»Wie viele Divisionen hat der Papst?« Mit dieser Frage soll Stalin 1935 die vermeintliche Machtlosigkeit des Vatikans verspottet haben. Die Geschichte der letzten 150 Jahre zeigt, dass die Päpste zwar tatsächlich wenig wirtschaftliche oder militärische Macht, aber großen politischen Einfluss haben. Nach dem Verlust des Kirchenstaates im Jahr 1870 wurde die Rolle des Heiligen Stuhls als Vermittler in internationalen Konflikten modelliert. Der Dienst am Weltfrieden wurde so zum zentralen Anliegen der vatikanischen Außenpolitik. In den beiden Weltkriegen kamen humanitäre Aktivitäten hinzu. Seit dem II. Vaticanum setzt sich die vatikanische Diplomatie für Religionsfreiheit und Menschenrechte in der ganzen Welt ein. Johannes Paul II. erweiterte das Spektrum durch die Zusammenarbeit der Weltreligionen um des Weltfriedens willen. Papst Franziskus lenkt die Aufmerksamkeit auf die Folgen des Klimawandels und der Migration. Das Buch will Kontinuitätslinien zwischen den Päpsten aufzeigen, zugleich aber den spezifischen Beitrag eines jeden Amtsinhabers zur Genese der Außenpolitik des Heiligen Stuhls deutlich machen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Der Vatikan
als Vermittler
Jörg Ernesti verfolgt die lange Geschichte
der päpstlichen Außenpolitik seit 1870
VON RENÉ SCHLOTT
Einen Tag nach dem Beginn des Ukraine-Krieges suchte Papst Franziskus die Botschaft Russlands in Rom zu einem Gedankenaustausch auf. Obwohl der russische Botschafter beim Heiligen Stuhl nur wenige Hundert Meter vom Vatikan entfernt residiert, war der Besuch, über den anschließend nur wenig nach draußen drang, einmalig. Denn für gewöhnlich empfängt der Papst die Diplomaten im Vatikan und nicht umgekehrt. Kurz darauf hat der Kardinalstaatssekretär, gewissermaßen der Premierminister des Vatikans, die Bereitschaft zur Friedensvermittlung auch öffentlich bekräftigt. Vergangene Woche waren nun zwei Kardinäle aus Franziskus’ engster Umgebung in die Ukraine gereist. Sie stünden vor Ort für die Präsenz des Papstes, betonte er: „Sie soll zeigen: Der Krieg ist ein Wahnsinn! Hört auf mit dieser Grausamkeit!“
Dass die Friedenspolitik des gegenwärtigen Oberhauptes der katholischen Kirche und damit von mehr als 1,2 Milliarden Katholiken weltweit einer langen Tradition folgt, macht Jörg Ernesti, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Augsburg, in seinem neuen Band zur vatikanischen Außenpolitik seit 1870 deutlich. Ernesti gelingt es in seinem Überblickswerk, die langen Linien der päpstlichen Diplomatie seit dem Verlust des Kirchenstaates und dem Pontifikat des ersten „Diplomatenpapstes“ Leo XIII. (1878–1903) herauszuarbeiten: humanitäre Hilfe in Krisensituationen, diplomatische Vermittlung zur Verhinderung von gewaltsamen Auseinandersetzungen, Bemühungen zur Abrüstung, darunter das Verbot von Atomwaffen, und zu einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit sowie die Herstellung und Betonung der eigenen Souveränität und Neutralität.
Neben diesen Kontinuitäten macht er deutlich, wie die einzelnen Päpste immer wieder auch eigene Akzente setzten, auf denen ihre Nachfolger dann aufbauen konnten. So war es nicht der als ausgesprochener Reisepapst bekannte Johannes Paul II. (1978–2005), sondern dessen Vorvorgänger Paul VI. (1963–1978), der mit den bis in unsere Zeit medial viel beachteten päpstlichen Auslandsreisen als ein Mittel der vatikanischen Außenpolitik und der religiösen Mobilisierung begann.
Ernesti zeichnet dabei keinesfalls eine reine Erfolgsgeschichte, denn zu oft waren die päpstlichen Friedensbemühungen zum Scheitern verurteilt. Im Ersten Weltkrieg etwa versuchte Benedikt XV. (1914–1922) vergeblich mit seiner Friedensnote vom 1. August 1917 in der Endphase des Krieges mit ganz konkreten Vorschlägen, ein Ende der Gewalt auf den Schlachtfeldern zu erreichen, auf denen sich die katholischen Soldaten aus Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn und anderen Staaten gegenüberstanden.
Zu oft mussten die Päpste ohnmächtig zuschauen, wie trotz ihrer flammenden Appelle und eindringlichen Mahnungen zum Dialog politische Konflikte mit Gewalt gelöst werden sollten. Johannes Paul II. versuchte vor Beginn der beiden Golfkriege mit geradezu fieberhafter Diplomatie das Schlimmste zu verhindern und öffentlich sowie hinter verschlossenen Türen auf die US-Präsidenten und deren Gegenspieler einzuwirken – ohne Erfolg.
Und der Autor verschweigt auch nicht die Schattenseiten der vatikanischen Außenpolitik, darunter die Konkordate mit diktatorischen Regimen, das strikt neutrale, jedoch moralisch fragwürdige Verhalten von Pius XII. (1939–1958) im Zweiten Weltkrieg, die Unterstützung von südamerikanischen Militärmachthabern während des Kalten Krieges und der Umgang mit den Missbrauchsskandalen. Letztere seien noch nicht ausgestanden, es bleibt insbesondere offen, wie sehr diese Vorgänge die Glaubwürdigkeit des Heiligen Stuhl als internationale moralische Instanz weiter belasten und vielleicht ganz zerstören.
Eine mögliche Vermittlung von Franziskus im Ukraine-Krieg wäre jedoch nicht völlig aussichtslos. Angesichts des Undenkbaren, der Drohung eines Atomkrieges, muss man auch das Undenkbare in Betracht ziehen. Auf dem Höhepunkt der Kubakrise etwa hat der Autor der großen Friedensenzyklika „Pacem in Terris“ (Friede auf Erden) Johannes XXIII. (1958–1963) den Antagonisten Kennedy und Chruschtschow geholfen, einen für beide Seiten gesichtswahrenden Ausgang aus der Eskalationsspirale, die seinerzeit die gesamt Menschheit gefährdete, zu finden. Nach dem Ende der Sowjetunion nahmen Russland und der Vatikan zunächst wegen Streitigkeiten mit der russisch-orthodoxen (Staats-)Kirche keine diplomatischen Beziehungen auf.
Doch standen beide Seiten miteinander in Kontakt und verhandelten, sodass seit 2009, also im Pontifikat von Benedikt XVI. (2005–2013), ein eigener Botschafter der Russischen Föderation beim Heiligen Stuhl residiert. Gerade dem sonst recht glücklos agierenden deutschen Papst war es gelungen, das Verhältnis zu den orthodoxen Kirchen weiter zu entspannen. Schon Paul VI. hatte sich in seiner Amtszeit mehrfach mit dem Patriarchen von Konstantinopel, dem Ehrenoberhaupt aller orthodoxen Kirchen, getroffen, um die Spaltung zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen zu überwinden.
Papst Franziskus schließlich konnte im Februar 2016 mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. auf neutralem Boden in Havanna zusammentreffen. Dem vorausgegangen waren intensive Vermittlungsbemühungen des Vatikans zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten von Amerika über ein Ende des seit 1961 bestehenden Handelsembargos des großen Nachbarn gegenüber dem kleinen Inselstaat. Die Verhandlungen der kubanischen und US-amerikanischen Unterhändler, die zeitweise unter großer Geheimhaltung im Vatikan selbst stattfanden, waren von Erfolg gekrönt: Im Dezember 2014 nahmen die so lange verfeindeten Länder wieder volle diplomatische Beziehungen auf. Die Neutralität des Heiligen Stuhls hatte sich ausgezahlt. Da er selbst kein Staat ist, musste er sich während des Konflikts weder auf die eine noch die andere Seite schlagen und konnte so seine Glaubwürdigkeit als ehrlicher Makler wahren.
Es bleibt zu hoffen, dass die vatikanischen Diplomaten, die auf eine lange Tradition, eine große Erfahrung und ein weltweites diplomatisches Netzwerk bauen können, bei aller Hoffnungslosigkeit keinen Versuch auslassen, angesichts des mörderischen Konflikts mitten in Europa wieder aktiv zu werden. Dass sie gewissermaßen die manchmal mehr, manchmal weniger erfolgreichen Experten für aussichtslose Unterfangen dieser Art sind, macht das Buch von Jörg Ernesti eindrucksvoll deutlich, wenn er den päpstlichen Appell vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs zitiert: „Nichts ist mit dem Frieden verloren. Aber alles kann mit dem Krieg verloren sein!“
Auch die Schattenseiten
dieser Politik werden
ausführlich beschrieben, etwa
das moralisch fragwürdige
Verhalten von Pius XII.
Die Buchhändlerinnen Anke Schleper und Lisa Kindorf vor ihrem Laden „Rotor Books“
in der Kolonnadenstraße. Wenn man in Leipzig nach einem Buchladen fragt, den man sich keinesfalls entgehen lassen sollte, wird man sehr häufig hierhergeschickt.
Jörg Ernesti:
Friedensmacht.
Die vatikanische
Außenpolitik seit 1870.
Herder-Verlag,
Freiburg 2022.
368 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
als Vermittler
Jörg Ernesti verfolgt die lange Geschichte
der päpstlichen Außenpolitik seit 1870
VON RENÉ SCHLOTT
Einen Tag nach dem Beginn des Ukraine-Krieges suchte Papst Franziskus die Botschaft Russlands in Rom zu einem Gedankenaustausch auf. Obwohl der russische Botschafter beim Heiligen Stuhl nur wenige Hundert Meter vom Vatikan entfernt residiert, war der Besuch, über den anschließend nur wenig nach draußen drang, einmalig. Denn für gewöhnlich empfängt der Papst die Diplomaten im Vatikan und nicht umgekehrt. Kurz darauf hat der Kardinalstaatssekretär, gewissermaßen der Premierminister des Vatikans, die Bereitschaft zur Friedensvermittlung auch öffentlich bekräftigt. Vergangene Woche waren nun zwei Kardinäle aus Franziskus’ engster Umgebung in die Ukraine gereist. Sie stünden vor Ort für die Präsenz des Papstes, betonte er: „Sie soll zeigen: Der Krieg ist ein Wahnsinn! Hört auf mit dieser Grausamkeit!“
Dass die Friedenspolitik des gegenwärtigen Oberhauptes der katholischen Kirche und damit von mehr als 1,2 Milliarden Katholiken weltweit einer langen Tradition folgt, macht Jörg Ernesti, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Augsburg, in seinem neuen Band zur vatikanischen Außenpolitik seit 1870 deutlich. Ernesti gelingt es in seinem Überblickswerk, die langen Linien der päpstlichen Diplomatie seit dem Verlust des Kirchenstaates und dem Pontifikat des ersten „Diplomatenpapstes“ Leo XIII. (1878–1903) herauszuarbeiten: humanitäre Hilfe in Krisensituationen, diplomatische Vermittlung zur Verhinderung von gewaltsamen Auseinandersetzungen, Bemühungen zur Abrüstung, darunter das Verbot von Atomwaffen, und zu einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit sowie die Herstellung und Betonung der eigenen Souveränität und Neutralität.
Neben diesen Kontinuitäten macht er deutlich, wie die einzelnen Päpste immer wieder auch eigene Akzente setzten, auf denen ihre Nachfolger dann aufbauen konnten. So war es nicht der als ausgesprochener Reisepapst bekannte Johannes Paul II. (1978–2005), sondern dessen Vorvorgänger Paul VI. (1963–1978), der mit den bis in unsere Zeit medial viel beachteten päpstlichen Auslandsreisen als ein Mittel der vatikanischen Außenpolitik und der religiösen Mobilisierung begann.
Ernesti zeichnet dabei keinesfalls eine reine Erfolgsgeschichte, denn zu oft waren die päpstlichen Friedensbemühungen zum Scheitern verurteilt. Im Ersten Weltkrieg etwa versuchte Benedikt XV. (1914–1922) vergeblich mit seiner Friedensnote vom 1. August 1917 in der Endphase des Krieges mit ganz konkreten Vorschlägen, ein Ende der Gewalt auf den Schlachtfeldern zu erreichen, auf denen sich die katholischen Soldaten aus Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn und anderen Staaten gegenüberstanden.
Zu oft mussten die Päpste ohnmächtig zuschauen, wie trotz ihrer flammenden Appelle und eindringlichen Mahnungen zum Dialog politische Konflikte mit Gewalt gelöst werden sollten. Johannes Paul II. versuchte vor Beginn der beiden Golfkriege mit geradezu fieberhafter Diplomatie das Schlimmste zu verhindern und öffentlich sowie hinter verschlossenen Türen auf die US-Präsidenten und deren Gegenspieler einzuwirken – ohne Erfolg.
Und der Autor verschweigt auch nicht die Schattenseiten der vatikanischen Außenpolitik, darunter die Konkordate mit diktatorischen Regimen, das strikt neutrale, jedoch moralisch fragwürdige Verhalten von Pius XII. (1939–1958) im Zweiten Weltkrieg, die Unterstützung von südamerikanischen Militärmachthabern während des Kalten Krieges und der Umgang mit den Missbrauchsskandalen. Letztere seien noch nicht ausgestanden, es bleibt insbesondere offen, wie sehr diese Vorgänge die Glaubwürdigkeit des Heiligen Stuhl als internationale moralische Instanz weiter belasten und vielleicht ganz zerstören.
Eine mögliche Vermittlung von Franziskus im Ukraine-Krieg wäre jedoch nicht völlig aussichtslos. Angesichts des Undenkbaren, der Drohung eines Atomkrieges, muss man auch das Undenkbare in Betracht ziehen. Auf dem Höhepunkt der Kubakrise etwa hat der Autor der großen Friedensenzyklika „Pacem in Terris“ (Friede auf Erden) Johannes XXIII. (1958–1963) den Antagonisten Kennedy und Chruschtschow geholfen, einen für beide Seiten gesichtswahrenden Ausgang aus der Eskalationsspirale, die seinerzeit die gesamt Menschheit gefährdete, zu finden. Nach dem Ende der Sowjetunion nahmen Russland und der Vatikan zunächst wegen Streitigkeiten mit der russisch-orthodoxen (Staats-)Kirche keine diplomatischen Beziehungen auf.
Doch standen beide Seiten miteinander in Kontakt und verhandelten, sodass seit 2009, also im Pontifikat von Benedikt XVI. (2005–2013), ein eigener Botschafter der Russischen Föderation beim Heiligen Stuhl residiert. Gerade dem sonst recht glücklos agierenden deutschen Papst war es gelungen, das Verhältnis zu den orthodoxen Kirchen weiter zu entspannen. Schon Paul VI. hatte sich in seiner Amtszeit mehrfach mit dem Patriarchen von Konstantinopel, dem Ehrenoberhaupt aller orthodoxen Kirchen, getroffen, um die Spaltung zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen zu überwinden.
Papst Franziskus schließlich konnte im Februar 2016 mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. auf neutralem Boden in Havanna zusammentreffen. Dem vorausgegangen waren intensive Vermittlungsbemühungen des Vatikans zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten von Amerika über ein Ende des seit 1961 bestehenden Handelsembargos des großen Nachbarn gegenüber dem kleinen Inselstaat. Die Verhandlungen der kubanischen und US-amerikanischen Unterhändler, die zeitweise unter großer Geheimhaltung im Vatikan selbst stattfanden, waren von Erfolg gekrönt: Im Dezember 2014 nahmen die so lange verfeindeten Länder wieder volle diplomatische Beziehungen auf. Die Neutralität des Heiligen Stuhls hatte sich ausgezahlt. Da er selbst kein Staat ist, musste er sich während des Konflikts weder auf die eine noch die andere Seite schlagen und konnte so seine Glaubwürdigkeit als ehrlicher Makler wahren.
Es bleibt zu hoffen, dass die vatikanischen Diplomaten, die auf eine lange Tradition, eine große Erfahrung und ein weltweites diplomatisches Netzwerk bauen können, bei aller Hoffnungslosigkeit keinen Versuch auslassen, angesichts des mörderischen Konflikts mitten in Europa wieder aktiv zu werden. Dass sie gewissermaßen die manchmal mehr, manchmal weniger erfolgreichen Experten für aussichtslose Unterfangen dieser Art sind, macht das Buch von Jörg Ernesti eindrucksvoll deutlich, wenn er den päpstlichen Appell vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs zitiert: „Nichts ist mit dem Frieden verloren. Aber alles kann mit dem Krieg verloren sein!“
Auch die Schattenseiten
dieser Politik werden
ausführlich beschrieben, etwa
das moralisch fragwürdige
Verhalten von Pius XII.
Die Buchhändlerinnen Anke Schleper und Lisa Kindorf vor ihrem Laden „Rotor Books“
in der Kolonnadenstraße. Wenn man in Leipzig nach einem Buchladen fragt, den man sich keinesfalls entgehen lassen sollte, wird man sehr häufig hierhergeschickt.
Jörg Ernesti:
Friedensmacht.
Die vatikanische
Außenpolitik seit 1870.
Herder-Verlag,
Freiburg 2022.
368 Seiten, 34 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Interesse liest Rezensent Simon Unger-Alvi diese Geschichte vatikanischer Diplomatie des Augsburger Kirchenhistorikers Jörg Ernesti. Dass Ernesti keinen kritischen Blick von außen auf den Vatikan wirft, wird dem Rezensenten schnell klar, aber er lernt dennoch eine ganze Menge: Wie sich etwa mit dem Ende des Kirchenstaats das Selbstverständnis des Vatikans in der Weltpolitik änderte, dass bis zu Johannes Paul II. nur Kirchenmänner Papst wurden, die eine diplomatische Ausbildung genossen hatten und wie sich der Vatikanstaat vom Heiligen Stuhl als nichtstaatlichem Völkerrechtssubjekt unterscheidet. Ernesti blickt in seinem geschichtlichen Abriss vor allem auf die großen Linien, 150 Jahre müssen schnell erzählt werden. Für Brüche, Widersprüche und Nuancen bleibt wenig Raum, wie der Rezensent mit Blick auf die Haltung des Vatikans zu Kolonialismus oder Demokratie bemerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2022Diplomatie ohne Territorium
Jörg Ernesti führt durch hundertfünfzig Jahre wechselvoller vatikanischer Außenpolitik
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine erhält die vatikanische Diplomatie verstärkt Aufmerksamkeit in internationalen Medien. Nachdem sich die ukrainische Regierung zunächst enttäuscht von Papst Franziskus' Zurückhaltung zeigte, lud Bürgermeister Vitali Klitschko den Pontifex später nach Kiew ein. Doch was lässt sich von Päpsten als Friedensvermittlern konkret erwarten? Wodurch ist vatikanische Außenpolitik gekennzeichnet?
Mit diesen Fragen setzt sich der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti in seinem Buch auseinander. Es gibt eine Übersicht der vatikanischen Außenpolitik von 1870 bis in die Gegenwart. Historikerinnen und Historiker haben sich bisher schon eingehend mit Episoden der katholischen Diplomatiegeschichte, wie etwa dem "Friedenspapst" Benedikt XV. im Ersten Weltkrieg oder dem Schweigen von Pius XII. während der Schoa, auseinandergesetzt. Ernesti legt nun erstmals eine Darstellung vor, die den Leser durch eine hundertfünfzigjährige Geschichte führt.
Der Einstieg von Ernestis Untersuchung ist nicht zufällig gewählt, denn das Jahr 1870 steht für eine Zeitenwende im Vatikan. Einerseits markierten das Risorgimento und die Gründung des italienischen Nationalstaats das Ende des territorialen Kirchenstaats. Andererseits zwang diese Entwicklung die Päpste in den folgenden Jahrzehnten auch, ihr Selbstverständnis in der Weltpolitik grundlegend neu zu überdenken. Parallel zu dem politischen und territorialen Machtverlust kam es - durchaus paradox - innerkirchlich zu einer Stärkung der päpstlichen Zentralgewalt. Mit dem Amtsantritt von Leo XIII. 1878 verortet Ernesti zudem den Beginn einer außenpolitischen Erneuerung und eines "Zeitalters der Diplomatenpäpste". Leo XIII. war nicht nur der erste Papst seit dem Mittelalter, der keinen eigenen Staat mehr hatte (die Lateranverträge von 1929, welche die vatikanische Souveränität regeln sollten, waren noch nicht geschlossen). Er war auch der "Begründer der modernen vatikanischen Außenpolitik". Tatsächlich leiteten dann bis 1978 - sprich bis Johannes Paul II. - vor allem Männer die Kirche, die eine diplomatische Ausbildung genossen hatten.
Ernesti hebt besonders die Bedeutung der päpstlichen Diplomatenakademie hervor und schildert, wie gerade die Auflösung des territorialen Kirchenstaats das Papsttum zu einer Institution der internationalen Friedensvermittlung werden ließ. Während die politischen und kirchenrechtlichen Hintergründe dieser Entwicklung analysiert werden, führt Ernesti den Leser an wichtige Grundbegriffe sehr behutsam heran. Gut verständlich werden so etwa die Unterschiede zwischen dem Staat der Vatikanstadt als kleinstem Staat der Erde und dem "Heiligen Stuhl" als nichtstaatlichem Völkerrechtssubjekt dargelegt.
Im ersten Teil des Buchs widmet sich Ernesti der Frage, wie vatikanische Außenpolitik überhaupt zu beschreiben ist. Auf der einen Seite pflegt der Vatikan diplomatische Beziehungen als souveräner Staat. Auf der anderen Seite kann die katholische Kirche jedoch auch als "non-governmental actor" verstanden werden, der über Diözesen und Pfarreien auch auf lokaler Ebene Einfluss ausübt. Hinzu kommen Schulen, Universitäten und andere Bildungs- und Sozialeinrichtungen, durch welche die Kirche "zwischen" beziehungsweise "über" den Staaten agiert. In seiner Geschichte war der Vatikan dabei jedoch nicht immer neutral, sondern bezog in großen weltpolitischen Konflikten regelmäßig klar Stellung. Während Stalin einmal spöttisch gefragt haben soll, wie viele Divisionen der Papst denn befehlige, zeigte der Besuch von Johannes Paul II. einige Jahrzehnte später in Polen eindrucksvoll, welcher politische Einfluss sich dort durch den Katholizismus entfalten ließ.
Das Buch führt durch eine sehr wechselvolle Geschichte, ohne dabei Kontinuitäten aus dem Blick zu verlieren. Dass es "einen roten Faden in der Außenpolitik der Päpste" gegeben habe, sieht Ernesti als "unverkennbar gegeben". Insbesondere betont er das stetige Bemühen des Vatikans um Frieden, internationale Entspannung und Abrüstung. In einem Gang durch die Jahrzehnte erfährt der Leser dabei nicht nur von Friedensinitiativen während der Weltkriege, sondern auch von weniger bekannten diplomatischen Vorstößen. Wer erinnert sich etwa noch heute daran, dass der Heilige Stuhl schon 1895 gegen die Unterdrückung der Armenier im Osmanischen Reich protestierte? Wer kennt noch die Bedeutung vatikanischer Vermittlung in der Kubakrise von 1962? Gerade weil das Buch in schnellem Tempo von einem Fallbeispiel zum nächsten springt, gewinnt der Leser einen Überblick über die Konstanten der päpstlichen Politik vom konfessionellen Kulturkampf der Bismarck-Zeit bis zum Mauerfall, von den Kolonialkonflikten des neunzehnten Jahrhunderts bis zum jüngsten Irakkrieg.
In einer derart breit angelegten Untersuchung ist es nicht immer leicht, zu einem nuancierten Verständnis von geschichtlichen Brüchen und Entwicklungen zu gelangen. Ernesti beschäftigt sich nur am Rande mit der Frage, wie der Vatikan einige seiner politischen Grundhaltungen umkehren und überdenken konnte. Bemerkenswert scheint im Rückblick beispielsweise, dass die katholische Kirche innerhalb weniger Jahrzehnte ihre Unterstützung für koloniale Regime aufgab und stattdessen Entkolonialisierungsbewegungen in Afrika immer offener zu unterstützen begann. Ebenso erstaunlich ist, wie schnell Pius XII., der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts den Liberalismus und den westlichen "Materialismus" stets abgelehnt hatte, nach dem Krieg seine Ansichten über die Demokratie änderte.
Jörg Ernesti blendet diese Probleme und Widersprüche der neueren Kirchengeschichte keineswegs aus. Klar ist jedoch, dass er dem Leser vor allem eine katholische Perspektive bietet. Nichtsdestotrotz sollte diese Studie auch bei Nichtkatholiken auf großes Interesse stoßen. Sie eröffnet einen ganz eigenen Blick auf langfristige Trends. Eine kluge Auswahl von Anekdoten und historischen Details macht sie dabei wunderbar lesbar. SIMON UNGER-ALVI
Jörg Ernesti: "Friedensmacht". Die vatikanische Außenpolitik seit 1870.
Herder Verlag, München 2022. 368 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jörg Ernesti führt durch hundertfünfzig Jahre wechselvoller vatikanischer Außenpolitik
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine erhält die vatikanische Diplomatie verstärkt Aufmerksamkeit in internationalen Medien. Nachdem sich die ukrainische Regierung zunächst enttäuscht von Papst Franziskus' Zurückhaltung zeigte, lud Bürgermeister Vitali Klitschko den Pontifex später nach Kiew ein. Doch was lässt sich von Päpsten als Friedensvermittlern konkret erwarten? Wodurch ist vatikanische Außenpolitik gekennzeichnet?
Mit diesen Fragen setzt sich der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti in seinem Buch auseinander. Es gibt eine Übersicht der vatikanischen Außenpolitik von 1870 bis in die Gegenwart. Historikerinnen und Historiker haben sich bisher schon eingehend mit Episoden der katholischen Diplomatiegeschichte, wie etwa dem "Friedenspapst" Benedikt XV. im Ersten Weltkrieg oder dem Schweigen von Pius XII. während der Schoa, auseinandergesetzt. Ernesti legt nun erstmals eine Darstellung vor, die den Leser durch eine hundertfünfzigjährige Geschichte führt.
Der Einstieg von Ernestis Untersuchung ist nicht zufällig gewählt, denn das Jahr 1870 steht für eine Zeitenwende im Vatikan. Einerseits markierten das Risorgimento und die Gründung des italienischen Nationalstaats das Ende des territorialen Kirchenstaats. Andererseits zwang diese Entwicklung die Päpste in den folgenden Jahrzehnten auch, ihr Selbstverständnis in der Weltpolitik grundlegend neu zu überdenken. Parallel zu dem politischen und territorialen Machtverlust kam es - durchaus paradox - innerkirchlich zu einer Stärkung der päpstlichen Zentralgewalt. Mit dem Amtsantritt von Leo XIII. 1878 verortet Ernesti zudem den Beginn einer außenpolitischen Erneuerung und eines "Zeitalters der Diplomatenpäpste". Leo XIII. war nicht nur der erste Papst seit dem Mittelalter, der keinen eigenen Staat mehr hatte (die Lateranverträge von 1929, welche die vatikanische Souveränität regeln sollten, waren noch nicht geschlossen). Er war auch der "Begründer der modernen vatikanischen Außenpolitik". Tatsächlich leiteten dann bis 1978 - sprich bis Johannes Paul II. - vor allem Männer die Kirche, die eine diplomatische Ausbildung genossen hatten.
Ernesti hebt besonders die Bedeutung der päpstlichen Diplomatenakademie hervor und schildert, wie gerade die Auflösung des territorialen Kirchenstaats das Papsttum zu einer Institution der internationalen Friedensvermittlung werden ließ. Während die politischen und kirchenrechtlichen Hintergründe dieser Entwicklung analysiert werden, führt Ernesti den Leser an wichtige Grundbegriffe sehr behutsam heran. Gut verständlich werden so etwa die Unterschiede zwischen dem Staat der Vatikanstadt als kleinstem Staat der Erde und dem "Heiligen Stuhl" als nichtstaatlichem Völkerrechtssubjekt dargelegt.
Im ersten Teil des Buchs widmet sich Ernesti der Frage, wie vatikanische Außenpolitik überhaupt zu beschreiben ist. Auf der einen Seite pflegt der Vatikan diplomatische Beziehungen als souveräner Staat. Auf der anderen Seite kann die katholische Kirche jedoch auch als "non-governmental actor" verstanden werden, der über Diözesen und Pfarreien auch auf lokaler Ebene Einfluss ausübt. Hinzu kommen Schulen, Universitäten und andere Bildungs- und Sozialeinrichtungen, durch welche die Kirche "zwischen" beziehungsweise "über" den Staaten agiert. In seiner Geschichte war der Vatikan dabei jedoch nicht immer neutral, sondern bezog in großen weltpolitischen Konflikten regelmäßig klar Stellung. Während Stalin einmal spöttisch gefragt haben soll, wie viele Divisionen der Papst denn befehlige, zeigte der Besuch von Johannes Paul II. einige Jahrzehnte später in Polen eindrucksvoll, welcher politische Einfluss sich dort durch den Katholizismus entfalten ließ.
Das Buch führt durch eine sehr wechselvolle Geschichte, ohne dabei Kontinuitäten aus dem Blick zu verlieren. Dass es "einen roten Faden in der Außenpolitik der Päpste" gegeben habe, sieht Ernesti als "unverkennbar gegeben". Insbesondere betont er das stetige Bemühen des Vatikans um Frieden, internationale Entspannung und Abrüstung. In einem Gang durch die Jahrzehnte erfährt der Leser dabei nicht nur von Friedensinitiativen während der Weltkriege, sondern auch von weniger bekannten diplomatischen Vorstößen. Wer erinnert sich etwa noch heute daran, dass der Heilige Stuhl schon 1895 gegen die Unterdrückung der Armenier im Osmanischen Reich protestierte? Wer kennt noch die Bedeutung vatikanischer Vermittlung in der Kubakrise von 1962? Gerade weil das Buch in schnellem Tempo von einem Fallbeispiel zum nächsten springt, gewinnt der Leser einen Überblick über die Konstanten der päpstlichen Politik vom konfessionellen Kulturkampf der Bismarck-Zeit bis zum Mauerfall, von den Kolonialkonflikten des neunzehnten Jahrhunderts bis zum jüngsten Irakkrieg.
In einer derart breit angelegten Untersuchung ist es nicht immer leicht, zu einem nuancierten Verständnis von geschichtlichen Brüchen und Entwicklungen zu gelangen. Ernesti beschäftigt sich nur am Rande mit der Frage, wie der Vatikan einige seiner politischen Grundhaltungen umkehren und überdenken konnte. Bemerkenswert scheint im Rückblick beispielsweise, dass die katholische Kirche innerhalb weniger Jahrzehnte ihre Unterstützung für koloniale Regime aufgab und stattdessen Entkolonialisierungsbewegungen in Afrika immer offener zu unterstützen begann. Ebenso erstaunlich ist, wie schnell Pius XII., der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts den Liberalismus und den westlichen "Materialismus" stets abgelehnt hatte, nach dem Krieg seine Ansichten über die Demokratie änderte.
Jörg Ernesti blendet diese Probleme und Widersprüche der neueren Kirchengeschichte keineswegs aus. Klar ist jedoch, dass er dem Leser vor allem eine katholische Perspektive bietet. Nichtsdestotrotz sollte diese Studie auch bei Nichtkatholiken auf großes Interesse stoßen. Sie eröffnet einen ganz eigenen Blick auf langfristige Trends. Eine kluge Auswahl von Anekdoten und historischen Details macht sie dabei wunderbar lesbar. SIMON UNGER-ALVI
Jörg Ernesti: "Friedensmacht". Die vatikanische Außenpolitik seit 1870.
Herder Verlag, München 2022. 368 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine kluge Auswahl von Anekdoten und historischen Details [...]. Simon Unger-Alvi FAZ 20220406