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Was zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit den eigenwilligen Forschungen des jungen Doktor Freud begann, hat das Selbstverständnis des Menschen und seiner Kultur verändert wie kaum eine andere Theorie. Eli Zaretsky hat nun die erste wirklich umfassende Geschichte der Psychoanalyse geschrieben. Sie handelt nicht nur von den prominenten Protagonisten - von Freud und Adler bis zu Lacan - sondern versteht die psychoanalytische Bewegung als einen zentralen Akteur der Geschichte des 20. Jahrhunderts. "Sorgfältig und intelligent: diese Form der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse war dringend notwendig." (Peter Gay)…mehr

Produktbeschreibung
Was zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit den eigenwilligen Forschungen des jungen Doktor Freud begann, hat das Selbstverständnis des Menschen und seiner Kultur verändert wie kaum eine andere Theorie. Eli Zaretsky hat nun die erste wirklich umfassende Geschichte der Psychoanalyse geschrieben. Sie handelt nicht nur von den prominenten Protagonisten - von Freud und Adler bis zu Lacan - sondern versteht die psychoanalytische Bewegung als einen zentralen Akteur der Geschichte des 20. Jahrhunderts. "Sorgfältig und intelligent: diese Form der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse war dringend notwendig." (Peter Gay)
Autorenporträt
Zaretsky, EliEli Zaretsky promovierte 1978 an der Universität Maryland. Sein Buch Capitalism, the Family, and personal Life (Die Zukunft der Familie, dt. 1978) wurde bisher in 14 Sprachen übersetzt. Daneben publizierte er Aufsätze über Familiengeschichte, Psychoanalyse und moderne Kulturgeschichte. Zaretsky ist Professor der Geschichte an der New School University in New York City. 2006 ist sein Buch Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse im Paul Zsolnay Verlag erschienen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2006

Verlustmeldung in die Berggasse
Moderne psychodynamische Dramen: Sigmund Freuds Wirkung

Sigmund Freud wäre am 6. Mai einhundertfünfzig Jahre alt geworden. Aus den Geburtstagsbüchern ragen zwei heraus, die auf ganz unterschiedliche Weise daran festhalten, daß wir Freud nicht verloren geben sollen.

Zahlreiche Begriffe aus seinem Repertoire (wie "Verdrängung") sind uns heute selbstverständlich - und sind uns doch unangenehm, weil sie an einer längst dahingegangenen Zeit kleben wie tote Fliegen am Klebeband: Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in einem mährischen Städtchen geboren, kam 1860 mit der Familie nach Wien und hat dann große und überraschende Theorien über den Menschen (man denke nur an "Das Ich und das Es" und den dort geschilderten Kampf der menschlichen Urgewalten) und, damit nicht genug für den sehr strebsamen Bewohner der k. u. k. Monarchie, große und überraschende Theorien über die Menschheit aufgestellt (man denke nur an "Totem und Tabu" und die dort geschilderte Ermordung des Urhordenvaters durch die Urhordensöhne). Wie aber kriegt man nun heute wieder Schwung in den alten Freud?

Wer lange mit Ideen zugange gewesen ist, den mag irgendwann die Lust überkommen, den Ideen schöne Beine zu machen und sie in das Rad der Welt zu setzen und sie dort mit ihren schönen Beinen laufen zu lassen. Das sieht dann so aus, als würden die Ideen das Rad der Welt antreiben - als würden sie ihren Teil dazu beitragen, daß sich das Rad der Welt dreht. Eine Idee im Laufrad der Welt gewinnt an Macht, Bedeutung und an Ansehen - sie rotiert.

Der Kultur- und Wissenssoziologe Eli Zaretsky hat den alten bleichen Freud und dessen schwergewichtige Theorien in dieses Laufrad hineingestellt. Er beschreibt die Ideen Freuds und verfolgt vor begrifflichen und psychosozialen Panoramen deren Rezeption und Kritik durch Analytiker in Europa und vor allem in den Vereinigten Staaten - darunter Wilhelm Reich, Alfred Adler, Melanie Klein, Karen Horney, Heinz Kohut, Jacques Lacan und Herbert Marcuse. Wer nichts aus eigener Lektüre kennt, der kommt also mit diesem Buch ein gutes Stück voran - und sieht zum Beispiel: Die Achtundsechziger haben aus der Freudschen Theorie vor allem ein Pülverchen für ihre Kulturkritik gemacht. Sie waren weniger am einzelnen und seiner gefalteten Seele interessiert, sondern mehr an einer Kulturpolitik, die dem Individuum unter die Arme griff und ihm größere Gestaltungsmöglichkeiten für sein Leben versprach.

Mit dem Psychojargon haben die Rebellen die Wolken vom siebten Himmel vertreiben wollen. Damals, als man die Familie verachten lernte (die Frankfurter Schule erklärte, daß die bürgerliche Familie patriarchalisch gebaut sei, daß in ihrem Kreis die Autoritätshörigkeit geübt werde und daß sie auf diese Weise dem Führerprinzip zuarbeite) - damals, als man neue Lebensformen (Kommune, variantenreiche Paarbeziehungen) probte, hatte die Psychoanalyse das letzte Mal mit den Flügeln geflattert und einen kräftigen Aufwind erhalten.

Diese letzte Generation von Freud-Lesern landete mit ihren Vorstellungen, so Zaretsky, "ohne sich dessen gewahr zu werden, bei ebenden gruppenorientierten Theorien, die die Psychoanalyse verdrängten". (Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter taucht mit seinen populären Büchern "Eltern, Kind und Neurose", 1969, und "Lernziel Solidarität", 1979, bei Zaretzky nicht auf.)

Zaretsky möchte die Psychoanalyse vor ihrem Untergang bewahren. Bewahrenswert ist ihm ein ganzes Bündel von Einsichten, die er an einer Stelle so schön locker zusammenstellt - als würde er einen Bund roter Tulpen in die Vase stellen, weshalb wir ihn zitieren möchten: "Dazu gehört, daß jeder einzelne eine innere Welt hat, die zu einem guten Teil nicht nur unbewußt, sondern auch unterdrückt ist; daß die Beziehungen zu anderen, besonders zu denjenigen, die man liebt, von Bildern und Wünschen durchdrungen sind, die aus jener unbewußten Welt stammen; daß, psychologisch gesehen, ein Mann oder eine Frau zu sein das Ergebnis eines einmaligen und heiklen Prozesses ist; daß niemand einfach das eine oder das andere Geschlecht ist oder hat; daß letztlich eine unüberbrückbare Kluft besteht zwischen dem innerpsychischen Leben des Individuums und den kulturellen Mythen und Archetypen, von denen es umgeben ist; daß, wenn vom einzigartigen Wert eines Individuums gesprochen wird, ebendas konkrete, besondere und kontingente Individuum gemeint ist und keine Abstraktion; daß Gesellschaft und Politik nicht nur von bewußten Interessen und erkannten Notwendigkeiten bewegt werden, sondern auch von unbewußten Motiven, Ängsten und unausgesprochenen Erinnerungen; und daß sogar große Nationen Traumata erleiden und abrupte Kurswechsel und Regressionen durchmachen können."

Auf den weichen Kissen solcher Weisheiten läßt sich dösen und träumen, möchte man meinen. Ob, wer hier vor der Kissenwelt scheut, Zutrauen in die Psychoanalyse faßt, wenn er sich dem opulenten Handbuch über Freud (gleichsam dem Strohsack in diesem Freud-Jahr) zuwendet, das Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer herausgegeben haben? Hier stehen sorgfältig gearbeitete Artikel über Freuds Leben, Schriften und Wirkung akkurat nebeneinander wie die Bettchen der sieben Zwerge. Wer hier anfängt zu lesen, der rennt der Frage in die Arme: Lohnt sich die Lektüre von Freuds Werken (nehmen wir nur die "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie") wirklich noch? Vielleicht ist es ja so: Wir blättern in Freuds Schriften rum - nicht etwa, weil er ein grandioser Schriftsteller ist, der einen immer fesseln kann, sondern weil wir längst D. W. Winnicott oder Gregory Bateson lesen - so wie ja kaum noch einer "Das Kapital" von Marx liest (wer redet heute vom "Proletariat"), aber viele "Empire" von Hardt und Negri mit sich tragen. Freud ist ein langer Schatten.

Zaretsky meint, daß die Psychoanalyse die Idee eines ganz persönlichen Lebens auf durchschlagende Weise in die moderne Welt gesetzt habe. Die Psychoanalyse habe die durch die industrielle Entwicklung aufgerissene Trennung zwischen Beruf und Familie, Privatem und Öffentlichem als Chance für den einzelnen gesehen, sie habe dem einzelnen deshalb aufmunternd auf die Schulter geklopft und ihn aufgefordert, ein individuelles Format zu gewinnen, endlich ein ganz persönliches Leben zu führen.

Die fette Weide, auf der die individuelle Façon rund werden konnte, war das von Freud groß herausgebrachte Unbewußte. Denn das Unbewußte war etwas ganz und gar Persönliches, es ließ sich nicht in etwas Dürres und Allgemeines, zum Beispiel in die wunschlose Vernunft der Aufklärung, zerbröseln. Das Freudsche Unbewußte garantierte jedem Ich, das einem beim Gang durch die Straßen entgegenkam oder einem im Café gegenübersaß, eine absolute, eine dunkle Subjektivität - die sich auf die absolute und dunkle Sexualität als kongenialen Partner, mit dem der Welt und ihren Konventionen Paroli zu bieten sei, verlassen konnte. Die offensiven Freudschen Träger des Unbewußten schauen grandios aus - wie beim Doderer die Menschen mit ihren Dämonen, die über die Donau ziehen. (In Doderers "Strudelhofstiege" findet sich auch ein kleines abendliches Gespräch unter jungen Männern über die Seelenlage und den persönlichen Stil.)

In der Konsumgesellschaft Jahrzehnte später war von dieser vor allem die Frauen und die Homosexuellen aus den sozialen Zwängen heraustreibenden Idee eines persönlichen Lebens nicht mehr übriggeblieben als eine alle Schichten erfassende Vorstellung vom Glück. Freud verschwand mit seinem Unbewußten, und Frank Sinatra kam - mit "My Way" auf den Lippen. Diesem allgemeinen Verlust an Individualität (heute sehen wir ja auf weiten Strecken nur noch mobile und motivierte Leistungsträger) entsprach eine begriffliche Erosion bei den Psychoanalytikern, die von der amerikanischen Ich-Psychologie bis zu den Theorien des Selbst reichte (jetzt ging es um "Anerkennung" statt um "Widerstand").

Zaretskys Geschichte der Freudschen Gedanken ist lesenswert, wenn auch streckenweise redundant - spannender als ein solides Handbuch ist sie allemal. Vergessen möchten wir über Zaretskys Geburtstagsbuch nicht Edith Kurzweils gelehrte Studie über "Freud und die Freudianer", die 1993 auf deutsch erschienen ist. Hier wird die Psychoanalyse nicht in das Laufrad der Welt gesteckt - um so vorsichtiger sind die Ausführungen zur Rezeption und der Wirkung der Freudschen Ideen auf die folgenden Generationen von Analytikern in unterschiedlichen Ländern. Edith Kurzweil widmet zum Beispiel Alexander Mitscherlich ein Kapitel - im Thesenpanorama Zaretskys taucht Mitscherlich, der in der Bundesrepublik die Stichwörter der "vaterlosen Gesellschaft" und der "Unfähigkeit zu trauern" prägte, nur einmal auf. Aber auch diese Stichwörter einer sozialpsychologisch gewendeten Psychoanalyse bleiben uns heute im Hals stecken. Freuds Jahrhundert liegt weit, weit hinter uns.

Wahrscheinlich ist es einfach so: Freud hat einen ganz anderen Menschenschlag gekannt. Man könnte sich ein Völkerkundemuseum vorstellen, in dem man neben Sälen für die Afrikaner, die Chinesen, die Japaner und die amerikanischen Indianer auch einen Saal für Menschen der vorletzten Jahrhundertwende findet, insbesondere für die Bewohner von Großstädten, für die Wiener zum Beispiel oder für die Berliner. Dann sieht man, daß diese Menschen von unserer menschlichen Gegenwart weit weggerückt sind, so wie von den Figuren aus den avancierten Romanen und Erzählungen und Dramen unserer Gegenwart ja auch die Figuren aus den avancierten Romanen und Erzählungen und Dramen jener Jahrzehnte weit weggerückt sind, auch wenn wir beim Lesen und Zuhören immer noch so tun, als seien sie bei uns.

Abgesehen von den theoretischen Zumutungen der Psychoanalyse, über die sich streiten läßt: Die Freudsche Theorie ist die Unterstellung, daß es eine Brücke in die nahe und ferne Vergangenheit gibt und immer geben wird. Das ist eine herzerwärmende Vorstellung, die mit landläufigen Erfahrungen über die kulturindustrielle Räumung der Seelen und die Zurichtung der Restinnerlichkeit kollidiert. An Freud zu erinnern, und sei es zu seinem einhundertfünfzigsten Geburtstag, bedeutet deswegen immer: eine Verlustmeldung aufzusetzen und mit hochachtungsvollen Grüßen in die Berggasse 19 in Wien zu schicken.

EBERHARD RATHGEB

Eli Zaretsky: "Freuds Jahrhundert". Die Geschichte der Psychoanalyse. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 622 S, geb., 34,50 [Euro].

Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer (Hrsg.): "Freud. Handbuch". Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 2006. 452 S., geb., 64,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kritisch betrachtet Martin Bauer diese Geschichte der Psychoanalyse, die der Historiker Eli Zaretsky vorgelegt hat. Dass der Autor die Psychoanalyse als Plädoyer für eine neue Lebensform versteht und Freud als "Menschheitsbefreier" und "couragierten Advokaten einer Ethik gelingenden Selbstseins" darstellt, erscheint ihm durchaus vertretbar. Bauer verschweigt nicht, dass Zaretsky auch konkurrierende Interpretationen der Sache Freuds zu Wort kommen lässt. Allerdings vermisst er eine argumentative Auseinandersetzung. Zudem kommt Frankreich als wichtiges Freud-Rezeptionsland seines Erachtens viel zu kurz. Doch damit hätte er leben können. Wirklich ärgerlich findet Bauer dagegen die "atemberaubende Schlampigkeit" des Textes, in dem es vor Ungenauigkeiten nur so wimmelt und in dem im Haupttext angekündigte Fußnoten im Anmerkungsteil dann einfach fehlen.

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"Was ist unterm Strich von der Psychoaanalyse übrig geblieben, 150 Jahr nach Freuds Geburt? Zaretskys großartig geschriebenes Werk gibt keine endgültige Antwort. Wer aber zu einer Antwort finden will, kommt ohne dieses Buch nicht aus." Thomas Macho, Literaturen, 5/2006 "Zaretskys Geschichte der Freudschen Gedanken ist lesenwert, wenn auch streckenweise redundant - spannender als ein solides Handbuch ist sie allemal." Eberhard Rathgeb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.04.2006 "Eine ... sehr instruktive und ins Innere des psychoanalytischen Denkens führende Auseinandersetzung." Dierk Wolters, Frankfurter Neue Presse, 27.04.06 "So sehen gelungene Sachbücher von heute aus, die das Zeug haben, morgen schon Standardwerke zu sein." Wolfgang Ritschl, ORF Hörfunk Kontext, 10.03.2006 Platz 1 der Empfehlungsliste Sachbuch der ZEIT, 23.03.2006 "Der amerikanische Historiker erzählt souverän, warum Freuds psychoanalytische Lehre weltweit ein ganzes Jahrhundert bewegt hat." "Die Geschichte der Psychoanalyse einmal nicht als Zauberstück ihrer berühmtesten Vertreter, sondern als Ausdruck der Veränderungen der Moderne... Originell und umfassend". Buchjournal 1/2006 "Die hervorragende Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse durch Eli Zaretsky und deren Einstellung in den jeweiligen historischen Kontext liest sich ungemein fesselnd und ist unterhaltsame Wissensvermittlung und Aufklärung zugleich." André Hanke, ZeitPunkt, 4/2006 "...weit gespannt und gründlich recherchiert..." Ludger Lütkehaus, Neue Zürcher Zeitung, 20.04.2006 "Die angenehm einfache Sprache ... und die ausgezeichnete Übersetzung machen dieses Buch gut verständlich und lesenswert für alle, die sich für die Psychoanalyse und ihre internationale Geschichte interessieren, aber vor allem für die deutschsprachigen Psychoanalytiker selbst." Thea Bauriedl, Psychologie Heute, 05/2006 "...ein großer Wurf..." Lukas Wieselberg, Falter, 14.03.2006…mehr