Vom Unterbewusstsein an die Oberfläche der Dingwelt: Der Vater der Psychoanalyse und seine Traumdeutung im Spiegel ihrer Gegenstände
Wer sich in die Fallgeschichten Sigmund Freuds vertieft, der versteht: Das nebenher Gesagte, das belanglose Detail ist das Entscheidende. Da taucht zum Beispiel die »Apollokerze« auf, das Erfolgsprodukt der Wiener »Apollogesellschaft«, die in dem im Jahr 1839 bankrottgegangenen Etablissement »Apollosäle« ihren Firmensitz hatte: industriell gefertigte Stearin-Kerzen, die reißenden Absatz fanden, weil ihr Docht nicht nachgeschnitten werden musste. Die Lexika belegen es: Diese Apollokerzen wurden zum Synonym für Stearin-Kerzen. Und: Sie bevölkern das Unbewusste unbescholtener Fräuleins, kommen auf Freuds Couch zur Sprache.
Die Psychoanalyse ist eine archäologische Unternehmung, sie gräbt im Unbewussten, im Verborgenen nach Scherben und Fragmenten. Aber sie gräbt nicht Rom aus, sondern die Gegenwart. Die Apollokerzen gingen aus der Einwanderung der antiken Götter und Heroen in den bürgerlichen Alltag hervor. Kein Telegrafenamt ohne Atlas mit der Weltkugel, keine Glühbirnen ohne Lichtgötter, kein Transportunternehmen ohne Merkur, kein Kaminsims ohne Venus von Medici.
Die frühe Psychoanalyse folgt dem Gesetz, nach dem die Kerzenfabrikanten, die Vergnügungsbranche oder die Industrie ihre Waren benennen. Und wie die Apollokerzen in der Dingwelt kursierte der »Ödipuskomplex« bald in der Alltagssprache. Das Unbewusste von Freuds Patienten war bevölkert mit den Requisiten des bürgerlichen Alltags und Interieurs. In ihren Träumen und Fehlhandlungen regiert die »Tücke des Objekts«, die damals sprichwörtlich wurde.
So sind Freuds Schriften nicht nur eine Aufdeckung des Verdrängten oder Verdichteten, der Lektüre im Unbewussten, sondern zugleich ein Kompendium der Dingwelt des 19. Jahrhunderts, vom Regenschirm bis zu den Schreibgeräten. Das Unheimliche und das Harmlose begegnen sich an dieser Schnittstelle. Lothar Müller blättert das Kompendium auf: von A bis Z.
Wer sich in die Fallgeschichten Sigmund Freuds vertieft, der versteht: Das nebenher Gesagte, das belanglose Detail ist das Entscheidende. Da taucht zum Beispiel die »Apollokerze« auf, das Erfolgsprodukt der Wiener »Apollogesellschaft«, die in dem im Jahr 1839 bankrottgegangenen Etablissement »Apollosäle« ihren Firmensitz hatte: industriell gefertigte Stearin-Kerzen, die reißenden Absatz fanden, weil ihr Docht nicht nachgeschnitten werden musste. Die Lexika belegen es: Diese Apollokerzen wurden zum Synonym für Stearin-Kerzen. Und: Sie bevölkern das Unbewusste unbescholtener Fräuleins, kommen auf Freuds Couch zur Sprache.
Die Psychoanalyse ist eine archäologische Unternehmung, sie gräbt im Unbewussten, im Verborgenen nach Scherben und Fragmenten. Aber sie gräbt nicht Rom aus, sondern die Gegenwart. Die Apollokerzen gingen aus der Einwanderung der antiken Götter und Heroen in den bürgerlichen Alltag hervor. Kein Telegrafenamt ohne Atlas mit der Weltkugel, keine Glühbirnen ohne Lichtgötter, kein Transportunternehmen ohne Merkur, kein Kaminsims ohne Venus von Medici.
Die frühe Psychoanalyse folgt dem Gesetz, nach dem die Kerzenfabrikanten, die Vergnügungsbranche oder die Industrie ihre Waren benennen. Und wie die Apollokerzen in der Dingwelt kursierte der »Ödipuskomplex« bald in der Alltagssprache. Das Unbewusste von Freuds Patienten war bevölkert mit den Requisiten des bürgerlichen Alltags und Interieurs. In ihren Träumen und Fehlhandlungen regiert die »Tücke des Objekts«, die damals sprichwörtlich wurde.
So sind Freuds Schriften nicht nur eine Aufdeckung des Verdrängten oder Verdichteten, der Lektüre im Unbewussten, sondern zugleich ein Kompendium der Dingwelt des 19. Jahrhunderts, vom Regenschirm bis zu den Schreibgeräten. Das Unheimliche und das Harmlose begegnen sich an dieser Schnittstelle. Lothar Müller blättert das Kompendium auf: von A bis Z.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2019Das Unheimliche sitzt stets im eigenen Haus
Von den Dingen zur Theorie: Lothar Müller zeichnet nach, wie Freud die Obsessionen erkannte, die sich hinter jedem noch so banalen Requisit verbergen.
Vor zwanzig Jahren war im Wiener Freud-Museum eine Ausstellung der Antiquitätensammlung zu sehen, die gemeinsam mit dem Begründer der Psychoanalyse 1938 ins Londoner Exil gegangen war. Dabei ging es nicht nur darum, Freuds umfangreiche, in der Mehrzahl aus antiken Figuren bestehende Sammlung wenigstens besuchsweise an ihren Ursprungsort zurückzuholen, sondern deren vielfältige Beziehungen zur Psychoanalyse herauszuschälen. Die "alten und dreckigen Götter" beteiligten sich, wie die Kuratorin Lydia Marinelli damals im Katalog schrieb, an der analytischen Arbeit, indem sie zahlreiche Assoziationen ermöglichten, um Verbindungen zwischen Psychoanalyse, Archäologie, Mythologie und Altertumskunde herzustellen. Die kleinen Statuen erfüllten damit eine ähnliche Funktion wie Metaphern und Gleichnisse. Freud benutzte sie in heuristischer Absicht, um sich der Terra incognita des Unbewussten, für das es keine anatomisch oder physiologisch approbierte Beschreibung gab, anzunähern.
Die damalige Ausstellung war Ausdruck einer einsetzenden Konjunktur der Dinge, die Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaften gleichermaßen erfasste. In Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Orientierung an Wort, Idee und Theorie ging es darum, die Bedeutung von Objekten, materiellen Repräsentationen und Wissensräumen für die Geschichte des Wissens fruchtbar zu machen. Auch für Freud gilt, dass neben seinen Antiken auch Gegenstände wie die Couch oder der Wunderblock in ihrer Bedeutung für Theorie und Praxis der Psychoanalyse ausgiebig beschrieben worden sind.
Die Hinwendung zu den Dingen hat aufschlussreiche Forschungsergebnisse zutage gefördert, aber eine Frage ist bislang nicht gestellt worden: Gibt es im Hinblick auf die Psychoanalyse neben der offensichtlichen Metaphorisierungsarbeit einen gemeinsamen Nenner, der all die vielfältigen Phänomene der Dingwelt zusammenführt, und wenn ja, worin könnte er bestehen? In seinem neuen Buch gibt Lothar Müller eine so einfache wie bestechende Antwort: Die Dinge ermöglichen eine "Einbettung der Lehren Freuds in die Lebenswelt, der sie entstammen".
Vor einigen Jahren hat Müller eine außerordentlich lesenswerte Geschichte des Papiers vorgelegt, in der er zeigt, dass es keine Epoche der Bücher, Zeitschriften, Geldscheine oder Eintrittskarten gegeben hätte ohne die stoffliche Robustheit von Papier, dessen Herstellungsverfahren und einen wohlorganisierten Markt, der den wachsenden Papierhunger befriedigte, zum Teil sogar erst anregte. Papier ermöglichte einen neuen Blick auf die Welt. In "Freuds Dinge" verfolgt Müller unter Berufung auf Sigfried Giedion einen ähnlichen Ansatz. Die Transformation des Alltagslebens durch eine neuartige Dingwelt - und das heißt seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem: eine Konsumwelt mit Waren, die die bürgerliche Physiognomie prägen - hat auch neue Wahrnehmungsweisen hervorgebracht, die sich die Psychoanalyse in doppelter Weise zunutze machte: einmal eben als Gleichnisse zur Entfaltung ihrer Theorien, und einmal als Material zur Entschlüsselung der Träume.
Dass Freud der Epoche der Mechanisierung, Thermodynamik und Elektrifizierung entstammt, wird durch beliebige Lektüre seiner Schriften schnell deutlich. Doch wie die mitunter subtilen Verbindungen zwischen diesen Dingen und der Theoriebildung gestrickt sind; welche Bedeutung äußere Gestalt, Funktion und der Name der Dinge in diesem Zusammenhang haben; dass Freud sich nicht nur für kostbare Antiken oder Jahrhunderterfindungen wie das Telefon interessierte, sondern auch das Unscheinbare, den billigen Nippes und schnell vergängliche Gebrauchsgegenstände wie Kerzen der Marke "Apollo" einbezog - all das führt Müller mit Hilfe von Tugenden vor, die Freud selbst gepflegt hat: Aufmerksamkeit aufs klein Scheinende, Genauigkeit der Lektüre und überraschende Assoziationen, die der enormen Belesenheit des Autors Leichtigkeit und Eleganz verschaffen.
"Freuds Dinge" ist weder eine Einführung in Freud noch in die Warenwelten des bürgerlichen Zeitalters, es ist vielmehr ein Cicerone durch die mit Dingen bestückten Räume, die Freuds unmittelbare Lebenswelt in Wien ausmachten. Wobei auch Müller nicht umhinkommt, das wissenschaftliche Labor und die Klinik, wo der junge Neuroanatom und Arzt mit Mikrotomen, Elektrisiermaschinen und Mikroskopen hantierte, an den Beginn seines Buches zu setzen. Zu sehr blieb Freud den naturwissenschaftlichen Apparaturen auch nach seinem Rückzug aus der Universität verbunden. Und doch waren die Labore nicht die Räume, in denen die Psychoanalyse in Theorie und Praxis entwickelt wurde. Das geschah in der Wohnung in der Berggasse 19, wo die Familie Freud seit 1891 zu Hause war. Das typisch bürgerliche Interieur sowohl der Privaträume als auch des Arbeitsbereichs kennt man aus den Fotografien Edmund Engelmans, die im Mai 1938 angefertigt wurden, als über dem Hauseingang bereits ein Hakenkreuz angebracht war. Damit war diese bürgerliche Welt untergegangen.
Das heißt jedoch nicht, dass um 1900 noch alles in schönster Ordnung gewesen wäre. Behutsam zeichnet Müller die Verbindungslinien zwischen bürgerlichem und seelischem Interieur nach. Das Unheimliche beruht nicht, wie es Reaktionäre damals und heute behaupten, auf einer Invasion von außen, sondern sitzt inmitten der vermeintlichen Geborgenheit im eigenen Haus. Hinter jedem noch so harmlosen Requisit können sich Leidenschaften, Obsessionen und Pathologien verbergen, welche die Souveränität des bürgerlichen Ichs grundsätzlich in Frage stellen. Auch wenn Freud sich zunächst dagegen wehrte, war die Psychoanalyse von Anfang auch eine Gesellschaftsdiagnostik, einfach weil sich im Unbewussten Spuren jener Dinge ablagerten, die in der bürgerlichen Welt kursierten.
Am prägnantesten stellt Müller diese Verbindungen in den Kapiteln über die Antikensammlung heraus. Die Antiken befanden sich ausschließlich in Freuds Arbeitsbereich - als sollte der bürgerliche Plüsch von den dreckigen Göttern reingehalten werden. Aber natürlich waren diese Stücke, ob Originale oder fürs breite Publikum hergestellte Kopien, in der geistigen und realen Asservatenkammer des Bürgertums allgegenwärtig. Zwischen die antike Mythologie und Freuds Aufklärungsarbeit treten die Dinge, die in der Waren- und Vorstellungswelt des neunzehnten Jahrhunderts zirkulieren.
In einer besonders dichten Passage zeigt Müller, dass Freuds Antikenbegeisterung nicht auf die Fortführung einer von Winckelmann, Schiller oder Goethe genährten klassischen Bildung zu reduzieren ist. Wenn das alles gewesen wäre, hätte sich das späte nicht vom frühen neunzehnten Jahrhundert unterschieden. Doch die antiken Götter erfahren im Verlauf des Jahrhunderts eine grundlegende Transformation. Was den Unterschied ausmacht, ist die Loslösung ihres Nachlebens von der Opposition zwischen Christentum und heidnischer Antike. Dadurch wird der Weg frei für eine "Veralltäglichung der antiken Götter und Heroen", der Müller in Mikroexkursen zu Heinrich Heine, Joseph Conrad und Franz Kafka nachgeht. Für die literarische Verarbeitung gilt ebenso wie für Freuds Analysen, dass sie einen gemeinsamen Resonanzraum bilden mit den Nymphen, Göttern und anderen mythischen Wesen, die auf Häuserfassaden, in Vergnügungsstätten und der aufziehenden Welt der Werbung zu sehen waren.
Müllers Beschreibungskunst besteht darin, den Dingen in Freuds Texten nachzuspüren, sie herauszupräparieren und in die Lebenswelt zurückzuholen, aus der sie stammen, um auf diese Weise den Texten neue Nuancen abzugewinnen. Man hat große Lust, Freuds Schriften mit neu geschärfter Aufmerksamkeit wieder zur Hand zu nehmen. Am schönsten wäre es, sich die Dinge daneben zu legen, die in diesen Texten verhandelt werden. Wenn die Dinge jedoch gerade nicht zur Hand sind, ist man mit "Freuds Dinge" bestens bedient.
MICHAEL HAGNER
Lothar Müller: "Freuds Dinge". Der Diwan,
die Apollokerzen & die Seele im technischen Zeitalter.
Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 420 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von den Dingen zur Theorie: Lothar Müller zeichnet nach, wie Freud die Obsessionen erkannte, die sich hinter jedem noch so banalen Requisit verbergen.
Vor zwanzig Jahren war im Wiener Freud-Museum eine Ausstellung der Antiquitätensammlung zu sehen, die gemeinsam mit dem Begründer der Psychoanalyse 1938 ins Londoner Exil gegangen war. Dabei ging es nicht nur darum, Freuds umfangreiche, in der Mehrzahl aus antiken Figuren bestehende Sammlung wenigstens besuchsweise an ihren Ursprungsort zurückzuholen, sondern deren vielfältige Beziehungen zur Psychoanalyse herauszuschälen. Die "alten und dreckigen Götter" beteiligten sich, wie die Kuratorin Lydia Marinelli damals im Katalog schrieb, an der analytischen Arbeit, indem sie zahlreiche Assoziationen ermöglichten, um Verbindungen zwischen Psychoanalyse, Archäologie, Mythologie und Altertumskunde herzustellen. Die kleinen Statuen erfüllten damit eine ähnliche Funktion wie Metaphern und Gleichnisse. Freud benutzte sie in heuristischer Absicht, um sich der Terra incognita des Unbewussten, für das es keine anatomisch oder physiologisch approbierte Beschreibung gab, anzunähern.
Die damalige Ausstellung war Ausdruck einer einsetzenden Konjunktur der Dinge, die Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaften gleichermaßen erfasste. In Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Orientierung an Wort, Idee und Theorie ging es darum, die Bedeutung von Objekten, materiellen Repräsentationen und Wissensräumen für die Geschichte des Wissens fruchtbar zu machen. Auch für Freud gilt, dass neben seinen Antiken auch Gegenstände wie die Couch oder der Wunderblock in ihrer Bedeutung für Theorie und Praxis der Psychoanalyse ausgiebig beschrieben worden sind.
Die Hinwendung zu den Dingen hat aufschlussreiche Forschungsergebnisse zutage gefördert, aber eine Frage ist bislang nicht gestellt worden: Gibt es im Hinblick auf die Psychoanalyse neben der offensichtlichen Metaphorisierungsarbeit einen gemeinsamen Nenner, der all die vielfältigen Phänomene der Dingwelt zusammenführt, und wenn ja, worin könnte er bestehen? In seinem neuen Buch gibt Lothar Müller eine so einfache wie bestechende Antwort: Die Dinge ermöglichen eine "Einbettung der Lehren Freuds in die Lebenswelt, der sie entstammen".
Vor einigen Jahren hat Müller eine außerordentlich lesenswerte Geschichte des Papiers vorgelegt, in der er zeigt, dass es keine Epoche der Bücher, Zeitschriften, Geldscheine oder Eintrittskarten gegeben hätte ohne die stoffliche Robustheit von Papier, dessen Herstellungsverfahren und einen wohlorganisierten Markt, der den wachsenden Papierhunger befriedigte, zum Teil sogar erst anregte. Papier ermöglichte einen neuen Blick auf die Welt. In "Freuds Dinge" verfolgt Müller unter Berufung auf Sigfried Giedion einen ähnlichen Ansatz. Die Transformation des Alltagslebens durch eine neuartige Dingwelt - und das heißt seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem: eine Konsumwelt mit Waren, die die bürgerliche Physiognomie prägen - hat auch neue Wahrnehmungsweisen hervorgebracht, die sich die Psychoanalyse in doppelter Weise zunutze machte: einmal eben als Gleichnisse zur Entfaltung ihrer Theorien, und einmal als Material zur Entschlüsselung der Träume.
Dass Freud der Epoche der Mechanisierung, Thermodynamik und Elektrifizierung entstammt, wird durch beliebige Lektüre seiner Schriften schnell deutlich. Doch wie die mitunter subtilen Verbindungen zwischen diesen Dingen und der Theoriebildung gestrickt sind; welche Bedeutung äußere Gestalt, Funktion und der Name der Dinge in diesem Zusammenhang haben; dass Freud sich nicht nur für kostbare Antiken oder Jahrhunderterfindungen wie das Telefon interessierte, sondern auch das Unscheinbare, den billigen Nippes und schnell vergängliche Gebrauchsgegenstände wie Kerzen der Marke "Apollo" einbezog - all das führt Müller mit Hilfe von Tugenden vor, die Freud selbst gepflegt hat: Aufmerksamkeit aufs klein Scheinende, Genauigkeit der Lektüre und überraschende Assoziationen, die der enormen Belesenheit des Autors Leichtigkeit und Eleganz verschaffen.
"Freuds Dinge" ist weder eine Einführung in Freud noch in die Warenwelten des bürgerlichen Zeitalters, es ist vielmehr ein Cicerone durch die mit Dingen bestückten Räume, die Freuds unmittelbare Lebenswelt in Wien ausmachten. Wobei auch Müller nicht umhinkommt, das wissenschaftliche Labor und die Klinik, wo der junge Neuroanatom und Arzt mit Mikrotomen, Elektrisiermaschinen und Mikroskopen hantierte, an den Beginn seines Buches zu setzen. Zu sehr blieb Freud den naturwissenschaftlichen Apparaturen auch nach seinem Rückzug aus der Universität verbunden. Und doch waren die Labore nicht die Räume, in denen die Psychoanalyse in Theorie und Praxis entwickelt wurde. Das geschah in der Wohnung in der Berggasse 19, wo die Familie Freud seit 1891 zu Hause war. Das typisch bürgerliche Interieur sowohl der Privaträume als auch des Arbeitsbereichs kennt man aus den Fotografien Edmund Engelmans, die im Mai 1938 angefertigt wurden, als über dem Hauseingang bereits ein Hakenkreuz angebracht war. Damit war diese bürgerliche Welt untergegangen.
Das heißt jedoch nicht, dass um 1900 noch alles in schönster Ordnung gewesen wäre. Behutsam zeichnet Müller die Verbindungslinien zwischen bürgerlichem und seelischem Interieur nach. Das Unheimliche beruht nicht, wie es Reaktionäre damals und heute behaupten, auf einer Invasion von außen, sondern sitzt inmitten der vermeintlichen Geborgenheit im eigenen Haus. Hinter jedem noch so harmlosen Requisit können sich Leidenschaften, Obsessionen und Pathologien verbergen, welche die Souveränität des bürgerlichen Ichs grundsätzlich in Frage stellen. Auch wenn Freud sich zunächst dagegen wehrte, war die Psychoanalyse von Anfang auch eine Gesellschaftsdiagnostik, einfach weil sich im Unbewussten Spuren jener Dinge ablagerten, die in der bürgerlichen Welt kursierten.
Am prägnantesten stellt Müller diese Verbindungen in den Kapiteln über die Antikensammlung heraus. Die Antiken befanden sich ausschließlich in Freuds Arbeitsbereich - als sollte der bürgerliche Plüsch von den dreckigen Göttern reingehalten werden. Aber natürlich waren diese Stücke, ob Originale oder fürs breite Publikum hergestellte Kopien, in der geistigen und realen Asservatenkammer des Bürgertums allgegenwärtig. Zwischen die antike Mythologie und Freuds Aufklärungsarbeit treten die Dinge, die in der Waren- und Vorstellungswelt des neunzehnten Jahrhunderts zirkulieren.
In einer besonders dichten Passage zeigt Müller, dass Freuds Antikenbegeisterung nicht auf die Fortführung einer von Winckelmann, Schiller oder Goethe genährten klassischen Bildung zu reduzieren ist. Wenn das alles gewesen wäre, hätte sich das späte nicht vom frühen neunzehnten Jahrhundert unterschieden. Doch die antiken Götter erfahren im Verlauf des Jahrhunderts eine grundlegende Transformation. Was den Unterschied ausmacht, ist die Loslösung ihres Nachlebens von der Opposition zwischen Christentum und heidnischer Antike. Dadurch wird der Weg frei für eine "Veralltäglichung der antiken Götter und Heroen", der Müller in Mikroexkursen zu Heinrich Heine, Joseph Conrad und Franz Kafka nachgeht. Für die literarische Verarbeitung gilt ebenso wie für Freuds Analysen, dass sie einen gemeinsamen Resonanzraum bilden mit den Nymphen, Göttern und anderen mythischen Wesen, die auf Häuserfassaden, in Vergnügungsstätten und der aufziehenden Welt der Werbung zu sehen waren.
Müllers Beschreibungskunst besteht darin, den Dingen in Freuds Texten nachzuspüren, sie herauszupräparieren und in die Lebenswelt zurückzuholen, aus der sie stammen, um auf diese Weise den Texten neue Nuancen abzugewinnen. Man hat große Lust, Freuds Schriften mit neu geschärfter Aufmerksamkeit wieder zur Hand zu nehmen. Am schönsten wäre es, sich die Dinge daneben zu legen, die in diesen Texten verhandelt werden. Wenn die Dinge jedoch gerade nicht zur Hand sind, ist man mit "Freuds Dinge" bestens bedient.
MICHAEL HAGNER
Lothar Müller: "Freuds Dinge". Der Diwan,
die Apollokerzen & die Seele im technischen Zeitalter.
Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 420 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wissenschaftshistoriker Michael Hagner lobt dieses Buch des SZ-Literaturkritikers Lothar Müller in den höchsten Tönen: Gelehrt, "elegant", assoziations- und beobachtungsreich führe Müller in Freuds Lebenswelt ein und klopft dabei dessen Besitz von wertvollen Antiken, technischen Apparaturen und "billigen Nippes" auf Obsessionen und Pathologien, kurz: die Psychoanalyse, ab, so der Kritiker. Verbindungen zwischen "bürgerlichem und seelischem Interieur" kann ihm der Autor deutlich vor Augen führen, vor allem mit Blick auf die Antikensammlung, die Freud, ganz Kind seiner Zeit, weniger als Symbol klassischer Bildung denn als Alltagsgegenstände wertschätzte, informiert Hagner. Wie präzise Müller auch Freuds Schriften auf die beschriebenen Dinge hin analysiert, hat den Rezensenten tief beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Müller zeigt, dass Freud, wenn er vom "seelischen Apparat" spricht, immer auch an ganz reale technische Apparate denkt. Sein Buch ist eine Mythologie des Alltags, und es verdeutlich am Alltag einer Theoriebildung, dass Theorie ohne Alltag so etwas wäre wie ein Liebesgedicht eines Dichters, der noch nie verliebt war." Philosophie Magazin 20190507