Produktdetails
- ISBN-13: 9783621265331
- Artikelnr.: 25126060
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.1999Tagtraumdeutung
Die Rezeptionsgeschichte von Sigmund Freuds Moses-Buch belegt, daß ein Text durch seine Lektüre entsteht
Die Rezeptionsgeschichte von Sigmund Freuds letztem Buch, "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", das kurz vor seinem Tod 1939 in Amsterdam erschien, scheint dessen wichtigste These zu illustrieren: die Wiederkehr des Verdrängten. Die ersten Jahrzehnte nach Freuds Tod bedeuteten für sein Moses-Buch eine Latenzphase, in der es mit befremdetem Schweigen übergangen wurde. 1974 publizierte Marthe Robert "D'Oedipe à Moise", es war das erste Anzeichen einer Wende. 1979 entdeckte Pier Cesare Bori den berühmten Entwurf aus dem Jahr 1934, der als "historischer Roman" betitelt war. Zehn Jahre später begann mit Boris Buchs "L'estasi del profeta" (1989), Yosef Hayim Yerushalmis "Freud's Moses" (1991) und Ilse Grubrich-Simitis' glänzender Arbeit "Freuds Moses-Studie als Tagtraum" (1991) ein Disput, der einer Wiederkehr des Verdrängten gleichkommt. Jacques Derridas Text "Mal d'Archive" von 1994/95 geht auf Freud und Yerushalmi ein, und Richard Bernsteins Buch "Freud and the Legacy of Moses" ist eine Auseinandersetzung mit Freud, Yerushalmi und Derrida. Mein eigener Beitrag in dem Freud-Kapitel von "Moses der Ägypter" bildet einen Seiteneinstieg in diese Debatte, er kommt aus einer ganz anderen Richtung, der Ägyptologie, und kreist doch, wo es um das kulturelle Gedächtnis geht, um dasselbe Problem, das auch Derrida und Bernstein ins Zentrum stellen.
Erst die Diskussion über und anhand von Freuds Buch hat seine eigentlichen Themen und Thesen ans Licht gebracht. Zuvor glaubte man, es gehe im "Mann Moses" um eine eigentümliche Verbindung von abenteuerlichen historischen Konstruktionen - der Art, daß Moses ein Ägypter war, daß er den Juden die in Ägypten verfolgte monotheistische Religion des Echnaton aufdrängte, daß er von ihnen erschlagen wurde - mit psychoanalytischen Theoremen wie dem Ödipuskomplex und der Kastrationsangst und deren phylogenetischen Wurzeln in der Urgeschichte der Menschheit. Mit der Verbindung, wie sie da gesehen wurde, konnten weder die Historiker noch die Psychoanalytiker sonderlich viel anfangen.
Im Lauf der vergangenen Jahre haben sich aber ganz andere Sujets als die eigentlichen Themen von Freuds Buch herausgeschält: die psychohistorische Dynamik religiöser Traditionen, der Zusammenhang zwischen Monotheismus und Schuldkomplex sowie der Geist des Judentums. Das hatte man vorher nicht gesehen. Nie hat sich die rezeptionstheoretische These schlagender bewahrheitet, daß ein Text in der Interaktion von Autor und Leser entsteht und daß sich der Sinn eines Werkes in der Geschichte seiner Lektüren entfaltet wie belichtetes Photopapier in der Entwicklerlauge.
Ilse Grubrich-Simitis ist vom einzigartigen Befund der erhaltenen Handschriften ausgegangen. Freud pflegte sonst seine Entwürfe zu vernichten. In diesem Fall hat er sie aufgehoben. Seine Reinschriften, die für gewöhnlich von geradezu kalligraphischer Klarheit sind, bilden hier "einen zerklüfteten Steinbruch", der auch die untypischen, in die Augen springenden Organisationsschwächen von Freuds Text genau widerspiegelt. Von diesen Beobachtungen ausgehend, hat Ilse Grubrich-Simitis den Text einer analytischen Lektüre unterworfen, die vor allem Freuds eigene psychische Situation freilegt, seine Identifikation mit Moses, seine Todesnähe, das Trauma seiner Flucht vor den Nazis, die Sorge um die Zukunft seines Lebenswerkes. Das bewog die Autorin dazu, Freuds Text als ein radikal autobiographisches Werk zu deuten, als das Protokoll eines Tagtraums und Symptomatik schwerster psychischer Beunruhigung.
Auch Yerushalmi ist von einem Handschriftenfund ausgegangen. In seinem Fall handelt es sich um die Handschrift von Jacob Freud, der seinem Sohn zum 35. Geburtstag ein aus biblischen Zitaten kunstvoll zusammengesetztes Widmungsgedicht in rabbinischem Kursivhebräisch in die neugebundene Philippsohn-Bibel schrieb - in der plausiblen Annahme, daß der "Schlomo" genannte Sigmund diesen Text lesen und die Zitate erkennen konnte. Das wirft ein völlig neues Licht auf das Judentum Freuds, der dafür bekannt ist, daß er sich im Bekenntnis sowohl seiner Unkenntnis des Hebräischen als auch seiner "Gottlosigkeit" gefiel. Yerushalmi, der das für Tarnung hält, hat so etwas wie die Heimholung des Ketzers unternommen, ein Projekt, das der New Yorker Psychiater Emanuel Rice in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Freud and Moses: The Long Journey Home" ein Jahr zuvor noch wesentlich engagierter, beziehungsweise einseitiger angegangen war. Dieser These einer Heimkehr Freuds ins Judentum bin ich in "Moses der Ägypter" entgegengetreten, indem ich Freud in die Reihe derer einordnete, die seit dem siebzehnten Jahrhundert den "unsterblichen", der monotheistischen Idee als solcher eingeschriebenen Haß auf andere Religionen dadurch zu entschärfen suchten, daß sie Moses zu einem Ägypter machten. Damit war, meinte ich, eine Ebene in den Blick gefaßt worden, die jenseits von Juden, Christen und anderen Anwendungen der "Mosaischen Unterscheidung" liegt.
In einem ganz anderen Punkt haben Jacques Derrida und Richard Bernstein Yerushalmi widersprochen: Sie beschäftigen sich mit dem Vorwurf des "Psycho-Lamarckismus". Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte Jean Baptiste de Monet de Lamarck die Vererbung erworbener Eigenschaften behauptet, in späterer Zeit haben manche Rassetheoretiker sich auf diese Idee bezogen. Das Problem der religiösen Tradition, das Freud als Wiederkehr des Verdrängten deutet, hat Yerushalmi in den Mittelpunkt seiner Interpretation gestellt und auf die Unterscheidung von biologisch-genetischer Vererbung und bewußter kultureller Weitergabe zugespitzt. Im Licht dieser Zwangsalternative schlug er dann Freuds Thesen der Seite der biologischen Vererbung zu und wies sie als "Psycho-Lamarckismus" zurück.
Diese Interpretation bezog sich nicht nur auf die phylogenetischen Erinnerungsspuren aus der "Urhorde" (als der Vater von seinen Söhnen, die er mit Kastration bedrohte, erschlagen wurde), die sich in der menschlichen Seele zur "archaischen Erbschaft" verdichteten und die ödipalen Konflikte produzieren, sondern auch auf Freuds These von dem Mord an Moses, der speziell die jüdische Seele traumatisiert, aber auch auf dem Wege der Wiederkehr des Verdrängten zur Aufnahme und Bewahrung des Monotheismus disponiert haben soll.
Mit Yerushalmis Vorwurf des Psycho-Lamarckismus hatte sich der Philosoph Jacques Derrida in einem vierstündigen, am 5. Juni 1994 in London gehaltenen Vortrag auseinandergesetzt, der 1995 unter dem Titel "Mal d'archive" veröffentlicht wurde. Da Richard J. Bernstein, der an der New School of Social Research in New York Philosophie lehrt, in seinem neuesten Buch "Freud and the Legacy of Moses" Derrida ausführlich und zustimmend zitiert, bietet er zugleich auch einen ausgezeichneten Einstieg in dessen schwer zugängliche, labyrinthisch mäandernde Reflexionen.
Zunächst bricht er die Zwangsalternative von genetischer Vererbung und bewußter Überlieferung auf und führt ein Drittes ein, einen erweiterten Begriff von Tradition, der unbewußte Aspekte der Weitergabe und transgenerationellen Übertragung einschließt. Seine These ist, daß es Freud in seinem Moses-Buch genau um diesen erweiterten Begriff von Tradition gegangen sei. Der Dynamik religiöser Traditionen werde der herkömmliche Traditionsbegriff nicht gerecht (Freud versteht unter "Tradition" mündliche Überlieferung, die er der schriftlichen Geschichtsschreibung gegenüberstellt). Diese Dynamik werde durch Brüche, Diskontinuitäten, Verschüttungen, Wiederkünfte und Durchbrüche gekennzeichnet, die sich niemals allein auf das Geschäft bewußter Überlieferung zurückführen lassen und denen nur der Vergleich mit den Phasen einer individuellen Neurose gerecht werde: früheres Trauma - Abwehr und Verdrängung - Latenz - Ausbruch der neurotischen Erkrankung - teilweise Wiederkehr des Verdrängten. Die Religionsgeschichte verlaufe in ähnlichen Wellen.
Bernsteins Anliegen ist nicht die philologisch-historische Freud-Exegese, sondern eine "rettende Lektüre", die Freuds Sinnangebote auf möglichst fruchtbare Weise weiterführen will. Während Yerushalmi Freuds vieldeutigen Begriff von transgenerationellen Übertragungen auf einen flachen Reduktionismus im Sinne Lamarcks beschränkt und damit in ein wissenschaftsgeschichtliches Abseits gestellt hatte, zieht Bernstein die Linien des Freudschen Textes in eine höchst überraschende Richtung hin aus: in Richtung auf den "ontologischen" Traditionsbegriff Hans Georg Gadamers. Die Position Gadamers bezeichnet für Bernstein den kulturalistischen Gegenpol zur biologistischen Position Lamarcks. Gadamer hat in "Wahrheit und Methode" (1960) Heideggers Vorstellungen von der sprachlichen Verfaßtheit der menschlichen Existenz weitergedacht in Richtung "Text", das heißt in Richtung inhaltlich bestimmter, sprachlich artikulierter und befestigter Traditionen, die jede Gegenwart konstituieren, indem sie das Vorverständnis fundieren, aus dem jedes Verstehen gespeist ist.
Kein Verstehen ohne Erinnerung, kein Dasein ohne Tradition. Derrida, dessen Denken sich ja ebenfalls aus Heideggerschen Ansätzen speist, hat den Begriff des "Archivs" in ähnlicher Weise ausgeleuchtet, als eine gegenwartskonstituierende und zukunftsermöglichende Gedächtnisform im Medium sprachlicher und außersprachlicher, diskursiver und nichtdiskursiver Symbole und - darin geht er, am Leitfaden etymologischer Assoziationen des Wortes "Archiv" (arché, archeion, Archonten, Patri-Archiv, Matri-Archiv und so weiter) über Gadamer hinaus - durchwaltet von politischen Strukturen der Macht und der Herrschaft. In Deutschland werden ähnliche Themen unter dem Begriff des "Kulturellen Gedächtnisses" verhandelt. Bernsteins Buch stellt den entschiedensten Versuch dar, Freuds kulturtheoretische Thesen und Einsichten für diese Diskussion fruchtbar zu machen.
Eine der Ausgangsfragen von Freud betraf die Herkunft der geradezu zwanghaften Gewalt, mit der religiöse Traditionen "die Massen in ihren Bann zwingen". Auf der Basis der Analogie individueller und phylogenetischer Psychohistorie entwarf er eine menschheitsgeschichtliche Krankengeschichte nach dem Schema individueller Neurosen. Im speziellen Fall des Monotheismus, dessen Psychohistorie Freud in seinem Moses-Buch untersucht, bildet der angebliche Mord an Moses das frühe Trauma. Der jahrhundertelange Rückfall der israelitischen Gesellschaft in polytheistische Kultformen bis zum Auftreten des Propheten fünfhundert Jahre nach Mose entspricht der Latenzphase und die endliche Durchsetzung des Monotheismus im Zusammenhang des babylonischen Exils der Wiederkehr des Verdrängten. Die monotheistische Religion bezieht nach Freud ihre überwältigende Überzeugungskraft aus ihrer "historischen Wahrheit". Sie ist eine "Vaterreligion" und appelliert als solche an die ödipale Grundstruktur oder "archaische Erbschaft" der menschlichen Seele, in deren Tiefen die Menschen immer gewußt haben, daß "sie einmal einen Urvater besessen und erschlagen haben".
Hier setzt Bernstein mit einer wichtigen Überlegung an. Die historische Wahrheit beinhaltet nicht die äußere Faktizität der Tat im juristischen Sinne. Weder der "Urvater" noch Moses müssen de facto erschlagen worden sein, um eine Traumatisierung des kollektiven Seelenlebens hervorzubringen. Die historische Wahrheit liegt in der psychischen Resonanz, nicht in dem äußeren Tatbestand. Sie erweist sich erst in der Wiederkehr, indem etwas Neues als Urvertrautes erfahren wird.
Mit Bezug auf Cathy Caruths Buch "Trauma: Explorations in Memory" (1995) entwickelt Bernstein einen Trauma-Begriff, der gerade in Deutschland und gerade im Licht der Debatte im Anschluß an Martin Walsers Friedenspreisrede eine eigentümliche Aktutalität besitzt: den Begriff der "nachträglichen Erfahrung". "Da das traumatische Ereignis nicht im Augenblick seines Vorfalls erfahren wird, entsteht seine volle Evidenz erst unter anderen räumlichen und zeitlichen Umständen."
Wenn man zwischen Tätertrauma und Opfertrauma unterscheidet, wird klar, daß Freuds Beispiele sich auf eine Tätertraumatisierung beziehen. Sowohl der Mord am Urvater wie der Mord an Moses hinterlassen Spuren in der Seele der Täter. Gerade für sie gilt die Nachträglichkeit der Erfahrung, da sie im Augenblick der Tat "nicht wissen, was sie tun". Aber weder Freud noch Bernstein machen diese Unterscheidung, durch die erst die Beziehung von Trauma und Schuld verständlich und in deren Licht auch die deutsche Nachkriegsgeschichte lesbar wird.
Auschwitz ist als Tätertrauma Sache einer nachträglichen Erfahrung. Nachdem die "materielle Wahrheit" des Ereignisses gleich nach Kriegsende bekannt wurde, braucht die "historische Wahrheit" Jahrzehnte, um ins allgemeine Bewußtsein durchzudringen und angemessene Formen der Erinnerung zu finden. Dieser Prozeß hat eben begonnen und ist noch längst nicht abgeschlossen. Walsers Rede gab noch einmal den Abwehrmechanismen das Wort, die mit "Wegschauen" und "Wegdenken" auf die im Kontext einer Tätertraumatisierung als Beschuldigung empfundenen Gesten der Erinnerung reagieren. Natürlich konnte Ignatz Bubis, dessen Verständnis im Kontext der Opfertraumatisierung gestanden hat, darin nichts anderes als den Wunsch nach Verdrängung und Verweigerung hören.
Für Freuds umstrittene These des Moses-Mordes ergibt sich aus diesem Begriff der nachträglichen Erfahrung, daß es auf den tatsächlichen Vollzug der Tat im Sinne eines juristischen Tatbestands gar nicht ankommt. Die Tötungsabsicht ist völlig ausreichend, um sich zu einem Tätertrauma zu entwickeln und den Mord als "historische Wahrheit" zu etablieren. Das ist von Bernstein als Bestätigung der Freudschen These gemeint; es widerlegt aber Freuds Methode. Denn ebenso wichtig wie der Mord an Moses ist für Freud das Verschweigen dieser Tat in den Quellen. Die bewußte Erinnerung darf von diesem Mord nichts wissen, wenn die Dynamik von Abwehr, Verdrängung, Latenz und Wiederkehr des Verdrängten zum Zuge kommen soll.
Nun sind aber, was die Tötungsabsicht angeht, die Quellen vollkommen explizit. Schon Yerushalmi und Derrida haben auf eine Reihe von Bibelstellen verwiesen, in denen Moses knapp der Lynchjustiz des Volkes entgeht. Und Bernstein gelingt es, diese Dokumentation noch erheblich auszubauen. "Das gewaltsame Geschick des Propheten" (so der Titel eines Buchs des Zürcher Alttestamentlers O. H. Steck aus dem Jahr 1967) ist ein Zentralthema der Bibel, und Moses ist nur der erste in einer langen Reihe, die in der Gestalt des Gottesknechts (Jes. 53) kulminiert und mit Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth endet. In diesem Fall sagt also der "Patient" genau dasselbe wie der Analytiker. Das ist aber alles andere als eine Bestätigung von Freuds Religionstheorie, denn es zeigt, daß die Diagnose einer kollektiven Zwangsneurose nicht zutreffen kann und die "historische Wahrheit" der Religion woanders gesucht werden muß als in den ödipalen Tiefenstrukturen der menschlichen Seele.
Was jedoch die Erweiterung des Traditionsbegriffs um die Dimension unbewußter Übertragungen angeht, möchte man Bernstein voll und ganz zustimmen. Ebenso überzeugend ist seine Interpretation von Freuds Auffassung des spezifisch jüdischen Anteils an der monotheistischen Religion. Dies ist der "Fortschritt in der Geistigkeit". Judentum, nach Freud, ist Aufklärung im Sinn der Weltentzauberung, der Abwehr von Magie, Bildkult, Ritual und Aberglauben sowie Vergeistigung im Sinne von Triebverzicht, Sublimierung und Betonung geistiger gegenüber sinnlicher Evidenz. Das sind Werte, mit denen sich Freud identifizierte, unbeschadet seines Atheismus. Für ihn, dessen Bild des Christentums vom Wiener Katholizismus geprägt wurde, bedeutete diese Religion eine Rückkehr nach Ägypten, den späten Sieg der Amunpriester über die monotheistische Atonreligion, den Rückfall in Idolatrie. In diesem Punkt erweisen sich daher Rice und Yerushalmi im Recht.
Sofern Freud sich zum Bilderverbot und allen seinen Implikationen als zu einem "Fortschritt in der Geistigkeit" bekannte, in dessen Richtung er auch sein eigenes Projekt einordnete, war hier eine Grenze gezogen worden, an deren "Dekonstruktion" ihm nicht gelegen sein konnte. In diesem wichtigen Punkt sehe ich einen ein leuchtenden Einwand gegen meine Freud-Deutung.
Wer das Judentum als "Fortschritt in der Geistigkeit" begreift, ist allerdings gegen den Vorwurf des Lamarckismus in Schutz zu nehmen. Hier geht es nämlich nicht um erblich gewordene Eigenschaften und psychische Dispositionen, sondern um eine aus vielfältigen Erinnerungen gespeiste Bewegung, die ihre Identität in der unausgesetzten Abgrenzung gegen das Ungeistige, das ewig Ägyptische findet. Das ist keine Sache der Gene, sondern der Kultur und ihrer normativen Prägekraft. Bernsteins Buch verhilft nicht nur zu einem vertieften Verständnis von Freuds Moses-Studie, sondern vor allem zu einem vertieften Begriff des kulturellen Gedächtnisses. Es liefert einen zentralen Beitrag zu einer an Freud geschulten Kulturtheorie, die das Gedächtnis und seine Dynamik ins Zentrum rückt.
JAN ASSMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Rezeptionsgeschichte von Sigmund Freuds Moses-Buch belegt, daß ein Text durch seine Lektüre entsteht
Die Rezeptionsgeschichte von Sigmund Freuds letztem Buch, "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", das kurz vor seinem Tod 1939 in Amsterdam erschien, scheint dessen wichtigste These zu illustrieren: die Wiederkehr des Verdrängten. Die ersten Jahrzehnte nach Freuds Tod bedeuteten für sein Moses-Buch eine Latenzphase, in der es mit befremdetem Schweigen übergangen wurde. 1974 publizierte Marthe Robert "D'Oedipe à Moise", es war das erste Anzeichen einer Wende. 1979 entdeckte Pier Cesare Bori den berühmten Entwurf aus dem Jahr 1934, der als "historischer Roman" betitelt war. Zehn Jahre später begann mit Boris Buchs "L'estasi del profeta" (1989), Yosef Hayim Yerushalmis "Freud's Moses" (1991) und Ilse Grubrich-Simitis' glänzender Arbeit "Freuds Moses-Studie als Tagtraum" (1991) ein Disput, der einer Wiederkehr des Verdrängten gleichkommt. Jacques Derridas Text "Mal d'Archive" von 1994/95 geht auf Freud und Yerushalmi ein, und Richard Bernsteins Buch "Freud and the Legacy of Moses" ist eine Auseinandersetzung mit Freud, Yerushalmi und Derrida. Mein eigener Beitrag in dem Freud-Kapitel von "Moses der Ägypter" bildet einen Seiteneinstieg in diese Debatte, er kommt aus einer ganz anderen Richtung, der Ägyptologie, und kreist doch, wo es um das kulturelle Gedächtnis geht, um dasselbe Problem, das auch Derrida und Bernstein ins Zentrum stellen.
Erst die Diskussion über und anhand von Freuds Buch hat seine eigentlichen Themen und Thesen ans Licht gebracht. Zuvor glaubte man, es gehe im "Mann Moses" um eine eigentümliche Verbindung von abenteuerlichen historischen Konstruktionen - der Art, daß Moses ein Ägypter war, daß er den Juden die in Ägypten verfolgte monotheistische Religion des Echnaton aufdrängte, daß er von ihnen erschlagen wurde - mit psychoanalytischen Theoremen wie dem Ödipuskomplex und der Kastrationsangst und deren phylogenetischen Wurzeln in der Urgeschichte der Menschheit. Mit der Verbindung, wie sie da gesehen wurde, konnten weder die Historiker noch die Psychoanalytiker sonderlich viel anfangen.
Im Lauf der vergangenen Jahre haben sich aber ganz andere Sujets als die eigentlichen Themen von Freuds Buch herausgeschält: die psychohistorische Dynamik religiöser Traditionen, der Zusammenhang zwischen Monotheismus und Schuldkomplex sowie der Geist des Judentums. Das hatte man vorher nicht gesehen. Nie hat sich die rezeptionstheoretische These schlagender bewahrheitet, daß ein Text in der Interaktion von Autor und Leser entsteht und daß sich der Sinn eines Werkes in der Geschichte seiner Lektüren entfaltet wie belichtetes Photopapier in der Entwicklerlauge.
Ilse Grubrich-Simitis ist vom einzigartigen Befund der erhaltenen Handschriften ausgegangen. Freud pflegte sonst seine Entwürfe zu vernichten. In diesem Fall hat er sie aufgehoben. Seine Reinschriften, die für gewöhnlich von geradezu kalligraphischer Klarheit sind, bilden hier "einen zerklüfteten Steinbruch", der auch die untypischen, in die Augen springenden Organisationsschwächen von Freuds Text genau widerspiegelt. Von diesen Beobachtungen ausgehend, hat Ilse Grubrich-Simitis den Text einer analytischen Lektüre unterworfen, die vor allem Freuds eigene psychische Situation freilegt, seine Identifikation mit Moses, seine Todesnähe, das Trauma seiner Flucht vor den Nazis, die Sorge um die Zukunft seines Lebenswerkes. Das bewog die Autorin dazu, Freuds Text als ein radikal autobiographisches Werk zu deuten, als das Protokoll eines Tagtraums und Symptomatik schwerster psychischer Beunruhigung.
Auch Yerushalmi ist von einem Handschriftenfund ausgegangen. In seinem Fall handelt es sich um die Handschrift von Jacob Freud, der seinem Sohn zum 35. Geburtstag ein aus biblischen Zitaten kunstvoll zusammengesetztes Widmungsgedicht in rabbinischem Kursivhebräisch in die neugebundene Philippsohn-Bibel schrieb - in der plausiblen Annahme, daß der "Schlomo" genannte Sigmund diesen Text lesen und die Zitate erkennen konnte. Das wirft ein völlig neues Licht auf das Judentum Freuds, der dafür bekannt ist, daß er sich im Bekenntnis sowohl seiner Unkenntnis des Hebräischen als auch seiner "Gottlosigkeit" gefiel. Yerushalmi, der das für Tarnung hält, hat so etwas wie die Heimholung des Ketzers unternommen, ein Projekt, das der New Yorker Psychiater Emanuel Rice in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Freud and Moses: The Long Journey Home" ein Jahr zuvor noch wesentlich engagierter, beziehungsweise einseitiger angegangen war. Dieser These einer Heimkehr Freuds ins Judentum bin ich in "Moses der Ägypter" entgegengetreten, indem ich Freud in die Reihe derer einordnete, die seit dem siebzehnten Jahrhundert den "unsterblichen", der monotheistischen Idee als solcher eingeschriebenen Haß auf andere Religionen dadurch zu entschärfen suchten, daß sie Moses zu einem Ägypter machten. Damit war, meinte ich, eine Ebene in den Blick gefaßt worden, die jenseits von Juden, Christen und anderen Anwendungen der "Mosaischen Unterscheidung" liegt.
In einem ganz anderen Punkt haben Jacques Derrida und Richard Bernstein Yerushalmi widersprochen: Sie beschäftigen sich mit dem Vorwurf des "Psycho-Lamarckismus". Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte Jean Baptiste de Monet de Lamarck die Vererbung erworbener Eigenschaften behauptet, in späterer Zeit haben manche Rassetheoretiker sich auf diese Idee bezogen. Das Problem der religiösen Tradition, das Freud als Wiederkehr des Verdrängten deutet, hat Yerushalmi in den Mittelpunkt seiner Interpretation gestellt und auf die Unterscheidung von biologisch-genetischer Vererbung und bewußter kultureller Weitergabe zugespitzt. Im Licht dieser Zwangsalternative schlug er dann Freuds Thesen der Seite der biologischen Vererbung zu und wies sie als "Psycho-Lamarckismus" zurück.
Diese Interpretation bezog sich nicht nur auf die phylogenetischen Erinnerungsspuren aus der "Urhorde" (als der Vater von seinen Söhnen, die er mit Kastration bedrohte, erschlagen wurde), die sich in der menschlichen Seele zur "archaischen Erbschaft" verdichteten und die ödipalen Konflikte produzieren, sondern auch auf Freuds These von dem Mord an Moses, der speziell die jüdische Seele traumatisiert, aber auch auf dem Wege der Wiederkehr des Verdrängten zur Aufnahme und Bewahrung des Monotheismus disponiert haben soll.
Mit Yerushalmis Vorwurf des Psycho-Lamarckismus hatte sich der Philosoph Jacques Derrida in einem vierstündigen, am 5. Juni 1994 in London gehaltenen Vortrag auseinandergesetzt, der 1995 unter dem Titel "Mal d'archive" veröffentlicht wurde. Da Richard J. Bernstein, der an der New School of Social Research in New York Philosophie lehrt, in seinem neuesten Buch "Freud and the Legacy of Moses" Derrida ausführlich und zustimmend zitiert, bietet er zugleich auch einen ausgezeichneten Einstieg in dessen schwer zugängliche, labyrinthisch mäandernde Reflexionen.
Zunächst bricht er die Zwangsalternative von genetischer Vererbung und bewußter Überlieferung auf und führt ein Drittes ein, einen erweiterten Begriff von Tradition, der unbewußte Aspekte der Weitergabe und transgenerationellen Übertragung einschließt. Seine These ist, daß es Freud in seinem Moses-Buch genau um diesen erweiterten Begriff von Tradition gegangen sei. Der Dynamik religiöser Traditionen werde der herkömmliche Traditionsbegriff nicht gerecht (Freud versteht unter "Tradition" mündliche Überlieferung, die er der schriftlichen Geschichtsschreibung gegenüberstellt). Diese Dynamik werde durch Brüche, Diskontinuitäten, Verschüttungen, Wiederkünfte und Durchbrüche gekennzeichnet, die sich niemals allein auf das Geschäft bewußter Überlieferung zurückführen lassen und denen nur der Vergleich mit den Phasen einer individuellen Neurose gerecht werde: früheres Trauma - Abwehr und Verdrängung - Latenz - Ausbruch der neurotischen Erkrankung - teilweise Wiederkehr des Verdrängten. Die Religionsgeschichte verlaufe in ähnlichen Wellen.
Bernsteins Anliegen ist nicht die philologisch-historische Freud-Exegese, sondern eine "rettende Lektüre", die Freuds Sinnangebote auf möglichst fruchtbare Weise weiterführen will. Während Yerushalmi Freuds vieldeutigen Begriff von transgenerationellen Übertragungen auf einen flachen Reduktionismus im Sinne Lamarcks beschränkt und damit in ein wissenschaftsgeschichtliches Abseits gestellt hatte, zieht Bernstein die Linien des Freudschen Textes in eine höchst überraschende Richtung hin aus: in Richtung auf den "ontologischen" Traditionsbegriff Hans Georg Gadamers. Die Position Gadamers bezeichnet für Bernstein den kulturalistischen Gegenpol zur biologistischen Position Lamarcks. Gadamer hat in "Wahrheit und Methode" (1960) Heideggers Vorstellungen von der sprachlichen Verfaßtheit der menschlichen Existenz weitergedacht in Richtung "Text", das heißt in Richtung inhaltlich bestimmter, sprachlich artikulierter und befestigter Traditionen, die jede Gegenwart konstituieren, indem sie das Vorverständnis fundieren, aus dem jedes Verstehen gespeist ist.
Kein Verstehen ohne Erinnerung, kein Dasein ohne Tradition. Derrida, dessen Denken sich ja ebenfalls aus Heideggerschen Ansätzen speist, hat den Begriff des "Archivs" in ähnlicher Weise ausgeleuchtet, als eine gegenwartskonstituierende und zukunftsermöglichende Gedächtnisform im Medium sprachlicher und außersprachlicher, diskursiver und nichtdiskursiver Symbole und - darin geht er, am Leitfaden etymologischer Assoziationen des Wortes "Archiv" (arché, archeion, Archonten, Patri-Archiv, Matri-Archiv und so weiter) über Gadamer hinaus - durchwaltet von politischen Strukturen der Macht und der Herrschaft. In Deutschland werden ähnliche Themen unter dem Begriff des "Kulturellen Gedächtnisses" verhandelt. Bernsteins Buch stellt den entschiedensten Versuch dar, Freuds kulturtheoretische Thesen und Einsichten für diese Diskussion fruchtbar zu machen.
Eine der Ausgangsfragen von Freud betraf die Herkunft der geradezu zwanghaften Gewalt, mit der religiöse Traditionen "die Massen in ihren Bann zwingen". Auf der Basis der Analogie individueller und phylogenetischer Psychohistorie entwarf er eine menschheitsgeschichtliche Krankengeschichte nach dem Schema individueller Neurosen. Im speziellen Fall des Monotheismus, dessen Psychohistorie Freud in seinem Moses-Buch untersucht, bildet der angebliche Mord an Moses das frühe Trauma. Der jahrhundertelange Rückfall der israelitischen Gesellschaft in polytheistische Kultformen bis zum Auftreten des Propheten fünfhundert Jahre nach Mose entspricht der Latenzphase und die endliche Durchsetzung des Monotheismus im Zusammenhang des babylonischen Exils der Wiederkehr des Verdrängten. Die monotheistische Religion bezieht nach Freud ihre überwältigende Überzeugungskraft aus ihrer "historischen Wahrheit". Sie ist eine "Vaterreligion" und appelliert als solche an die ödipale Grundstruktur oder "archaische Erbschaft" der menschlichen Seele, in deren Tiefen die Menschen immer gewußt haben, daß "sie einmal einen Urvater besessen und erschlagen haben".
Hier setzt Bernstein mit einer wichtigen Überlegung an. Die historische Wahrheit beinhaltet nicht die äußere Faktizität der Tat im juristischen Sinne. Weder der "Urvater" noch Moses müssen de facto erschlagen worden sein, um eine Traumatisierung des kollektiven Seelenlebens hervorzubringen. Die historische Wahrheit liegt in der psychischen Resonanz, nicht in dem äußeren Tatbestand. Sie erweist sich erst in der Wiederkehr, indem etwas Neues als Urvertrautes erfahren wird.
Mit Bezug auf Cathy Caruths Buch "Trauma: Explorations in Memory" (1995) entwickelt Bernstein einen Trauma-Begriff, der gerade in Deutschland und gerade im Licht der Debatte im Anschluß an Martin Walsers Friedenspreisrede eine eigentümliche Aktutalität besitzt: den Begriff der "nachträglichen Erfahrung". "Da das traumatische Ereignis nicht im Augenblick seines Vorfalls erfahren wird, entsteht seine volle Evidenz erst unter anderen räumlichen und zeitlichen Umständen."
Wenn man zwischen Tätertrauma und Opfertrauma unterscheidet, wird klar, daß Freuds Beispiele sich auf eine Tätertraumatisierung beziehen. Sowohl der Mord am Urvater wie der Mord an Moses hinterlassen Spuren in der Seele der Täter. Gerade für sie gilt die Nachträglichkeit der Erfahrung, da sie im Augenblick der Tat "nicht wissen, was sie tun". Aber weder Freud noch Bernstein machen diese Unterscheidung, durch die erst die Beziehung von Trauma und Schuld verständlich und in deren Licht auch die deutsche Nachkriegsgeschichte lesbar wird.
Auschwitz ist als Tätertrauma Sache einer nachträglichen Erfahrung. Nachdem die "materielle Wahrheit" des Ereignisses gleich nach Kriegsende bekannt wurde, braucht die "historische Wahrheit" Jahrzehnte, um ins allgemeine Bewußtsein durchzudringen und angemessene Formen der Erinnerung zu finden. Dieser Prozeß hat eben begonnen und ist noch längst nicht abgeschlossen. Walsers Rede gab noch einmal den Abwehrmechanismen das Wort, die mit "Wegschauen" und "Wegdenken" auf die im Kontext einer Tätertraumatisierung als Beschuldigung empfundenen Gesten der Erinnerung reagieren. Natürlich konnte Ignatz Bubis, dessen Verständnis im Kontext der Opfertraumatisierung gestanden hat, darin nichts anderes als den Wunsch nach Verdrängung und Verweigerung hören.
Für Freuds umstrittene These des Moses-Mordes ergibt sich aus diesem Begriff der nachträglichen Erfahrung, daß es auf den tatsächlichen Vollzug der Tat im Sinne eines juristischen Tatbestands gar nicht ankommt. Die Tötungsabsicht ist völlig ausreichend, um sich zu einem Tätertrauma zu entwickeln und den Mord als "historische Wahrheit" zu etablieren. Das ist von Bernstein als Bestätigung der Freudschen These gemeint; es widerlegt aber Freuds Methode. Denn ebenso wichtig wie der Mord an Moses ist für Freud das Verschweigen dieser Tat in den Quellen. Die bewußte Erinnerung darf von diesem Mord nichts wissen, wenn die Dynamik von Abwehr, Verdrängung, Latenz und Wiederkehr des Verdrängten zum Zuge kommen soll.
Nun sind aber, was die Tötungsabsicht angeht, die Quellen vollkommen explizit. Schon Yerushalmi und Derrida haben auf eine Reihe von Bibelstellen verwiesen, in denen Moses knapp der Lynchjustiz des Volkes entgeht. Und Bernstein gelingt es, diese Dokumentation noch erheblich auszubauen. "Das gewaltsame Geschick des Propheten" (so der Titel eines Buchs des Zürcher Alttestamentlers O. H. Steck aus dem Jahr 1967) ist ein Zentralthema der Bibel, und Moses ist nur der erste in einer langen Reihe, die in der Gestalt des Gottesknechts (Jes. 53) kulminiert und mit Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth endet. In diesem Fall sagt also der "Patient" genau dasselbe wie der Analytiker. Das ist aber alles andere als eine Bestätigung von Freuds Religionstheorie, denn es zeigt, daß die Diagnose einer kollektiven Zwangsneurose nicht zutreffen kann und die "historische Wahrheit" der Religion woanders gesucht werden muß als in den ödipalen Tiefenstrukturen der menschlichen Seele.
Was jedoch die Erweiterung des Traditionsbegriffs um die Dimension unbewußter Übertragungen angeht, möchte man Bernstein voll und ganz zustimmen. Ebenso überzeugend ist seine Interpretation von Freuds Auffassung des spezifisch jüdischen Anteils an der monotheistischen Religion. Dies ist der "Fortschritt in der Geistigkeit". Judentum, nach Freud, ist Aufklärung im Sinn der Weltentzauberung, der Abwehr von Magie, Bildkult, Ritual und Aberglauben sowie Vergeistigung im Sinne von Triebverzicht, Sublimierung und Betonung geistiger gegenüber sinnlicher Evidenz. Das sind Werte, mit denen sich Freud identifizierte, unbeschadet seines Atheismus. Für ihn, dessen Bild des Christentums vom Wiener Katholizismus geprägt wurde, bedeutete diese Religion eine Rückkehr nach Ägypten, den späten Sieg der Amunpriester über die monotheistische Atonreligion, den Rückfall in Idolatrie. In diesem Punkt erweisen sich daher Rice und Yerushalmi im Recht.
Sofern Freud sich zum Bilderverbot und allen seinen Implikationen als zu einem "Fortschritt in der Geistigkeit" bekannte, in dessen Richtung er auch sein eigenes Projekt einordnete, war hier eine Grenze gezogen worden, an deren "Dekonstruktion" ihm nicht gelegen sein konnte. In diesem wichtigen Punkt sehe ich einen ein leuchtenden Einwand gegen meine Freud-Deutung.
Wer das Judentum als "Fortschritt in der Geistigkeit" begreift, ist allerdings gegen den Vorwurf des Lamarckismus in Schutz zu nehmen. Hier geht es nämlich nicht um erblich gewordene Eigenschaften und psychische Dispositionen, sondern um eine aus vielfältigen Erinnerungen gespeiste Bewegung, die ihre Identität in der unausgesetzten Abgrenzung gegen das Ungeistige, das ewig Ägyptische findet. Das ist keine Sache der Gene, sondern der Kultur und ihrer normativen Prägekraft. Bernsteins Buch verhilft nicht nur zu einem vertieften Verständnis von Freuds Moses-Studie, sondern vor allem zu einem vertieften Begriff des kulturellen Gedächtnisses. Es liefert einen zentralen Beitrag zu einer an Freud geschulten Kulturtheorie, die das Gedächtnis und seine Dynamik ins Zentrum rückt.
JAN ASSMANN
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