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Die 60er Jahre: mitten im Frieden überall kalter Krieg, in den Wohnungen, auf den Straßen, zwischen Geschlechtern und den Lebensentwürfen. Mit sicherer Hand legt Birgit Vanderbeke die Trümmer frei, auf denen die Rohbauten unserer heutigen deutschen Wirklichkeit errichtet worden sind.

Produktbeschreibung
Die 60er Jahre: mitten im Frieden überall kalter Krieg, in den Wohnungen, auf den Straßen, zwischen Geschlechtern und den Lebensentwürfen. Mit sicherer Hand legt Birgit Vanderbeke die Trümmer frei, auf denen die Rohbauten unserer heutigen deutschen Wirklichkeit errichtet worden sind.
Autorenporträt
Birgit Vanderbeke, geb. 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. 1997 erhielt sie den Kranichsteiner Literaturpreis, 1999 den Solothurner Literaturpreis für ihr erzählerisches Gesamtwerk sowie den Roswitha-Preis, 2002 wurde ihr der Hans-Fallada-Preis verliehen, 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.1996

Der Vater pfeift ein Gegenlied
Birgit Vanderbeke sieht "Friedliche Zeiten" · Von Heinz Ludwig Arnold

Birgit Vanderbeke hat in den letzten sechs Jahren fünf Bücher veröffentlicht: fünf Erzählungen zwischen 110 und 140 Seiten, kurze, aber kompakte Prosakomplexe. Vier sind monologisch organisiert. Stets räsoniert darin ein weibliches Ich über seinen Zustand, sein Verhältnis zur Welt: über familiäre Zwänge in "Das Muschelessen", über eine unwillkommene Schwangerschaft in "Gut genug", als spielerische Phantasie einer Befreiung in "Ich will meinen Mord". Die Autorin hat sich bereits mit ihrem ersten Buch "Das Muschelessen" von 1990 eine Sprache erarbeitet, deren lange hypotaktische Sätze auch für die folgenden Bücher charakteristisch sind; sie sind inzwischen als Birgit Vanderbekes spezifische Erzählweise erkennbar.

Besonders nahe ist die Sprache ihres neuesten Buches "Friedliche Zeiten" jener von "Das Muschelessen". "Friedliche Zeiten" übernimmt aber auch das Thema des ersten Buches. Damals war das kritische Objekt der bizarren, in langen Schachtelsätzen entfalteten Familienszenen ein autoritärer Vater: "In Wirklichkeit, haben wir gefunden, waren wir keine richtige Familie, alles in dieser Familie drehte sich nur darum, daß wir so tun mußten, als ob wir eine richtige Familie wären, wie mein Vater sich eine Familie vorgestellt hat, weil er keine gehabt hat und also nicht wußte, was eine richtige Familie ist, wovon er jedoch die genauesten Vorstellungen entwickelt hatte . . ."

In den ironisch so genannten "Friedlichen Zeiten" ist nun die Mutter das Monstrum: Aus Ängstlichkeit und offensichtlich unbefriedigter Liebe - noch immer lebt sie in Erinnerung an ihren im Krieg gefallenen Verlobten - tyrannisiert sie die Familie mit falscher, übertriebener Fürsorge.

Die Geschichte spielt in den späten sechziger Jahren und wird wiederum, wie in "Das Muschelessen", mitgeteilt von einer Tochter: "Mein Vater mochte an meiner Mutter nicht, daß sie die Klo- und Badezimmerschlüssel immer verschwinden ließ und daß im Klo und Bad nicht geheizt werden durfte." Langsam beginnt Vanderbeke ihre Inszenierung vom ganz gewöhnlichen Wahnsinn eines Familienlebens, das ebensowenig eines ist wie in "Das Muschelessen". Immer länger und verschachtelter, immer hypotaktischer wachsen die Sätze und umkreisen die Erzählgegenstände, die im Kinderhirn des monologisierenden Mädchens variierend verarbeitet werden.

Das Erzählen, einmal so in Gang gesetzt, scheint fast wie von selbst weiterzugehen. Es könnte motorisch wirken, wie eine einmal gefundene Methode und nun ständig repetierte Masche. Aber Vanderbekes permutatives Erzählverfahren bringt Fakten und Reflexionen, die es sich einverleibt, mit immer wieder anderen Aspekten zur Anschauung. Seine Variationen treiben die Geschichte voran. Es ist deshalb schwer, die Geschichte nachzuerzählen; denn jede Nacherzählung würde nur jene Banalitäten vermitteln können, die die Grundsubstanz dieses Buches ausmachen - gerade aber Vanderbekes Erzählverfahren macht sie komplex. Es macht aus Lebensstoff Literatur.

Neben der Erzählerin gibt es noch ihre etwas ältere Schwester, Wasa, und einen sehr viel jüngeren Bruder, Flori. Die Mädchen reden, wenn sie abends im Bett liegen, viel über ihre Eltern, oder liegen schweigsam und grübeln furchtsam über die Dunkelheit nach und über ihr alltägliches Leben; und immer wieder über einen offensichtlichen Selbstmordversuch der Mutter, die sich mit den Kindern im Auto in den Rhein zu stürzen versuchte. Alles, was da geredet und überlegt oder auch beschwiegen wird, erscheint im Räsonnement der Ich-Erzählerin: "Wir konnten an solchen Abenden auch überhaupt nicht miteinander sprechen wie sonst, weil wir keine Sätze herausbrachten und alles Furchtbare wußten, aber ohne es aussprechen zu können, auch sonst sprachen wir fast nie von der Rheinfahrt, aber natürlich sehr oft darüber, daß die Mutter jung sterben und nicht alt werden würde, weil es einer ihrer Lieblingssätze war, und es beschäftigte uns andauernd, weil wir das Gefühl hatten, daß wir vernünftigerweise alles daransetzen sollten, ihren frühen Tod nicht gerade zu verhindern, das konnte wahrscheinlich keiner, dachten wir, weil keiner daran zweifelte, daß es ihr ernst damit war, und sie sich einfach nicht scheiden ließen, aber unseren Schuldanteil an ihrem Jung-Sterben wollten wir wenigstens so gering wie möglich halten."

In dieser Suada der umeinander kreisenden Reflexion bildet sich auch die unentrinnbare Verfahrenheit solch familiärer Situation ab, die vor allem die Kinder betrifft; der Vater verschwindet immer häufiger aus dieser familiären Hölle, der die Kinder nicht entkommen können.

Die sprachliche Abbildung dieser Unentrinnbarkeit ist Birgit Vanderbeke in diesem Buch durchaus gelungen, wenngleich ich denke, daß die Erzähldichte im "Muschelessen" komplexer, ihre sprachliche Intensität dort größer war. Auch gelingt es ihr nicht, das - neben Produktion und Stau der kindlichen Angst - zweite Thema dieses Buches ebenso intensiv und gleichzeitig differenziert darzustellen: die Gegensätzlichkeit der beiden Eltern, die aus dem Osten (der frühen DDR) kamen und bestimmte Prägungen erfahren haben: sie als "olle Nazitante", die "schon zwei Diktaturen" hinter sich hat und die "am liebsten das Lied von dem Lindenbaum, der vor dem Tore steht", sang, während der Vater sofort ein "Gegenlied zu pfeifen" begann, zum Beispiel Biermanns "Lied von der Buckower Süßkirschenzeit". Zuviel bleibt davon nur verlautbart oder geht unter im gleichförmigen Ton des permutativen Monologs.

Zwar beginnt das Buch mit der Beschreibung: "Mein Vater mochte am Osten, daß sie es mit dem Sozialismus versucht hatten, und er mochte am Osten nicht, daß sie den Sozialismus nicht zum Laufen gebracht hatten, weil sie alle Idioten waren." Aber dieses Thema wird kaum durchgespielt, es bleibt uneingelöst. Hingegen werden die meisten anderen politischen Stoffe, von denen die Kinder durch die Eltern beiläufig erfahren - dritter Weltkrieg und Atombombe zum Beispiel -, im übersteigerten und pointiert variantenreichen Räsonnement der Tochter als verstümmeltes und unverstandenes, nach dem Prinzip "stille Post" denunziertes, aber dem Kinderhirn durchaus bedrohliches Stammtischgerede vorgeführt.

Gegen Ende gerät diese monströse Familiengeschichte endgültig zum absurden Familientheater. Da reisen Eltern und Kinder zum Grab des im Kriege gefallenen Verlobten der Mutter, damit die endlich "in Ruhe alt werden konnte". Im Hotel liest der Vater in der Zeitung, daß am Tage zuvor in Memphis Martin Luther King erschossen wurde. Der Vater leidet sichtlich unter dieser Nachricht, ihm wird übel. Die Mutter aber, die sich auf die Begegnung mit ihrem toten Verlobten vorbereitet hat, "würde heute nur einen Toten ertragen können"; "daß dieser Schwarzenführer sich ausgerechnet so erschießen lassen mußte, daß es heute früh in der Zeitung stand" - sie ist eben doch die "olle Nazitante" geblieben.

Erstmals wendet sich, und darin scheint Birgit Vanderbeke eine gewisse Hoffnung in dieser Familienhölle zu signalisieren, die Erzählerin innerlich ihrem Vater zu: "Der Vater stand vor dem Friedhof und rauchte, während wir am Grab standen, eine Zigarette, und als wir wieder draußen waren, hätte ich ihn gern an der Hand gefaßt wie Flori, aber es ging nicht, weil ich zu groß dafür war. Einmal dachte ich, er würde anfangen, das Lied zu pfeifen von den Soldatenleichen, die sich gleichen, aber er pfiff es nicht."

Birgit Vanderbeke: "Friedliche Zeiten". Erzählung. Rotbuch Verlag, Hamburg 1996. 140 S., geb., 29,80 DM.

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