapitel Universitätsgeschichte vor.
Die Freud-Faszination zog sich quer durch alle Disziplinen: So übte sich etwa der Botaniker Sir Arthur Tansley, dem die moderne Ökologie den Begriff des Ökosystems verdankt, ebenso in der Analyse seiner Träume wie der Anthropologe W.H.R. Rivers, der auch im Ersten Weltkrieg traumatisierte Soldaten mit einer entschärften Version der Psychoanalyse behandelte, oder der Philosoph Bertrand Russell, der 1921 apodiktisch verkündete, Träume folgten "ebenso Gesetzen wie die Bewegungen der Planeten".
Der Fall Tansleys ist überdies aufschlussreich, da dieser sich rühmte, die Methode der psychoanalytischen Traumanalyse schon entwickelt zu haben, bevor er überhaupt mit Freuds Schriften bekannt geworden war. Bereits vor dem Krieg begeisterte er seine Studenten für die Lehren der "neuen Psychologie", die er 1920 in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller "The New Psychology And Its Relation To Life" darstellte und so die Aufmerksamkeit Freuds und Jones' erregte.
Wie eine Reihe seiner Kollegen aus Cambridge reiste er in den zwanziger Jahren nach Wien, um den Meister persönlich kennenzulernen und sich sogar auf dessen Couch zu legen. Für einige, wie Lyttons Bruder James Strachey, den späteren Übersetzer und Herausgeber der Standard Edition von Freuds Werken, sollte dies eine entscheidende Wende bedeuten; für andere blieb es nur Episode, wie etwa für den späteren Soziologieprofessor Sebastian Sprott, der Freud bis in sein Feriendomizil nachgereist war, um ihn einzuladen.
Die vielgestaltige Rezeption der Psychoanalyse durch die britische Wissenschaftselite verdankte sich auch dem Umstand, dass Freuds Theorie und Therapie noch offengehalten waren: Wie das Beispiel Tansleys und anderer früher Freudianer in Cambridge zeigt, konnte man sich selbst durch die Analyse der eigenen Träume zum Psychoanalytiker ausbilden. Das Modell der meist schriftlich durchgeführten Selbstanalyse geriet in England erst in den zwanziger Jahren vermehrt in die Kritik von Seiten jener Freud-Schüler, die wie Ernest Jones eine strikte institutionelle Reglementierung der Ausbildung forderten.
Ab 1925 bildete sich um Tansley eine erste informelle Gruppe von Wissenschaftlern, die alle auf dem Kontinent persönliche Erfahrungen mit der Psychoanalyse gemacht hatten. Die in diesem Kreis diskutierten Forschungsthemen waren durchaus exzentrisch: Während etwa der Mathematiker Lionel Penrose sich mit Leidenschaft der Psychoanalyse des Schachspiels widmete, suchte der prominente Statistiker, Geophysiker und Astronom Harold Jeffreys mit Hinweis auf Melanie Kleins Analysen von Kleinkindern zu belegen, dass deren Handlungen den strengen Schlussregeln der Logik folgten. Es nimmt kaum wunder, dass in dieser Atmosphäre das Schulexperiment der von Susan Isaacs geleiteten Malting House School entstand, in der das Kind primär als angehender Naturforscher galt. Unter unausgesetzter Beobachtung durch die Erzieher sollten die Kinder der Wissenschaftselite hier die Natur wie kleine Wissenschaftler auf spielerische Weise entdecken lernen.
Ebenso erhellend wie die detailreiche Rekonstruktion solcher Episoden sind die aus neuem Archivmaterial geschilderten Auswirkungen der Freud-Rezeption auf bekanntere Vertreter ihres Fachs. So haben I. A. Richards, Bertrand Russell oder Ludwig Wittgenstein naturgemäß ebenfalls ihre gebührenden Auftritte in diesem Buch. Die vielfach kommentierte Auseinandersetzung des österreichischen Philosophen mit Freud erscheint allerdings in einem anderen Licht, wenn die Rolle von weniger bekannten Cambridge-Professoren wie John Wisdom in Rechnung gestellt wird.
Im Gegensatz zu Wittgenstein, der Distanz zur Universität hielt und von 1922 an immer weniger publizierte, hatte Wisdom institutionell größeres Gewicht und äußerte sich bereits früh und wiederholt zur "therapeutischen" Aufgabe der analytischen Philosophie, sowie deren Ähnlichkeiten und Differenzen zur Psychoanalyse. Wenn ein ungelöstes philosophisches Problem wie ein neurotisches Symptom zu behandeln ist, dann geht es dem Sprachphilosophen weniger um die endgültige Lösung, als um ein reflexives Problembewusstsein und das Verständnis tiefer liegender Mechanismen.
Das letzte, ungeschriebene Kapitel dieser Geschichte Freuds in Cambridge ist jenes von John Forresters eigener Karriere, die brillant in den siebziger Jahren mit einer Dissertation über die Rolle der Sprache in der Psychoanalyse begann (kaum zufällig war Wisdom einer der Hauptgutachter, der ihn fragte, was Wittgenstein wohl zu dieser Arbeit gesagt hätte). Über mehrere Jahrzehnte führten sein Unterricht und seine Veröffentlichungen einen neuen Ton in die Psychoanalyse-Geschichtsschreibung ein: spielerisch und humorvoll distanziert, in der Sache ohne Konzessionen und stets nah am Text. Dieses Buch, das er kurz vor seinem Tod im November 2015 noch abschließen konnte, verfügt über all diese Qualitäten und demonstriert, wie intellektuell anregend Freuds Nichtankunft in Cambridge war.
ANDREAS MAYER
John Forrester und Laura Cameron: "Freud in Cambridge".
Cambridge University Press, Cambridge 2017. 812 S., br. 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Freud in Cambridge is an extraordinary and detailed account of an aspect of the British life of psychoanalysis little examined in intellectual history. Cambridge seems on its surface less rich than the London centre of psychoanalysis. Yet what Forrester and Cameron show is how extraordinarily rich this tale is ... Without a doubt this is one of the most important books on twentieth-century British intellectual history I have read in a very long time.' Sander L. Gilman, author of Freud, Race, and Gender