Eine erhellende Analyse der politischen Irrwege unserer Zeit - jenseits der eurozentrischen Perspektive: Der bekannte Schriftsteller und Publizist Pankaj Mishra nimmt die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens in den Blick. Er zeigt, dass der Mythos vom »überlegenen Westen« bis heute nicht hinterfragt wird. Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden aus der Erzählung vom demokratischen Aufstieg verbannt, einfache, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream.
So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.
Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeigt der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst vor islamistischen Invasoren. Mit solchen Beispielen hält uns Mishra den Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt errichtet wurde: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch nicht erreicht.
So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.
Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeigt der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst vor islamistischen Invasoren. Mit solchen Beispielen hält uns Mishra den Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt errichtet wurde: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch nicht erreicht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Rezensentin Sonja Zekri gehört Pankaj Mishra zu den aufregendsten Intellektuellen, die Indien hervorgebracht hat. Wie er sich getraut hat, in Zeiten heftigster Antagonismen den Westen in seinen Selbstgewissheiten herauszufordern, das imponiert ihr noch immer. Deswegen liest sie auch die hier versammelten Essays mit Sympathie, obwohl sie Mishras einstige Brillanz nur noch gelegentlich aufblitzen sieht, etwa wenn er daran erinnert, welche Hoffnungen junge Nationen wie Indien, Ägypten oder auch China auf die von Woodrow Wilson verkündete Selbstbestimmung richteten, nur um zu erfahren, dass diese Ideale dem Klub westlicher Kolonialmächte vorbehalten waren. Dagegen stehen jedoch "praktisch unlesbare" Passagen, wie Zekri feststellt, eine stumpfe Rhetorik und ein gewisser Provinzialismus, der sich zu sehr auf inneramerikanische Debatte kapriziert, die dem Rest der Welt herzlich egal sein dürften.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2021Ein frisches Paradox
Seit zwanzig Jahren seziert der indische Essayist Pankaj Mishra den kolonialen Hochmut
des Westens. Was hat sich in dieser Zeit geändert?
VON SONJA ZEKRI
In seinem Essay „The Souls Of White Folk“ beschreibt der Soziologe W.E.B. Du Bois eine Begegnung, die ihm den Kern weißen Überlegenheitswahns in kristalliner Klarheit vor Augen führte. Im Small Talk mit einem Weißen, einem wohlwollenden, mitfühlenden Zeitgenossen, spürte der Afroamerikaner Du Bois unter all den Nettigkeiten eine gnadenlose Botschaft. Sie lautete: „Mein armes nicht-weißes Ding! Weine und wüte nicht. Ich weiß nur zu gut, welcher Gottesfluch schwer auf dir lastet.“ Wenn er, Du Bois, nur fleißig und fromm seine Tage verbringe, so die Verheißung, könne er im Himmel neu geboren werden – als Weißer.
Für den nüchternen Analytiker Du Bois warf diese Beleidigung einige Fragen auf. Die wichtigste lautete: Was in aller Welt war am Weißsein erstrebenswert? Dann begriff er. Sein Gegenüber habe ihm zu verstehen geben wollen, schrieb Du Bois, „dass Weißsein den Besitz der Erde bedeutet. In alle Ewigkeit. Amen.“
W.E.B. Du Bois’ Essay ist über 100 Jahre alt und stand an den Anfängen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der indisch-britische Publizist Pankaj Mishra zitiert Du Bois in seinem Essayband „Freundliche Fanatiker“ unter der Überschrift „Die Religion des Weißseins“, und man merkt rasch, dass aus heutiger Perspektive manches komplizierter geworden ist. Ist die Verbindung von Rassenfrage und Religion für säkulare Europäer nicht eine sehr amerikanische? Und was heißt überhaupt „weiß“? Ein Afroamerikaner ist nicht weiß, aber was ist mit einem Araber? Mit Türken? Sind Juden weiß?
Nach der Lektüre der 16 Essays, die Mishra zwischen 2008 und 2016 in britischen und amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, kristallisiert sich der Eindruck heraus, dass für Mishra „der Westen“, wo immer er Schuld auf sich geladen hat, weiß ist. Und schuldig wird Europa, werden die USA seiner Ansicht nach meistens, wenn sie besonders engagiert von Menschen- und Frauenrechten, von universellen Werten und Demokratie sprechen- auch in Afghanistan. Die Schalmeienklänge der „bland fanatics“, der freundlichen Fanatiker, wie der Theologe Reinhold Niebuhr die liberalen Nebelkerzenwerfer 1957 nannte, begleiten nicht nur die Selbstfeier ihrer vermeintlichen Kulturleistung, sondern auch Kriege und Ausbeutung. Das ist der Refrain.
Als Pankaj Mishra vor 20 Jahren mit seinen Essays, Kolumnen und Rezensionen die angloamerikanische Bühne betrat, war er nicht der einzige Intellektuelle aus Indien, der plötzlich gelesen wurde, aber zweifellos einer der aufregendsten. Sein Bildungsweg als Sohn einer traditionellen Familie, geboren 1969 im nordindischen Uttar Pradesh, über ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und der englischen Literatur zum Gelegenheitseremiten, der sich in den Himalaja zurückzog, um nur noch zu lesen und zu schreiben, hatte etwas Sagenhaftes. Bald publizierte Mishra in der New York Times, im Guardian, in der London Review of Books, er war eine außereuropäische Stimme, die auf Interesse stieß, obwohl sie das schmeichelhafte Selbstbild des Westens als Hort von Zivilität und Menschlichkeit kompromisslos infrage stellte.
Die Zeit spielte ihm in die Hände. Die Globalisierung hatte Fernes nah gerückt. Europa und Amerika stellten sich beunruhigende Fragen. Warum hatte der Sieg des Kapitalismus nicht zur Befriedung der Welt geführt? Warum weigerten sich islamische Gesellschaften, dem Wunder der Aufklärung nachzueifern? War die westliche Demokratie ein globales „role model“ oder nur eine historische Ausnahme?
Mishra dachte und brachte Welten zusammen, die durch Abgründe von Werten und Kulturbegriffen getrennt schienen, er zog, wie ein Rezensent schrieb, Kontinuitäten von Buddha bis Oscar Wilde. Mishras Buch „Zeitalter des Zorns“ brachte es 2017 auf die deutschen Bestsellerlisten, denn es zeigte, dass die Zumutungen der Moderne in Kabul und Bagdad ähnliche Wut auslösten wie in Großbritannien oder Frankreich.
„Dass wir den Dingen mehr Liebe und hauptsächlich mehr Sehnsucht entgegengebracht haben, als diese Welt erfüllen könnte“, wie der österreichische Philosoph Karl Mannheim geschrieben hatte, traf offensichtlich auf sämtliche Enttäuschten dieser Erde zu, auf Brexiteers und Trump-Anhänger, islamistische Fundamentalisten und ungarische Nationalisten. Sie alle – wir! – hatten etwas gemeinsam.
Von diesem ozeanischen Gefühl ist in der Essaysammlung nichts mehr übrig. „Freundliche Fanatiker“ enthält einige von Mishras bekanntesten, auch berüchtigten Texten. Darunter ist eine 2011 erschienene fast obsessive Demontage des britischen Historikers Niall Ferguson, den Mishra als Apologeten der Kolonialpolitik und „Cheerleader des Empire“ beschreibt, was Ferguson nicht auf sich sitzen lassen wollte, woraufhin eine bis heute andauernde publizistische Saalschlacht entbrannte.
Ähnlich erbarmungslos rechnet Mishra unter dem Titel „Die Verlockungen faschistischer Mystik“ mit dem kanadischen Youtube-Star-Psychologen Jordan Peterson ab. Der schwarze Publizist Ta-Nehisi Coates ist ihm zu schlaff, weil er Barack Obama die Stange hält. Salman Rushdie wirkt wie ein angepasster Schwafler.
Mishras Zielpersonen sind Zelebritäten des englischen Sprachraumes, aber in Deutschland lösen ihre Namen keine Leidenschaften, keine Kontroverse aus. Manche attestierten seinem Buch deshalb einen Zug ins Provinzielle, bemängelten Rechthaberei und einen Mangel an Humor. Jahrzehntelang habe er die Klingen mit dem weißen, konservativen Establishment gekreuzt, das sich stur und selbstherrlich in seinen Positionen eingegraben habe, so ihre Diagnose. Nun werde er seinem Gegner auf unschöne Weise ähnlich.
Mit etwas Mühe könnte man diese Einwände auch wieder als westliche Herablassung zurückweisen, aber so richtig vom Fleck kommt man damit nicht. Die Wahrheit ist, dass „Freundliche Fanatiker“ Schwächen hat. Wenn der Super-Eklektiker Mishra für seine Kritik am Liberalismus den russischen Schriftsteller Alexander Herzen heranzieht, dann merkt man vor allem, wie wenig Russland, zumal das zaristische, als Referenzsystem für solche Überlegungen taugt. Den Begriff „Kreuzfahrer“ als Sinnbild für westliche Expansionisten sollten Nicht-Dschihadisten unbedingt vermeiden. Und die Einleitung ist praktisch unlesbar.
Dennoch enthält „Freundliche Fanatiker“ glänzende Passagen, in denen Mishra zusammendenkt, was zusammengehört. Dass viele Vertreibungen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts nicht nur blinde Raserei waren, sondern einem gemeinhin akzeptierten Ideal ethnisch homogener Gesellschaften folgten, um einen vermeintlich weniger komplizierten, besser sortierten Kontinent zu schaffen, ist keine neue Erkenntnis. Aber Mishra endet nicht in den Nachkriegswirren, sondern greift aus in die Zeit des Wiederaufbaus.
Gerade als die Staaten Europas dem Wunsch nach einer einheitlichen Kultur besonders nahe waren, schreibt er, legten sie sich „in einem Anfall von Gedankenlosigkeit oder Optimismus“ eine neue ausländische Bevölkerung zu. Damit ergänzt er die gängigen Missverständnisse der Migration um ein frisches neues Paradox.
Die Hitzigkeit der Restitutionsdebatte ist nicht zu begreifen, solange Geschichtsbilder als etwas säuberlich Getrenntes oder Konsekutives diskutiert werden, in dem die eine Version – meist die europäische – gültiger ist als die der anderen. Mishra erinnert daran, dass das Glück der einen eine Katastrophe für die anderen war und der vermeintlich „lange Frieden Europas“ vor 1914 eine Epoche „hemmungsloser Kriege in Asien, Afrika und Amerika“.
Man wird die Skepsis, auch die Ablehnung vieler Gesellschaften gegenüber dem Frohlocken von Freiheit und Demokratie nicht begreifen, wenn man nicht ins Kalkül zieht, wie viel Täuschung damit verbunden war, von Anfang an. Woodrow Wilsons Vision einer demokratischen Weltordnung etwa war eine feine Sache, nur eben dem exklusiven Klub der Kolonialmächte vorbehalten. Nicht ohne Pathos erinnert Mishra daran, wie andächtig er als Jugendlicher von Ho Chi Minh las, der sich einen Anzug lieh, um bei Wilson für die nationale Selbstbestimmung Indochinas vorzusprechen – und nicht einmal in seine Nähe kam.
Chinesen, Inder, Ägypter hegten größte Hoffnungen und wurden enttäuscht. „Wir sehen deutlich, dass eure Liberalität nur euch selbst gilt und eure Sympathie für uns die des Wolfs für das Lamm ist“, stellte der ägyptische Islamgelehrte Muhammad Abduh ernüchtert fest. In den einst kolonisierten oder besetzten Ländern kennt diese Geschichten und ihre Helden jedes Kind. Wer kennt sie in Deutschland?
Heute, nachdem die Taliban Afghanistan praktisch ohne einen Schuss zurückerobert haben, liest man mit leichtem Schauder die westlichen Prahlereien von früher. Vor zwanzig Jahren lösten die ersten leichten Siege über die „zusammengewürfelte Truppe“ der Taliban im angloamerikanischen Raum „megalomane Phantasien über ,den Rest der Welt‘“ aus, schreibt Mishra. Inzwischen beschränkt sich der westliche Schutzanspruch auf den Flughafen von Kabul – und auch das nur noch für ein paar Tage. Man liest die früheren Plädoyers von Newsweek oder Atlantic für die Anwendung der Folter, und kurz vor dem 20. Jahrestag des 11. Septembers wirkt die Geschwindigkeit, mit der diese Ungeheuerlichkeiten abgelegt und historisiert wurden, wie ein Schock.
Natürlich ist Mishra nicht mehr der einzige Mahner. Selbst westliche Intellektuelle üben sich inzwischen in Selbstkritik, schreiben über die Erosionsanfälligkeit der Demokratie, über den Niedergang des Westens nach Trump und Brexit, Orbán und Corona. Aber wie tief hat all das die westliche Selbstgewissheit wirklich erschüttert? Hat die Fortschrittssaga tatsächlich an Glanz verloren? Wenn man den Erfolg von Autorinnen wie Hedwig Richter betrachtet, scheint das Rennen zumindest offen.
Dabei wäre eine realistischere Selbsteinschätzung wichtig, schon mit Blick auf den Klimaschutz, Ressourcenbewirtschaftung oder globale Wanderungsbewegungen. Es wäre sozusagen ein Dienst am Planeten und am Rest der Menschheit, wenn der westliche Anspruch auf den Weltbesitz einem kollektiven Eigentumsrecht weichen würde. Am besten vor Ablauf der Ewigkeit.
Mishras Aufstieg in die
intellektuellen Zentren Europas
hatte etwas Sagenhaftes
Mit Schaudern liest man
die einstigen Prahlereien
nach dem Sieg über die Taliban
Der indische Essayist Pankaj Mishra bekam 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Foto: Horst Friedrichs / mauritius / Alamy
Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker. Über das
ideologische Nachleben des Imperialismus. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael
Bischoff, S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021.
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seit zwanzig Jahren seziert der indische Essayist Pankaj Mishra den kolonialen Hochmut
des Westens. Was hat sich in dieser Zeit geändert?
VON SONJA ZEKRI
In seinem Essay „The Souls Of White Folk“ beschreibt der Soziologe W.E.B. Du Bois eine Begegnung, die ihm den Kern weißen Überlegenheitswahns in kristalliner Klarheit vor Augen führte. Im Small Talk mit einem Weißen, einem wohlwollenden, mitfühlenden Zeitgenossen, spürte der Afroamerikaner Du Bois unter all den Nettigkeiten eine gnadenlose Botschaft. Sie lautete: „Mein armes nicht-weißes Ding! Weine und wüte nicht. Ich weiß nur zu gut, welcher Gottesfluch schwer auf dir lastet.“ Wenn er, Du Bois, nur fleißig und fromm seine Tage verbringe, so die Verheißung, könne er im Himmel neu geboren werden – als Weißer.
Für den nüchternen Analytiker Du Bois warf diese Beleidigung einige Fragen auf. Die wichtigste lautete: Was in aller Welt war am Weißsein erstrebenswert? Dann begriff er. Sein Gegenüber habe ihm zu verstehen geben wollen, schrieb Du Bois, „dass Weißsein den Besitz der Erde bedeutet. In alle Ewigkeit. Amen.“
W.E.B. Du Bois’ Essay ist über 100 Jahre alt und stand an den Anfängen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der indisch-britische Publizist Pankaj Mishra zitiert Du Bois in seinem Essayband „Freundliche Fanatiker“ unter der Überschrift „Die Religion des Weißseins“, und man merkt rasch, dass aus heutiger Perspektive manches komplizierter geworden ist. Ist die Verbindung von Rassenfrage und Religion für säkulare Europäer nicht eine sehr amerikanische? Und was heißt überhaupt „weiß“? Ein Afroamerikaner ist nicht weiß, aber was ist mit einem Araber? Mit Türken? Sind Juden weiß?
Nach der Lektüre der 16 Essays, die Mishra zwischen 2008 und 2016 in britischen und amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, kristallisiert sich der Eindruck heraus, dass für Mishra „der Westen“, wo immer er Schuld auf sich geladen hat, weiß ist. Und schuldig wird Europa, werden die USA seiner Ansicht nach meistens, wenn sie besonders engagiert von Menschen- und Frauenrechten, von universellen Werten und Demokratie sprechen- auch in Afghanistan. Die Schalmeienklänge der „bland fanatics“, der freundlichen Fanatiker, wie der Theologe Reinhold Niebuhr die liberalen Nebelkerzenwerfer 1957 nannte, begleiten nicht nur die Selbstfeier ihrer vermeintlichen Kulturleistung, sondern auch Kriege und Ausbeutung. Das ist der Refrain.
Als Pankaj Mishra vor 20 Jahren mit seinen Essays, Kolumnen und Rezensionen die angloamerikanische Bühne betrat, war er nicht der einzige Intellektuelle aus Indien, der plötzlich gelesen wurde, aber zweifellos einer der aufregendsten. Sein Bildungsweg als Sohn einer traditionellen Familie, geboren 1969 im nordindischen Uttar Pradesh, über ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und der englischen Literatur zum Gelegenheitseremiten, der sich in den Himalaja zurückzog, um nur noch zu lesen und zu schreiben, hatte etwas Sagenhaftes. Bald publizierte Mishra in der New York Times, im Guardian, in der London Review of Books, er war eine außereuropäische Stimme, die auf Interesse stieß, obwohl sie das schmeichelhafte Selbstbild des Westens als Hort von Zivilität und Menschlichkeit kompromisslos infrage stellte.
Die Zeit spielte ihm in die Hände. Die Globalisierung hatte Fernes nah gerückt. Europa und Amerika stellten sich beunruhigende Fragen. Warum hatte der Sieg des Kapitalismus nicht zur Befriedung der Welt geführt? Warum weigerten sich islamische Gesellschaften, dem Wunder der Aufklärung nachzueifern? War die westliche Demokratie ein globales „role model“ oder nur eine historische Ausnahme?
Mishra dachte und brachte Welten zusammen, die durch Abgründe von Werten und Kulturbegriffen getrennt schienen, er zog, wie ein Rezensent schrieb, Kontinuitäten von Buddha bis Oscar Wilde. Mishras Buch „Zeitalter des Zorns“ brachte es 2017 auf die deutschen Bestsellerlisten, denn es zeigte, dass die Zumutungen der Moderne in Kabul und Bagdad ähnliche Wut auslösten wie in Großbritannien oder Frankreich.
„Dass wir den Dingen mehr Liebe und hauptsächlich mehr Sehnsucht entgegengebracht haben, als diese Welt erfüllen könnte“, wie der österreichische Philosoph Karl Mannheim geschrieben hatte, traf offensichtlich auf sämtliche Enttäuschten dieser Erde zu, auf Brexiteers und Trump-Anhänger, islamistische Fundamentalisten und ungarische Nationalisten. Sie alle – wir! – hatten etwas gemeinsam.
Von diesem ozeanischen Gefühl ist in der Essaysammlung nichts mehr übrig. „Freundliche Fanatiker“ enthält einige von Mishras bekanntesten, auch berüchtigten Texten. Darunter ist eine 2011 erschienene fast obsessive Demontage des britischen Historikers Niall Ferguson, den Mishra als Apologeten der Kolonialpolitik und „Cheerleader des Empire“ beschreibt, was Ferguson nicht auf sich sitzen lassen wollte, woraufhin eine bis heute andauernde publizistische Saalschlacht entbrannte.
Ähnlich erbarmungslos rechnet Mishra unter dem Titel „Die Verlockungen faschistischer Mystik“ mit dem kanadischen Youtube-Star-Psychologen Jordan Peterson ab. Der schwarze Publizist Ta-Nehisi Coates ist ihm zu schlaff, weil er Barack Obama die Stange hält. Salman Rushdie wirkt wie ein angepasster Schwafler.
Mishras Zielpersonen sind Zelebritäten des englischen Sprachraumes, aber in Deutschland lösen ihre Namen keine Leidenschaften, keine Kontroverse aus. Manche attestierten seinem Buch deshalb einen Zug ins Provinzielle, bemängelten Rechthaberei und einen Mangel an Humor. Jahrzehntelang habe er die Klingen mit dem weißen, konservativen Establishment gekreuzt, das sich stur und selbstherrlich in seinen Positionen eingegraben habe, so ihre Diagnose. Nun werde er seinem Gegner auf unschöne Weise ähnlich.
Mit etwas Mühe könnte man diese Einwände auch wieder als westliche Herablassung zurückweisen, aber so richtig vom Fleck kommt man damit nicht. Die Wahrheit ist, dass „Freundliche Fanatiker“ Schwächen hat. Wenn der Super-Eklektiker Mishra für seine Kritik am Liberalismus den russischen Schriftsteller Alexander Herzen heranzieht, dann merkt man vor allem, wie wenig Russland, zumal das zaristische, als Referenzsystem für solche Überlegungen taugt. Den Begriff „Kreuzfahrer“ als Sinnbild für westliche Expansionisten sollten Nicht-Dschihadisten unbedingt vermeiden. Und die Einleitung ist praktisch unlesbar.
Dennoch enthält „Freundliche Fanatiker“ glänzende Passagen, in denen Mishra zusammendenkt, was zusammengehört. Dass viele Vertreibungen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts nicht nur blinde Raserei waren, sondern einem gemeinhin akzeptierten Ideal ethnisch homogener Gesellschaften folgten, um einen vermeintlich weniger komplizierten, besser sortierten Kontinent zu schaffen, ist keine neue Erkenntnis. Aber Mishra endet nicht in den Nachkriegswirren, sondern greift aus in die Zeit des Wiederaufbaus.
Gerade als die Staaten Europas dem Wunsch nach einer einheitlichen Kultur besonders nahe waren, schreibt er, legten sie sich „in einem Anfall von Gedankenlosigkeit oder Optimismus“ eine neue ausländische Bevölkerung zu. Damit ergänzt er die gängigen Missverständnisse der Migration um ein frisches neues Paradox.
Die Hitzigkeit der Restitutionsdebatte ist nicht zu begreifen, solange Geschichtsbilder als etwas säuberlich Getrenntes oder Konsekutives diskutiert werden, in dem die eine Version – meist die europäische – gültiger ist als die der anderen. Mishra erinnert daran, dass das Glück der einen eine Katastrophe für die anderen war und der vermeintlich „lange Frieden Europas“ vor 1914 eine Epoche „hemmungsloser Kriege in Asien, Afrika und Amerika“.
Man wird die Skepsis, auch die Ablehnung vieler Gesellschaften gegenüber dem Frohlocken von Freiheit und Demokratie nicht begreifen, wenn man nicht ins Kalkül zieht, wie viel Täuschung damit verbunden war, von Anfang an. Woodrow Wilsons Vision einer demokratischen Weltordnung etwa war eine feine Sache, nur eben dem exklusiven Klub der Kolonialmächte vorbehalten. Nicht ohne Pathos erinnert Mishra daran, wie andächtig er als Jugendlicher von Ho Chi Minh las, der sich einen Anzug lieh, um bei Wilson für die nationale Selbstbestimmung Indochinas vorzusprechen – und nicht einmal in seine Nähe kam.
Chinesen, Inder, Ägypter hegten größte Hoffnungen und wurden enttäuscht. „Wir sehen deutlich, dass eure Liberalität nur euch selbst gilt und eure Sympathie für uns die des Wolfs für das Lamm ist“, stellte der ägyptische Islamgelehrte Muhammad Abduh ernüchtert fest. In den einst kolonisierten oder besetzten Ländern kennt diese Geschichten und ihre Helden jedes Kind. Wer kennt sie in Deutschland?
Heute, nachdem die Taliban Afghanistan praktisch ohne einen Schuss zurückerobert haben, liest man mit leichtem Schauder die westlichen Prahlereien von früher. Vor zwanzig Jahren lösten die ersten leichten Siege über die „zusammengewürfelte Truppe“ der Taliban im angloamerikanischen Raum „megalomane Phantasien über ,den Rest der Welt‘“ aus, schreibt Mishra. Inzwischen beschränkt sich der westliche Schutzanspruch auf den Flughafen von Kabul – und auch das nur noch für ein paar Tage. Man liest die früheren Plädoyers von Newsweek oder Atlantic für die Anwendung der Folter, und kurz vor dem 20. Jahrestag des 11. Septembers wirkt die Geschwindigkeit, mit der diese Ungeheuerlichkeiten abgelegt und historisiert wurden, wie ein Schock.
Natürlich ist Mishra nicht mehr der einzige Mahner. Selbst westliche Intellektuelle üben sich inzwischen in Selbstkritik, schreiben über die Erosionsanfälligkeit der Demokratie, über den Niedergang des Westens nach Trump und Brexit, Orbán und Corona. Aber wie tief hat all das die westliche Selbstgewissheit wirklich erschüttert? Hat die Fortschrittssaga tatsächlich an Glanz verloren? Wenn man den Erfolg von Autorinnen wie Hedwig Richter betrachtet, scheint das Rennen zumindest offen.
Dabei wäre eine realistischere Selbsteinschätzung wichtig, schon mit Blick auf den Klimaschutz, Ressourcenbewirtschaftung oder globale Wanderungsbewegungen. Es wäre sozusagen ein Dienst am Planeten und am Rest der Menschheit, wenn der westliche Anspruch auf den Weltbesitz einem kollektiven Eigentumsrecht weichen würde. Am besten vor Ablauf der Ewigkeit.
Mishras Aufstieg in die
intellektuellen Zentren Europas
hatte etwas Sagenhaftes
Mit Schaudern liest man
die einstigen Prahlereien
nach dem Sieg über die Taliban
Der indische Essayist Pankaj Mishra bekam 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Foto: Horst Friedrichs / mauritius / Alamy
Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker. Über das
ideologische Nachleben des Imperialismus. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael
Bischoff, S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021.
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Überzeugend [...] ist Pankaj Mishra mit seiner Strategie, den Mythos vom freiheitlichen und überlegenen Westen gründlich zu entzaubern. Angela Gutzeit Deutschlandfunk/Andruck 20210503