'Wer Marx sagt, muss auch Engels sagen. Der Marxismus ist ohne Engels nicht zu denken. Dennoch stand er meist im Schatten des Freundes. In seiner großen Biographie gelingt es Tristram Hunt überzeugend, Friedrich Engels als eigenständigen Denker zu zeigen, dessen Werk demjenigen von Marx nicht nachstand, dessen Leben aber weitaus aufregender verlief. Von den beiden Autoren des "Kommunistischen Manifestes" und Begründern jener Ideologie, die die Welt mehr verändert hat als jede andere,war Engels zweifellos der Schillerndere, biographisch Interessantere: einerseits Bonvivant, Frauenheld, passionierter Fuchsjäger und erfolgreicher Unternehmer, andererseits Moralist, Vordenker des Kommunismus, scharfer Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise und Verräter seiner Klasse. Engels war geradezu die Verkörperung der dialektischen Denkweise, die den Marxismus konstituierte. Aus einem reichen Quellenfundus schöpfend, präsentiert uns Hunt auf unterhaltsame Weise den großen Sozialisten in
seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Zugleich zeichnet er ein prägnantes Bild der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, ohne die Leben und Werk von Engels wie Marx nicht zu verstehen sind.
seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Zugleich zeichnet er ein prägnantes Bild der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, ohne die Leben und Werk von Engels wie Marx nicht zu verstehen sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2012Doppelleben an der Seite von Mary und Marx
Der Beitrag des Rentiers zum historischen Materialismus: In Tristram Hunts materialreicher Biographie passt zwischen Friedrich Engels und seinen philosophischen Meister kein Blatt.
Wer Marx sagt, muss auch Engels sagen, sind die beiden Namen doch seit mehr als hundertfünfzig Jahren, seit dem Erscheinen des "Manifests der Kommunistischen Partei", so eng miteinander verbunden wie die keines anderen Paares politischer Philosophen. Wer Engels sagt, muss aber auch Marx sagen, denn nicht nur das philosophische Wirken der beiden, sondern auch ihre Biographien sind eng miteinander verwoben. Karl Marx war aus dem Leben von Friedrich Engels nicht wegzudenken. Getrennt wurden sie dennoch in ihrer Rezeptionsgeschichte. Besonders Engels' Spätwerk verleitete einige Rezipienten dazu, ihn von Marx zu scheiden. Sein verbissenes Spätwerk wurde mit den attraktiven Werken von Marx, besonders mit den Pariser Notizbüchern, verglichen. Engels wurde so zum "Vater des ideologischen Extremismus des 20. Jahrhunderts, während man Marx zum akzeptablen postpolitischen Seher des globalen Kapitalismus umdeutete", wie der englische Historiker und Labour-Abgeordnete Tristram Hunt in seiner instruktiven Engels-Biographie schreibt.
Dass Engels einmal ein solches Bild angeheftet werden sollte, war bei seiner Geburt nicht vorherzusehen. 1820 im rheinländischen Barmen geboren, wuchs er in einer streng pietistischen Familie auf. Die Zukunft schien für ihn vorgezeichnet, nämlich in der Bekleidungsindustrie als Stammhalter seines Vaters in der Firma "Ermen und Engels". Schon als Gymnasiast begeisterte er sich jedoch für romantisch-patriotische Ideen, entfernte sich ideologisch von seiner Familie und kam später über Hegel und Feuerbach zu früh-kommunistischen Ideen. Diese geistige Entwicklung wurde unterstützt durch seine Lehre in der väterlichen Baumwollfirma, sowohl in seiner Geburtsstadt Barmen als auch im englischen Manchester. Sie gab ihm einen Einblick in die sozialen Zustände der Zeit und ließ in ihm die Erkenntnis reifen, dass nur der Kommunismus die Lage der Arbeiter verbessern könne. Schon früh veröffentlichte er seine Beobachtungen, 1839 beschrieb er in den "Briefen aus dem Wuppertal" die elende Lage der Baumwollarbeiter in seiner Heimat, und das 1845 erschienene Werk "Die Lage der arbeitenden Klassen in England" wurde zu einem der einflussreichsten Werke über die sozialen Zustände der Frühzeit des Manchesterkapitalismus. Marx bezog sich in seinen Schriften oft darauf.
Die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Marx entstand erst beim zweiten Zusammentreffen. Während ihre erste Begegnung in der Redaktion der "Rheinischen Zeitung", deren Chefredakteur Marx war, eher "kühl" verlief, wie sich Engels in der Rückschau erinnerte, waren sie sich beim zweiten Treffen im Sommer 1844 in Paris aufgrund der "vollständigen Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten" sofort sympathisch und begannen ihr gemeinsames Wirken. Engels nahm sich dabei bewusst zurück und spielte die "zweite Violine", denn "Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente". Anfangs setzten die beiden sich für die Gründung einer kommunistischen Partei ein. Als dies gelungen war, wurden sie beauftragt, deren Programm zu schreiben. Das "Manifest der Kommunistischen Partei" erschien 1848 in London. Nach der erfolglosen Revolution dieses Jahres, an der Engels tätigen Anteil genommen hatte, siedelten beide endgültig nach England über.
Hier nun begannen die interessantesten Jahre in Engels' Leben. Er trat wieder in die väterliche Firma ein und zog nach Manchester. Obwohl Marx in London blieb, riss der Kontakt zwischen ihnen nicht ab. Briefe und Telegramme, in denen sie sowohl ihre privaten und gesundheitlichen Probleme ausbreiteten als auch ihre Ideen miteinander besprachen, gingen fast täglich zwischen ihnen hin und her. Hunt nützt diese Korrespondenz intensiv für seine Darstellung.
In "Cottonopolis" führte und genoss Engels das Leben eines Bourgeois. Er schloss sich einer Jagdgesellschaft an, engagierte sich in der Friedrich-Schiller-Anstalt, einem Kulturverein der deutschen Händler in Manchester, war Mitglied in mehreren Clubs und anderen honorigen Institutionen. In seinem inoffiziellen Leben setzte er sich weiterhin für die Sache des Kommunismus ein. Vor allem dadurch, dass er den ständig unter Geldnot leidenden Marx mit großen Summen unterstützte, damit dieser sich ungestört der Ausarbeitung des "Kapital" widmen konnte.
Sein Doppelleben zwang ihn auch dazu, zwei Wohnung zu unterhalten, in der einen lebte er mit seiner Lebensgefährtin Mary Burns, einer irischen Arbeiterin. Dort traf er sich mit anderen Kommunisten. Die zweite war seine offizielle Wohnung und diente der Wahrung des bürgerlichen Anscheins. Die Last, zwei Leben zu führen, beschädigte ihn gesundheitlich. Marx wiederum kümmerte das wenig. Er bürdete seinem Geldgeber immer noch mehr Arbeit auf. Viele Artikel, die in dieser Zeit unter Marx' Namen erschienen, wurden von Engels verfasst.
Bis 1869 musste er dieses Doppelleben aushalten und der ihm verhassten Arbeit in der Baumwollindustrie, dem "hündischen Commerce", nachgehen. Dann endlich war Marx mit dem ersten Band seines Hauptwerks fertig. Erleichtert verließ Engels die Firma und entsprach in den folgenden Jahren einem der größten Feindbilder seiner eigenen politischen Vorstellungen - er wurde Rentier. Zurück in London wandte er sich wieder der internationalen Parteiarbeit zu - er beherrschte mehrere Sprachen und beantwortete Briefe immer in der Sprache des Schreibers - und der Propagierung der Marxschen Werke. Nach dessen Tod wurde er der Hüter des Marxismus, "Marx' Bulldogge", wie Hunt ihn bezeichnet.
Besonders seine in diesen Jahren veröffentlichten Schriften wie der "Anti-Dühring" und "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" wurden ihm später vorgeworfen. In ihnen habe Engels Marx' Ideen kodifiziert, auf seine eigene Weise interpretiert und in eine philosophische Systematik gepresst. Hunt ist jedoch ganz anderer Ansicht. Für ihn hatte es Engels gar nicht nötig, Marx zu interpretieren, da ihre Ideen immer die gleichen gewesen seien. In seinen Augen haben erst die späteren Anwender von Marx und Engels - Plechanow, Lenin und Stalin - den Marxismus pervertiert.
OLIVER KÜHN
Tristram Hunt: "Friedrich Engels". Der Mann, der den Marxismus erfand.
Propyläen Verlag, Berlin 2012. 575 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Beitrag des Rentiers zum historischen Materialismus: In Tristram Hunts materialreicher Biographie passt zwischen Friedrich Engels und seinen philosophischen Meister kein Blatt.
Wer Marx sagt, muss auch Engels sagen, sind die beiden Namen doch seit mehr als hundertfünfzig Jahren, seit dem Erscheinen des "Manifests der Kommunistischen Partei", so eng miteinander verbunden wie die keines anderen Paares politischer Philosophen. Wer Engels sagt, muss aber auch Marx sagen, denn nicht nur das philosophische Wirken der beiden, sondern auch ihre Biographien sind eng miteinander verwoben. Karl Marx war aus dem Leben von Friedrich Engels nicht wegzudenken. Getrennt wurden sie dennoch in ihrer Rezeptionsgeschichte. Besonders Engels' Spätwerk verleitete einige Rezipienten dazu, ihn von Marx zu scheiden. Sein verbissenes Spätwerk wurde mit den attraktiven Werken von Marx, besonders mit den Pariser Notizbüchern, verglichen. Engels wurde so zum "Vater des ideologischen Extremismus des 20. Jahrhunderts, während man Marx zum akzeptablen postpolitischen Seher des globalen Kapitalismus umdeutete", wie der englische Historiker und Labour-Abgeordnete Tristram Hunt in seiner instruktiven Engels-Biographie schreibt.
Dass Engels einmal ein solches Bild angeheftet werden sollte, war bei seiner Geburt nicht vorherzusehen. 1820 im rheinländischen Barmen geboren, wuchs er in einer streng pietistischen Familie auf. Die Zukunft schien für ihn vorgezeichnet, nämlich in der Bekleidungsindustrie als Stammhalter seines Vaters in der Firma "Ermen und Engels". Schon als Gymnasiast begeisterte er sich jedoch für romantisch-patriotische Ideen, entfernte sich ideologisch von seiner Familie und kam später über Hegel und Feuerbach zu früh-kommunistischen Ideen. Diese geistige Entwicklung wurde unterstützt durch seine Lehre in der väterlichen Baumwollfirma, sowohl in seiner Geburtsstadt Barmen als auch im englischen Manchester. Sie gab ihm einen Einblick in die sozialen Zustände der Zeit und ließ in ihm die Erkenntnis reifen, dass nur der Kommunismus die Lage der Arbeiter verbessern könne. Schon früh veröffentlichte er seine Beobachtungen, 1839 beschrieb er in den "Briefen aus dem Wuppertal" die elende Lage der Baumwollarbeiter in seiner Heimat, und das 1845 erschienene Werk "Die Lage der arbeitenden Klassen in England" wurde zu einem der einflussreichsten Werke über die sozialen Zustände der Frühzeit des Manchesterkapitalismus. Marx bezog sich in seinen Schriften oft darauf.
Die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Marx entstand erst beim zweiten Zusammentreffen. Während ihre erste Begegnung in der Redaktion der "Rheinischen Zeitung", deren Chefredakteur Marx war, eher "kühl" verlief, wie sich Engels in der Rückschau erinnerte, waren sie sich beim zweiten Treffen im Sommer 1844 in Paris aufgrund der "vollständigen Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten" sofort sympathisch und begannen ihr gemeinsames Wirken. Engels nahm sich dabei bewusst zurück und spielte die "zweite Violine", denn "Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente". Anfangs setzten die beiden sich für die Gründung einer kommunistischen Partei ein. Als dies gelungen war, wurden sie beauftragt, deren Programm zu schreiben. Das "Manifest der Kommunistischen Partei" erschien 1848 in London. Nach der erfolglosen Revolution dieses Jahres, an der Engels tätigen Anteil genommen hatte, siedelten beide endgültig nach England über.
Hier nun begannen die interessantesten Jahre in Engels' Leben. Er trat wieder in die väterliche Firma ein und zog nach Manchester. Obwohl Marx in London blieb, riss der Kontakt zwischen ihnen nicht ab. Briefe und Telegramme, in denen sie sowohl ihre privaten und gesundheitlichen Probleme ausbreiteten als auch ihre Ideen miteinander besprachen, gingen fast täglich zwischen ihnen hin und her. Hunt nützt diese Korrespondenz intensiv für seine Darstellung.
In "Cottonopolis" führte und genoss Engels das Leben eines Bourgeois. Er schloss sich einer Jagdgesellschaft an, engagierte sich in der Friedrich-Schiller-Anstalt, einem Kulturverein der deutschen Händler in Manchester, war Mitglied in mehreren Clubs und anderen honorigen Institutionen. In seinem inoffiziellen Leben setzte er sich weiterhin für die Sache des Kommunismus ein. Vor allem dadurch, dass er den ständig unter Geldnot leidenden Marx mit großen Summen unterstützte, damit dieser sich ungestört der Ausarbeitung des "Kapital" widmen konnte.
Sein Doppelleben zwang ihn auch dazu, zwei Wohnung zu unterhalten, in der einen lebte er mit seiner Lebensgefährtin Mary Burns, einer irischen Arbeiterin. Dort traf er sich mit anderen Kommunisten. Die zweite war seine offizielle Wohnung und diente der Wahrung des bürgerlichen Anscheins. Die Last, zwei Leben zu führen, beschädigte ihn gesundheitlich. Marx wiederum kümmerte das wenig. Er bürdete seinem Geldgeber immer noch mehr Arbeit auf. Viele Artikel, die in dieser Zeit unter Marx' Namen erschienen, wurden von Engels verfasst.
Bis 1869 musste er dieses Doppelleben aushalten und der ihm verhassten Arbeit in der Baumwollindustrie, dem "hündischen Commerce", nachgehen. Dann endlich war Marx mit dem ersten Band seines Hauptwerks fertig. Erleichtert verließ Engels die Firma und entsprach in den folgenden Jahren einem der größten Feindbilder seiner eigenen politischen Vorstellungen - er wurde Rentier. Zurück in London wandte er sich wieder der internationalen Parteiarbeit zu - er beherrschte mehrere Sprachen und beantwortete Briefe immer in der Sprache des Schreibers - und der Propagierung der Marxschen Werke. Nach dessen Tod wurde er der Hüter des Marxismus, "Marx' Bulldogge", wie Hunt ihn bezeichnet.
Besonders seine in diesen Jahren veröffentlichten Schriften wie der "Anti-Dühring" und "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" wurden ihm später vorgeworfen. In ihnen habe Engels Marx' Ideen kodifiziert, auf seine eigene Weise interpretiert und in eine philosophische Systematik gepresst. Hunt ist jedoch ganz anderer Ansicht. Für ihn hatte es Engels gar nicht nötig, Marx zu interpretieren, da ihre Ideen immer die gleichen gewesen seien. In seinen Augen haben erst die späteren Anwender von Marx und Engels - Plechanow, Lenin und Stalin - den Marxismus pervertiert.
OLIVER KÜHN
Tristram Hunt: "Friedrich Engels". Der Mann, der den Marxismus erfand.
Propyläen Verlag, Berlin 2012. 575 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Jenny Friedrich-Freska hat diese Biografie mit großem Interesse gelesen, in der ihrer Darstellung zufolge Friedrich Engels als einMann erscheint, der ein großer Freund war und sich bereitwillig mit der Rolle der "zweiten Geige" zufrieden gab. Dabei scheint ihr der Tristram Hunt, Historiker und Labour-Abgeordnete, ein recht stimmiges Bild von Engels zu zeichnen, der als wohlhabender Fabrikantensohn in Manchester doch nicht die Augen verschließen konnte vor dem Elend des Industrieproletariats. Gut gefallen hat ihr auch, dass der britische Autor durchaus Engels eigene intellektuelle Fähigkeiten anerkennt, wie auch seine Witz und seine Bereitschaft, Standpunkt zu revidieren. Doch an vorderster Stelle steht natürlich seine Freundschaft zu Marx, den er mit schier unerschöpflicher Langmut zu unterstützte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"In Tristram Hunts materialreicher Biographie passt zwischen Friedrich Engels und seinen philosophischen Meister kein Blatt." Oliver Kühn Frankfurter Allgemeine Zeitung 20121017