Das Überraschungsdebüt des Frühjahrs: Olaf Schmidts sprachmächtiges Epos über ein Provinzgenie, zwei Jahrhunderte deutsch-dänischer Geschichte - und viele menschliche Tragödien Anselm ist so bewegt wie beunruhigt, als ihn eine Nachricht von der Insel Föhr ereilt - lange schon hat er die verschworene Inselgemeinschaft, in die er geboren wurde, hinter sich gelassen und lebt in Süddeutschland. Losgelassen hat ihn die Insel aber nicht - seine Doktorarbeit gilt Oluf Braren, einem autodidaktischen Malergenie, dessen wenige erhaltene Bilder längst gesuchte Sammlerstücke sind. Und jetzt soll auf Föhr ein Fragment von dessen Meisterwerk »Die stille Hochzeit« gefunden worden sein. Anselm macht sich auf die Reise zu der Insel und ihren verschlossenen Bewohnern. Aber schon am Tag, nachdem er das Fragment kurz sehen konnte, ist es wieder verschwunden. Seine Ahnung, dass für einige Inselbewohner unliebsame Erinnerungen mit dem Bild verbunden sind, bestätigt sich schnell. Anselms Suche nach demFragment wird zu einer atemberaubend erzählten Expedition in die von Grenzkonflikten und dem Kampf gegen die Naturgewalten geprägte friesische Geschichte, die Sitten und die Mentalität der Nordländer, das Leben des Provinzgenies Braren - und in Anselms eigene Vergangenheit. Mit Olaf Schmidt hat die deutsche Literatur einen Autor gewonnen, der nicht nur Atmosphäre schaffen und epische Spannung zu erzeugen weiß, sondern der auch immenses Wissen und akrobatisches Sprachvermögen sein Eigen nennt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2006Schuldiges Schweigen
Olaf Schmidts Debüt schürft in der friesischen Geschichte
Eigentlich gelten die Bewohner der Nordsee-Inseln als einsilbig und verschlossen. Doch wenn die Burschen erst mal trinken und singen, dann machen sie aus ihrer Heimatliebe keinen Hehl: "At jaft dach man an ian eilun Feer, / det leit mi boowen uun" - "Es gibt doch nur eine Insel Föhr, / die geht mir über alles." Von dort stammt Olaf Schmidt, der mit seinem Debüt "Friesenblut" mehr als einen Heimatroman vorlegt. Historia und Fabula zugleich, ist das Buch kritisch, vielschichtig, gelehrt und spannend.
Der Gegenstand erscheint auf den ersten Blick eher skurril und erinnert an die Künstlerwelt E.T.A. Hoffmanns, über die Schmidt promovierte. Im Mittelpunkt steht das Leben des Volksmalers und Schulmeisters Oluf Braren (1787 bis 1839) von Föhr, den "schon zu Lebzeiten" niemand kannte. Er tritt selbst auf, ebenso wie sein Schüler Matthiessen oder Goethes Tischbein. Dieser historische Handlungsstrang über "eine original Jean-Paulsche Existenz" ist eingebettet in die detektivische Wiederentdeckung des Künstlers Braren: einmal durch einen jüdischen Kunsthistoriker, der 1936 seine Recherchen auf dieser als besonders arisch angesehenen Insel mit dem Leben bezahlt, dann durch den Doktoranden Anselm Olufs, Hauptfigur des Romans. Anselm wird in die friesische Heimat gerufen, weil man dort ein Gemälde von Braren gefunden zu haben glaubt. Während der erhoffte Sensationsfund sich Anselm schrittweise entzieht, stößt er bei seiner Suche auf immer seltsamere und verwickeltere Geschichten aus Föhrs Vergangenheit.
Anselms Verdacht, daß "der Diebstahl des Bildes an Unausgesprochenes und Ungesühntes rührte", verdichtet sich dramatisch. Die bewährte Frage des Dramas seit Sophokles - "Was war damals geschehen?" - treibt die Handlung voran. Klug beherzigt Schmidt die Lehre, die er einem der Protagonisten in den Mund legt: "Ein Roman sollte nicht nur Begebenheiten enthalten, sondern auch Charaktere und Poesie." Die historischen Begebenheiten sind eng mit den Charakteren verknüpft. So gewinnt das Schicksal einer zwischen Dänemark und Deutschland hin- und hergerissenen Bevölkerung, die sprachlich ins Nordfriesische, Sylter Friesische, Jütische, das Platt- und Hochdänische sowie ins Platt- und Hochdeutsche gespalten ist, Kontur.
Solche Kenntnisse gehören nicht unbedingt zur Allgemeinbildung. Hier verdichten sie sich jedoch zu einem faszinierenden Porträt einer kleinen, aber höchst heterogenen Gesellschaft. Das Hin und Her zwischen den widerstreitenden nationalen Gesinnungen - zwischen den Anhängern der bis 1864 bestehenden dänischen Hoheit und den Befürwortern des Deutschen Reiches - verbindet die verschiedenen historischen Schichten des Romans. Die schwierige Volksabstimmung über die nationale Zugehörigkeit von 1920 und die nach dem Zweiten Weltkrieg unmöglich gewordene Rückkehr zu den Dänen nehmen dabei breiten Raum ein. Das Personal wird dadurch in Fraktionen geteilt. Die zunächst kaum sichtbaren Trennlinien verlaufen zwischen und teilweise auch in den Familien.
Aus der fehlenden nationalen Zugehörigkeit der Friesen ergeben sich, so legt der Roman nahe, zwei Tendenzen: zum einen das Begehren, die Ursprünge dieser Volksgruppe bis in die ferne, gar mythologische Vergangenheit zu verfolgen, zum anderen die Ablehnung alles Fremden. Da gelangt das Buch an seinen eigentlichen Kern, aus dem sich auch der Titel ergibt. Das Schicksal des gesuchten Bildes ist eng mit der Familie Vanini verbunden. Uwe Vanini, den Anselm noch als Lehrer aus der Volksschule kennt, ist Vorsitzender des reaktionären Heimatvereins auf Föhr, eine zwielichtige Gestalt. Noch zwielichtiger ist sein Vater Hinrich Vanini, der sich zu einem arischen Messias stilisiert, der die Friesen zu ihren germanischen Wurzeln zurückführen will. Hierzu veröffentlicht er eine schwülstige Geschichte mit dem völkischen Titel "Friesenblut. Ein Nordseebuch von Schutz und Trutz". Vanini modelt darin sein Alter ego - mit dem ähnlich klingenden Namen Jens Salvini - vom mißtrauisch beäugten Fremdling zum deutschtümelnden Blutkämpfer gegen die "frechen Dänen" .
Olaf Schmidt bezieht offenbar Anregungen aus der spärlichen friesischen Literatur: 1934 erschien im Verlag der NSDAP in München "Volk an der See. Ein Nordseebuch von Trutz und Treue" von dem Föhrer Autor Ferdinand Zacchi. Schmidt räumt in einer Vorbemerkung ein, daß "Ereignisse, die sich in einer bestimmten Gegend und zu bestimmten Zeiten abspielten", als Material für seinen selbstverständlich fiktiven Roman dienten. Er weiß also wie sein Protagonist Anselm, daß es um ein heikles Unternehmen geht. Denn wie eng die Verwandtschaftsverhältnisse auf Föhr sind, ist leicht vorstellbar. Auch Anselm muß erfahren, daß seine Suche nach dem verschwundenen Gemälde Brarens ihn zum unfreiwilligen Ermittler in eigenen unangenehmen Familienangelegenheiten macht. Dennoch löst er das Rätsel, das den erhofften Kunstfund behindert. Am hartnäckigsten muß er dabei gegen das Schweigen kämpfen, hinter dem sich die eigentliche Schuld verbirgt.
Olaf Schmidt: "Friesenblut". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2006. 272 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olaf Schmidts Debüt schürft in der friesischen Geschichte
Eigentlich gelten die Bewohner der Nordsee-Inseln als einsilbig und verschlossen. Doch wenn die Burschen erst mal trinken und singen, dann machen sie aus ihrer Heimatliebe keinen Hehl: "At jaft dach man an ian eilun Feer, / det leit mi boowen uun" - "Es gibt doch nur eine Insel Föhr, / die geht mir über alles." Von dort stammt Olaf Schmidt, der mit seinem Debüt "Friesenblut" mehr als einen Heimatroman vorlegt. Historia und Fabula zugleich, ist das Buch kritisch, vielschichtig, gelehrt und spannend.
Der Gegenstand erscheint auf den ersten Blick eher skurril und erinnert an die Künstlerwelt E.T.A. Hoffmanns, über die Schmidt promovierte. Im Mittelpunkt steht das Leben des Volksmalers und Schulmeisters Oluf Braren (1787 bis 1839) von Föhr, den "schon zu Lebzeiten" niemand kannte. Er tritt selbst auf, ebenso wie sein Schüler Matthiessen oder Goethes Tischbein. Dieser historische Handlungsstrang über "eine original Jean-Paulsche Existenz" ist eingebettet in die detektivische Wiederentdeckung des Künstlers Braren: einmal durch einen jüdischen Kunsthistoriker, der 1936 seine Recherchen auf dieser als besonders arisch angesehenen Insel mit dem Leben bezahlt, dann durch den Doktoranden Anselm Olufs, Hauptfigur des Romans. Anselm wird in die friesische Heimat gerufen, weil man dort ein Gemälde von Braren gefunden zu haben glaubt. Während der erhoffte Sensationsfund sich Anselm schrittweise entzieht, stößt er bei seiner Suche auf immer seltsamere und verwickeltere Geschichten aus Föhrs Vergangenheit.
Anselms Verdacht, daß "der Diebstahl des Bildes an Unausgesprochenes und Ungesühntes rührte", verdichtet sich dramatisch. Die bewährte Frage des Dramas seit Sophokles - "Was war damals geschehen?" - treibt die Handlung voran. Klug beherzigt Schmidt die Lehre, die er einem der Protagonisten in den Mund legt: "Ein Roman sollte nicht nur Begebenheiten enthalten, sondern auch Charaktere und Poesie." Die historischen Begebenheiten sind eng mit den Charakteren verknüpft. So gewinnt das Schicksal einer zwischen Dänemark und Deutschland hin- und hergerissenen Bevölkerung, die sprachlich ins Nordfriesische, Sylter Friesische, Jütische, das Platt- und Hochdänische sowie ins Platt- und Hochdeutsche gespalten ist, Kontur.
Solche Kenntnisse gehören nicht unbedingt zur Allgemeinbildung. Hier verdichten sie sich jedoch zu einem faszinierenden Porträt einer kleinen, aber höchst heterogenen Gesellschaft. Das Hin und Her zwischen den widerstreitenden nationalen Gesinnungen - zwischen den Anhängern der bis 1864 bestehenden dänischen Hoheit und den Befürwortern des Deutschen Reiches - verbindet die verschiedenen historischen Schichten des Romans. Die schwierige Volksabstimmung über die nationale Zugehörigkeit von 1920 und die nach dem Zweiten Weltkrieg unmöglich gewordene Rückkehr zu den Dänen nehmen dabei breiten Raum ein. Das Personal wird dadurch in Fraktionen geteilt. Die zunächst kaum sichtbaren Trennlinien verlaufen zwischen und teilweise auch in den Familien.
Aus der fehlenden nationalen Zugehörigkeit der Friesen ergeben sich, so legt der Roman nahe, zwei Tendenzen: zum einen das Begehren, die Ursprünge dieser Volksgruppe bis in die ferne, gar mythologische Vergangenheit zu verfolgen, zum anderen die Ablehnung alles Fremden. Da gelangt das Buch an seinen eigentlichen Kern, aus dem sich auch der Titel ergibt. Das Schicksal des gesuchten Bildes ist eng mit der Familie Vanini verbunden. Uwe Vanini, den Anselm noch als Lehrer aus der Volksschule kennt, ist Vorsitzender des reaktionären Heimatvereins auf Föhr, eine zwielichtige Gestalt. Noch zwielichtiger ist sein Vater Hinrich Vanini, der sich zu einem arischen Messias stilisiert, der die Friesen zu ihren germanischen Wurzeln zurückführen will. Hierzu veröffentlicht er eine schwülstige Geschichte mit dem völkischen Titel "Friesenblut. Ein Nordseebuch von Schutz und Trutz". Vanini modelt darin sein Alter ego - mit dem ähnlich klingenden Namen Jens Salvini - vom mißtrauisch beäugten Fremdling zum deutschtümelnden Blutkämpfer gegen die "frechen Dänen" .
Olaf Schmidt bezieht offenbar Anregungen aus der spärlichen friesischen Literatur: 1934 erschien im Verlag der NSDAP in München "Volk an der See. Ein Nordseebuch von Trutz und Treue" von dem Föhrer Autor Ferdinand Zacchi. Schmidt räumt in einer Vorbemerkung ein, daß "Ereignisse, die sich in einer bestimmten Gegend und zu bestimmten Zeiten abspielten", als Material für seinen selbstverständlich fiktiven Roman dienten. Er weiß also wie sein Protagonist Anselm, daß es um ein heikles Unternehmen geht. Denn wie eng die Verwandtschaftsverhältnisse auf Föhr sind, ist leicht vorstellbar. Auch Anselm muß erfahren, daß seine Suche nach dem verschwundenen Gemälde Brarens ihn zum unfreiwilligen Ermittler in eigenen unangenehmen Familienangelegenheiten macht. Dennoch löst er das Rätsel, das den erhofften Kunstfund behindert. Am hartnäckigsten muß er dabei gegen das Schweigen kämpfen, hinter dem sich die eigentliche Schuld verbirgt.
Olaf Schmidt: "Friesenblut". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2006. 272 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz eingenommen ist Alexander Kosenina von Olaf Schmidts Debütroman "Friesenblut" über den jungen Doktoranden Anselm Oluf, der in seine friesische Heimat nach Föhr zurückkehrt, um dort ein Gemälde des Volksmalers und Schulmeisters Oluf Braren zu begutachten, das allerdings gestohlen wird. Bei der Suche nach dem Bild stößt Oluf dann auf immer seltsamere und verwickeltere Geschichten aus Föhrs Vergangenheit. Kosenina bescheinigt dem Autor handwerkliches Können, wenn Schmidt seine auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte eng mit der Darstellung friesischer Charaktere verknüpft und dabei ein "faszinierendes Porträt" einer recht eigenwilligen Bevölkerungsgruppe zeichnet. Der Roman ist jedoch "mehr als ein Heimatroman", versichert der mit dem Ergebnis rundum zufriedene Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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