Für die einen ist er der geniale Wissenschaftler, Nobelpreisträger und Wohltäter der Menschheit. Den anderen gilt er als skrupelloser Erfinder des Gaskrieges, der überdies seine erste Frau Clara Immerwahr in den Selbstmord trieb. Charakterisierung und Bewertung des Physikchemikers Fritz Haber fallen seit jeher sehr kontrovers aus. Mit dieser auf umfangreiches Quellenmaterial gestützten Biographie entsteht nicht nur ein nuanciertes Portrait Fritz Habers, sondern darüber hinaus das Bild eines in vielerlei Hinsicht ebenso modernen wie tragischen Wissenschaftlers.
Margit Szöllösi-Janzes vortreffliche Biographie des Wissenschaftlers Fritz Haber
Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1868-1934. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 1998. 928 Seiten, 98,- Mark.
Vorbildlich erzählt Margit Szöllösi-Janze das Leben Fritz Habers. Es umfasste Kaiserreich, Weimarer Republik und die Hitlerjahre. Haber wurde am 9. Dezember 1868 in Breslau als Sohn eines jüdischen Farben- und Chemikalienhändlers in eine Umbruchszeit geboren. Der Vater Siegfried Haber war Stadtverordneter und aktiv in der angesehenen Gesellschaft der Brüder, einer im Geiste Moses Mendelssohns gegründeten Vereinigung, die aufklärerisch und liberal gesinnt war. In diesem stimulierenden Umkreis wuchs Fritz Haber auf.
Wie Frau Szöllösi-Janze darstellt, waren Schulzeit, Studium und Militärdienst von Haber bildungsbürgerlich geprägt, sein Lebenslauf entsprach insoweit dem der meisten anderen deutschen Wissenschaftlern jener Zeit. Während seiner Schulzeit war Haber im "klassische Kränzchen", einem Zusammenschluss von einem Dutzend Breslauer Gymnasiasten, der lateinische und griechische Schriftsteller las, die nicht zum Schulpensum gehörten, und stundenlang diskutierte. Chemie wurde zu dieser Zeit nicht an Gymnasien gelehrt, bemerkenswerterweise beschäftigte sich der Primaner Haber in seiner Freizeit mit chemischen Experimenten. Seinen Entschluss, Chemie zu studieren, fasste er jedoch erst nach dem Abitur.
Haber begann sein Studium im Wintersemester 1886/87 an der Berliner Universität, die er wohl wegen der großen räumlichen Distanz zum Elternhaus gewählt hatte, nicht etwa wegen der großen Namen, die das Fach Chemie an der Fakultät repräsentierten. Schon zu diesen Zeiten sprach man von einer Überfüllungskrise an den Universitäten, die zum Teil bei den Studenten in einen vehementen Antisemitismus mündete. Nach einem Semester Berlin wechselte Haber nach Heidelberg. Zu dieser Zeit lehrte dort der schon 76 Jahre alte Bunsen, der die Fortschritte auf dem Gebiet der organischen Chemie nicht zur Kenntnis nahm und folglich nicht unterrichtete. Haber empfand das zwar als Mangel, doch erwarb er andererseits bei Bunsen solide Kentnisse in der Gasanalyse, von denen er später bei seinen eigenen Arbeiten profitiert haben dürfte.
Nach dem Sommersemester 1888 leistete Haber das Einjährig-Freiwillige Jahr beim Feldartillerie-Regiment von Peucker in Breslau ab. Obwohl ihn der Dienst langweilte, wäre er gern Reserveoffizier geworden. Wie Szöllösi-Janze jedoch überzeugend darlegt, dürfte ihm dieser Sprung auf der sozialen Karriereleiter wegen seines Judentums nicht gelungen sein.
Zum Wintersemester 1889/90 schrieb sich Haber an der TH Berlin-Charlottenburg ein, wo er auch, von heftigsten Selbstzweifeln geplagt, sein Studium mit einer Dissertation über ein organisch-chemisches Thema im Mai 1891 abschloss. Da er seine Promotion nur mit einem mäßigen cum laude abschloss, schien die akademische Laufbahn nicht vorgezeichnet. Haber absolvierte drei kurze Industrievolontariate in Budapest, Galizien und in einer Zellulosefabrik in Schlesien und trat nach einem einsemestrigen Aufenthalt am Eidgenössischem Polytechnikum in Zürich im Sommer 1892 in das väterliche Geschäft ein. Doch kamen Vater und Sohn schlecht miteinander aus. Haber junior ging nach Jena, wo er weitreichende Entscheidungen traf: Er konvertierte zum Christentum, entschied sich für die akademische Laufbahn und wechselte von der organischen Chemie zur physikalischen Chemie.
Dieser Wechsel zur physikalischen Chemie in der Jenaer Zeit ist um so bemerkenswerter, als dieses Fach in Jena institutionell nicht abgesichert war, so dass Haber schon 1894 an die Technische Hochschule Karlsruhe wechselte, wo er, wie er es selbst kennzeichnete, die besten 17 Arbeitsjahre seines Lebens verbrachte.
Frau Szöllösi-Janze versteht es nicht nur, sensibel auf Habers Lebensumstände einzugehen, sondern webt auch wissenschaftshistorisch die Entstehung der Disziplin physikalische Chemie in seinen Lebenslauf ein. Durch die Darstellung des wissenschaftlichen Zeitgeistes wird die Biographie auch im größeren wissenschaftshistorischen Zusammenhang interessant.
In Habers Karlsruher Zeit fällt die Entwicklung des Haber-Bosch Verfahrens, mit dessen Hilfe es gelang, Stickstoff aus der Luft in flüssiges Ammoniak zu verwandeln, welches dann der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Produkten bildete. Bei der Entwicklung dieses Verfahrens arbeitete Haber eng mit der Badischen Anilin & Sodafabrik zusammen. Diese Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Industrie stellt ein frühes Beispiel für eine Kooperation dar, wie sie heute vermehrt von Hochschulpolitikern gefordert wird.
Von Haber selbst zunächst unbemerkt bedeutete seine Berufung zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie im Jahre 1911 eine Abkehr von seinem Forscherdasein; er wurde zum Wissenschaftsmanager. Im Ersten Weltkrieg konnte Haber seinen Einfluss auch auf staatliche und militärische Stellen ausdehnen. Wie die Direktoren der anderen Kaiser-Wilhelm-Institute stellte er sich mit den Resourcen seines Institut früh in den Dienst des Krieges. Die Lage zu dessen Beginn war für Deutschland prekär: zur Herstellung von Sprengstoff brauchte man Stickstoff in großen Mengen, doch die britische Seeblockade verhinderte den Import des dazu nötigen Rohstoffs Chile-Salpeter. Durch Vermittlung von Haber wurde daher mit dem Aufbau der großen Salpeterfabriken bei der BASF begonnen, mit denen die Munitionsversorgung des Deutschen Reiches gesichert wurden.
Während die Entwicklung des Luftstickstoffverfahrens hauptsächlich der Landwirtschaft dienen sollte ("Brot aus Luft") und erst sekundär für Kriegszwecke genutzt wurde, war es bei den Aktivitäten Habers zur Weiterentwicklung des Gaskrieges umgekehrt. Haber spielte eine bestimmende Rolle und nahm an der Front selbst teil an Gasangriffen. Als zivile Nutzung der im Gaskrieg gewonnenen Methoden und Verfahren trieb er wesentlich die Entwicklung der chemischen Schädlingsbekämpfung in Deutschland voran. Die Mehlmotte wurde mit groß angelegten Blausäurevergasungen bekämpft. Diese Aktionen wurden von Haber als Vorsitzendem des Technischen Ausschusses für Schädlingsbekämpfung koordiniert.
Wie Frau Szöllösi-Janze herausarbeitet, kann der Selbstmord von Habers erster Frau, der Chemikerin Clara Immerwahr, nicht eindeutig in einen Zusammenhang mit Habers Rolle in der Gaskriegführung gestellt werden. Die Hintergründe lagen wohl auch im Privaten - anders, als etwa Gerit von Leitner es in ihrem Buch über Clara Immerwahr darstellt. Frau Szöllösi-Janzes kritischer und sensibler Umgang mit den Quellen erweist auch hier die ausgezeichnete Qualität ihrer Arbeit.
Die deutsche Niederlage traf auch Haber persönlich schwer. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit widmete er sich dem Um- und Aufbau von militärischen Kapazitäten in friedliche. Dabei schien ihn zunächst die Vergangenheit einzuholen, als er wegen seines Engagements für den Gaskrieg vor ein alliiertes Gericht gestellt werden sollte. Aufgrund der Quellenlage ist allerdings unsicher, ob er überhaupt auf einer Liste auszuliefernder Deutscher stand. Allzu große Sorgen hat sich Haber jedenfalls nicht machen müssen, da er 1919 rückwirkend für 1918 den Nobelpreis für Chemie zugesprochen bekam.
In der Weimarer Republik beschäftigte sich Haber weiter mit Giftgasen zur Schädlingsbekämpfung; das an seinem Institut entwickelte Zyklon B wurde Jahre später von den Nazis zum Massenmord an den Juden benutzt. Die letzten Lebensjahre Habers waren von persönlichen und politisch bedingten Schicksalsschlägen überschattet. Krankheit und Depression verfolgten ihn seit Kriegsende, er trennte sich von seiner zweiten Frau Charlotte, die er im Ersten Weltkrieg geheiratet hatte, sein Vermögen wurde durch die Inflation vernichtet. Hitlers Rassegesetze bewirkten, dass auch Haber von seinem Posten als Direktor des KWI zurücktrat. Sein Rücktrittsgesuch gilt zu Recht als eines der wenigen Zeugnisse für aufrechtes Verhalten eines deutschen Wissenschaftlers zu Beginn der NS-Diktatur.
Nach einer Odyssee durch mehrere Länder Europas starb Haber in Basel. Ein Jahr später fand in Berlin die Gedächtnisfeier für ihn im Saal des Harnack-Hauses in Dahlem statt. Vornehmlich Frauen nahmen daran teil. Sie waren von ihren Männern geschickt worden, denen verboten worden war, an einer Ehrung des Juden Haber teilzunehmen.
"Ich habe zu lange gelebt", hatte Habers Schlussfolgerung in den bitteren Monaten am Ende seines Lebens gelautet. "Und doch", schreibt Frau Szöllösi-Janze: "In mancher Hinsicht hat Haber nicht lange genug gelebt." Die von ihm konzipierte Großforschung hat sich erst im und nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert, ebenso die Verknüpfung verschiedener Teildisziplinen, wie er sie in seinen Projekten verwirklicht hatte, und schließlich die fließende Grenze zwischen militärischer und ziviler Nutzung wissenschaftlicher Erfindungen: alles Insignien wissenschaftlicher Moderne.
UDO SCHUMACHER
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