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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2018

Freunde des Schlechthinnigen
Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers „Ästhetik“ in einer neuen Ausgabe
Seine Reden „Über die Religion“ von 1799 werden bis heute diskutiert, seine fünfbändige Übersetzung der Werke Platons machte zu seinen Lebzeiten Furore, und dennoch war Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher vor allem ein philosophisch ambitionierter evangelischer Prediger, der auf Basis der Aufklärung ein neues Religionsverständnis suchte. Vernunft und Glaube sollten zusammenkommen. Seine Lieblingsform der überzeugenden Rede war jene Technik, die er in der Einleitung zu Platons Dialogen beschrieb. Sie prägte die Platondeutung, die ausschließlich die Dialoge in den Mittelpunkt der Platoninterpretation stellte und allerhand Diskussionen über Platons ungeschriebene Lehre provozierte. Schleiermachers Vorlesungsstil wich deutlich vom üblichen Predigerstil ab. Er stand am Katheder, stützte seinen Kopf in die linke Hand und redete ohne Unterbrechung, stets mit sich selber argumentierend, Rede und Gegenrede haltend.
Dass Professoren gerne reden, gehört zur Berufsbeschreibung. Dass sie selber ihre größten Bewunderer und treuesten Hörer sind, gilt nicht generell. Schon damals gab es Fans, die jedes Wort niederschrieben, das der Meister vom Katheder kündete. Dass bis weit ins 19. Jahrhundert und im Prinzip bis heute die Rede das Eigentliche ist und das gedruckte Wort nur vorauseilendes Thesenpapier oder nachträgliche Dokumentation, bringt für die Nachwelt gehörige Probleme. Selbst bedeutende Schriften von Hegel sind nur durch studentische Mitschriften überliefert.
Es bedarf also eines historisch versierten Herausgebers, der nicht nur den Gegenstand und den Redner, sondern auch den Mitschreiber – im vorliegenden Fall Alexander Schweizer – hinreichend genau kennt, um dessen Korrekturen, Veränderungen, persönliche Urteile, richtig einschätzen zu können und diese in der Edition des Textes zu kennzeichnen. Holden Kelm ging in dieser Neuedition darüber hinaus, er verfasste eine 75-seitige Einleitung, einen 70-seitigen Apparat, sparte dafür ein wenig beim Namenregister; 41 Personen wurden es am Ende.
Schleiermacher las an der Berliner Universität 1819, 1825 und 1832
33 über Ästhetik. Es war das dritte große Thema nach Psychologie und Pädagogik. Der Neuedition angefügt sind auch die drei Abhandlungen „Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben“ aus den Jahren 1831 – 33. Es wurde, so der Herausgeber Kelm, bislang zu wenig berücksichtigt, dass Schleiermachers „Ästhetik“ vom Tun des Künstlers selbst handelt. Dabei geht es um Erkenntnisinteresse und Erkenntnismöglichkeit, um „ethische Wirklichkeit“ und vor allem um die psychologischen Prozesse des Kunstschaffens.
Schleiermacher ist darin erschreckend modern, denn er bedient einen in vergleichsweise jüngerer Zeit beinahe zur Religion aufgestiegenen Glauben an das, was seit den 1970er Jahren mit oder ohne Drogen „Selbstverwirklichung“ heißt. Sicherlich dachte Schleiermacher noch nicht an zittrig aquarellierte Feuchtbiotope und Sonnenuntergänge in Acryl, aber seine Vorstellung vom „Organischwerden der Stimmung“, von der „freien Produktivität“ des unmittelbaren Selbstbewusstseins und die darin wirkende „Selbstmanifestation“ des Künstlers führen auch auf diesen Waldweg – Gefühl und Stimmung triumphieren über die Form.
Andererseits lenkt Schleiermacher das Augenmerk auf das Spannungsverhältnis von Kunstwerk und Rezeption desselben, indem er die emotionale Reaktion und Prägung des Kunstgenießers in Beziehung setzt zum kulturellen und historischen Kontext. Dies ist die ethische Relevanz von Kunst, die zwar schon im klassischen Griechenland große Bedeutung hatte, damals aber doch nahezu ausschließlich dem Kunstwerk zugeschrieben wurde und nicht dem einzelnen Rezipienten in seinem historisch und kulturell variablen Verhältnis zum Kunstwerk, wie dies Schleiermacher ausführt. Bis hierhin leuchtet auch heute noch vieles unmittelbar ein, aber Schleiermacher gibt sich noch lange nicht zufrieden.
Das Gefühl ist nun nicht mehr nur Motor und Rezeptor von Kunst, sondern auch die eigentliche Sphäre der Religion. Die vielleicht wunderbarste Wunschvorstellung, die der Mensch haben kann, dass nämlich Gefühl übertragbar sei, wird bei Schleiermacher zu großer Gewissheit. Sie begründet gar, und er bezieht dies auf die Religion, das Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten, die berühmte „schlechthinnige Abhängigkeit“.
Gefühl und Religiosität, beides eng verbunden, machen die Schleiermacherische „Stimmung“ aus, die sich im Kunstwerk materiell niederschlägt oder in irgendeiner Form manifestiert, „organischer Ausdruck“ wird. Daraus folgert Schleiermacher, dass die Religiosität Grundlage allen Kunstschaffens ist, auch der scheinbar ganz freien Produktivität.
Es waren andere Zeiten. Schauspielerei und Musik galten als mindere, begleitende und leibliche Künste, höchstes Ideal war die griechische Plastik. Manchmal vergisst man bei der Lektüre, dass Schleiermacher einst mit den Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel im Bunde stand, dass er Friedrich Schlegels Skandal-Roman „Lucinde“ mitschrieb, für viele gar Mitbegründer der literarischen Frühromantik war.
Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass das nun erstmals in gedruckter Form vorliegende Manuskript Schweizers lange Zeit als verschollen galt, bevor sich Holden Kelm und der philosophisch verdienstvolle Hamburger Meiner-Verlag mit seinen fadengehefteten edlen und doch erschwinglichen Editionen der Sache angenommen haben.
HELMUT MAURÓ
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst (1831 – 33). Hrsg. von Holden Kelm. Meiner Verlag, Hamburg 2018. 561 Seiten, 78 Euro.
Der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, geboren 1768 in Breslau, starb 1834 in Berlin. An der Berliner Universität war er Professor für Theologie.
Foto: blanc kunstverlag
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