Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2005Zwei Vorbilder
Die Widerstandskämpferin Sophie Scholl und ihr Freund Fritz Hartnagel
Hermann Vinke: Fritz Hartnagel. Der Freund von Sophie Scholl. Arche Verlag, Hamburg 2005. 276 Seiten, 19,90 [Euro].
Vor 25 Jahren hat Hermann Vinke "Das kurze Leben der Sophie Scholl" beschrieben. Das mehrfach ausgezeichnete Buch richtete sich vorwiegend an junge Leser. Dessen verständliche und unpathetische Erzählweise begegnet nun auch in dem neuen, wiederum überaus einfühlsamen Porträt, das Sophie Scholls Freund Fritz Hartnagel gewidmet ist. Wieder zeichnet den Autor eine behutsame Empfindsamkeit beim Umgang mit den Quellen aus, die ihm dafür anvertraut wurden: damals Sophie Scholls Briefe und Aufzeichnungen, nunmehr in erster Linie Fritz Hartnagels Schriftwechsel mit Sophie und deren Familie, insbesondere mit Elisabeth Scholl, seiner späteren Frau. Hinzu kommen Aufzeichnungen über Gespräche des Autors mit Fritz und Elisabeth Hartnagel. Die Korrespondenz zwischen Sophie Scholl und Fritz Hartnagel soll im Herbst 2005 als Edition vorliegen.
Eindrucksvoll gelingt die sorgsame, möglichst viele Dimensionen zwischenmenschlicher Bereiche anleuchtende Nachzeichnung vor allem der Beziehungen zwischen Fritz Hartnagel und Sophie Scholl. Sie begegnen einander zuerst im Winter 1937. Sie, geboren 1921, ist Oberschülerin, er, geboren 1917, angehender Offizier der Wehrmacht. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, aus der eine "schwierige Liebe" erwächst. Konflikte entzünden sich zunehmend an abweichenden Vorstellungen von den beiderseitigen Lebenszielen und Weltbildern, schließlich an tiefer gehenden Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der grundsätzlichen Haltung zum herrschenden nationalsozialistischen Regime. Hartnagel zweifelt nicht an seiner Offizierspflicht, seinem Land und Volk - unabhängig von der jeweiligen Regierungsform - auch im Krieg treu zu dienen.
Sophie Scholl hat aufgrund ihrer den Prinzipien eines wahren Christseins verpflichteten sittlichen Lebenshaltung den Weg zum entschiedenen Widerstand gegen das Regime der Barbarei und Unmenschlichkeit gefunden. Schon am 5. September 1939 schreibt sie ihm: "Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland." Fritz verweigert zunächst eine Antwort, beginnt aber bald im Sinne Sophies umzudenken. Seine Umkehr vollzieht sich unter dem Eindruck des Kriegsverlaufs und der dabei im Osten verübten Grausamkeiten und Massenmorde. Sophie verwendet die Informationen von Fritz für die Flugblätter der "Weißen Rose", über deren Aktionen sie ihren Freund nicht informiert. Unmittelbar nach der Rettung aus dem Kessel von Stalingrad erfährt Fritz von der Festnahme und Hinrichtung Sophies und ihres Bruders Hans sowie ihrer Gefährten. In seiner Haltung als nun überzeugter und konsequenter Gegner des Regimes und des Krieges weiß er sich fortan dem Vermächtnis der Ermordeten verpflichtet.
Hartnagels Sorge gilt der Familie Scholl, gegen die Sippenhaft verhängt wird und deren Existenzgrundlagen gefährdet sind. Seinen Dienst in der Wehrmacht versieht er im Bewußtsein, daß nur die vollständige Niederlage Deutschland eine lebenswerte Zukunft sichert. Auf sinnlose Durchhalteparolen antwortet er, wenn sich die Möglichkeit bietet, mit Wandparolen und Spruchbändern. Nur knapp entkommt er kurz vor Kriegsende einem Erschießungskommando. Schon Ende 1944 haben Fritz Hartnagel und Sophies Schwester Elisabeth geheiratet. Zwischen ihnen hatte sich nach Sophies Tod eine "selbstverständliche Nähe" ergeben. Ihre Liebe empfinden beide als wunderbare Fortsetzung der Liebe zu Sophie. Nach dem Krieg wird Hartnagel Jurist und bekleidet Richterämter in Ulm und Stuttgart. Er schließt sich der SPD an, bekennt sich als konsequenter Gegner von Adenauers Politik der Westbindung und Wiederbewaffnung und engagiert sich aktiv in der Friedensbewegung. Er stirbt 2001.
Fritz Hartnagels Hoffnungen, daß sich nach dem Ende des Nationalsozialismus der "Geist der Weißen Rose" im Neuanfang des politischen, gesellschaftlichen und geistigen Lebens rasch durchsetzen werde, haben sich freilich nicht erfüllt. Bedeutsamer als die politische Wirksamkeit erscheint ohnehin die rein persönliche Überzeugungskraft des geistigen Erbes der "Weißen Rose", so wie er es 1947 formuliert hat: "Sie suchten mit allen Fasern ihres Herzens nach einem neuen Menschenbild, nicht um es dann abstrakt in ihrem Geist zu besitzen, sondern um es zu leben. Es ist ein neuer Humanismus, den sie verkörpern. Sie handelten nicht aus Menschlichkeit, sondern ihr Leben war Menschlichkeit."
Berührt legt der Leser das Buch aus der Hand und erinnert sich der frühen Werturteile von Thomas Mann, Ricarda Huch und Theodor Heuss, die den "braven, herrlichen jungen Leuten" der "Weißen Rose" in ihrer "Reinheit der Gesinnung" heroenhafte Züge verliehen hatten. Dies sind sicherlich Sprachformeln einer vergangenen Wirklichkeit. Hingegen festigt sich nach den von Vinke vermittelten Einsichten in die persönlichen Lebenswelten jener Menschen die Überzeugung, daß die Kernaussagen solcher Würdigungen heute noch Bestand haben. Die von Sophie Scholl und ihren Freunden erkannten Maximen bestimmten ihren Lebensweg in beeindruckender, für einige gar tödlicher Konsequenz. Nicht als "Helden" oder "Heilige" mögen sie von heutigen Generationen wahrgenommen werden, wohl jedoch als Vorbilder in einem Gemeinwesen, das dem Grundwert der Menschenwürde verpflichtet ist. Auch Fritz Hartnagel hat seinen als richtig und notwendig erkannten Weg gefunden. Er ging ihn eher unauffällig und nüchtern, doch folgerichtig und unbeirrt. Vinkes bewegendes Porträt hat auch den Freund von Sophie Scholl zum Vorbild gemacht.
JOSEF HENKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Widerstandskämpferin Sophie Scholl und ihr Freund Fritz Hartnagel
Hermann Vinke: Fritz Hartnagel. Der Freund von Sophie Scholl. Arche Verlag, Hamburg 2005. 276 Seiten, 19,90 [Euro].
Vor 25 Jahren hat Hermann Vinke "Das kurze Leben der Sophie Scholl" beschrieben. Das mehrfach ausgezeichnete Buch richtete sich vorwiegend an junge Leser. Dessen verständliche und unpathetische Erzählweise begegnet nun auch in dem neuen, wiederum überaus einfühlsamen Porträt, das Sophie Scholls Freund Fritz Hartnagel gewidmet ist. Wieder zeichnet den Autor eine behutsame Empfindsamkeit beim Umgang mit den Quellen aus, die ihm dafür anvertraut wurden: damals Sophie Scholls Briefe und Aufzeichnungen, nunmehr in erster Linie Fritz Hartnagels Schriftwechsel mit Sophie und deren Familie, insbesondere mit Elisabeth Scholl, seiner späteren Frau. Hinzu kommen Aufzeichnungen über Gespräche des Autors mit Fritz und Elisabeth Hartnagel. Die Korrespondenz zwischen Sophie Scholl und Fritz Hartnagel soll im Herbst 2005 als Edition vorliegen.
Eindrucksvoll gelingt die sorgsame, möglichst viele Dimensionen zwischenmenschlicher Bereiche anleuchtende Nachzeichnung vor allem der Beziehungen zwischen Fritz Hartnagel und Sophie Scholl. Sie begegnen einander zuerst im Winter 1937. Sie, geboren 1921, ist Oberschülerin, er, geboren 1917, angehender Offizier der Wehrmacht. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, aus der eine "schwierige Liebe" erwächst. Konflikte entzünden sich zunehmend an abweichenden Vorstellungen von den beiderseitigen Lebenszielen und Weltbildern, schließlich an tiefer gehenden Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der grundsätzlichen Haltung zum herrschenden nationalsozialistischen Regime. Hartnagel zweifelt nicht an seiner Offizierspflicht, seinem Land und Volk - unabhängig von der jeweiligen Regierungsform - auch im Krieg treu zu dienen.
Sophie Scholl hat aufgrund ihrer den Prinzipien eines wahren Christseins verpflichteten sittlichen Lebenshaltung den Weg zum entschiedenen Widerstand gegen das Regime der Barbarei und Unmenschlichkeit gefunden. Schon am 5. September 1939 schreibt sie ihm: "Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland." Fritz verweigert zunächst eine Antwort, beginnt aber bald im Sinne Sophies umzudenken. Seine Umkehr vollzieht sich unter dem Eindruck des Kriegsverlaufs und der dabei im Osten verübten Grausamkeiten und Massenmorde. Sophie verwendet die Informationen von Fritz für die Flugblätter der "Weißen Rose", über deren Aktionen sie ihren Freund nicht informiert. Unmittelbar nach der Rettung aus dem Kessel von Stalingrad erfährt Fritz von der Festnahme und Hinrichtung Sophies und ihres Bruders Hans sowie ihrer Gefährten. In seiner Haltung als nun überzeugter und konsequenter Gegner des Regimes und des Krieges weiß er sich fortan dem Vermächtnis der Ermordeten verpflichtet.
Hartnagels Sorge gilt der Familie Scholl, gegen die Sippenhaft verhängt wird und deren Existenzgrundlagen gefährdet sind. Seinen Dienst in der Wehrmacht versieht er im Bewußtsein, daß nur die vollständige Niederlage Deutschland eine lebenswerte Zukunft sichert. Auf sinnlose Durchhalteparolen antwortet er, wenn sich die Möglichkeit bietet, mit Wandparolen und Spruchbändern. Nur knapp entkommt er kurz vor Kriegsende einem Erschießungskommando. Schon Ende 1944 haben Fritz Hartnagel und Sophies Schwester Elisabeth geheiratet. Zwischen ihnen hatte sich nach Sophies Tod eine "selbstverständliche Nähe" ergeben. Ihre Liebe empfinden beide als wunderbare Fortsetzung der Liebe zu Sophie. Nach dem Krieg wird Hartnagel Jurist und bekleidet Richterämter in Ulm und Stuttgart. Er schließt sich der SPD an, bekennt sich als konsequenter Gegner von Adenauers Politik der Westbindung und Wiederbewaffnung und engagiert sich aktiv in der Friedensbewegung. Er stirbt 2001.
Fritz Hartnagels Hoffnungen, daß sich nach dem Ende des Nationalsozialismus der "Geist der Weißen Rose" im Neuanfang des politischen, gesellschaftlichen und geistigen Lebens rasch durchsetzen werde, haben sich freilich nicht erfüllt. Bedeutsamer als die politische Wirksamkeit erscheint ohnehin die rein persönliche Überzeugungskraft des geistigen Erbes der "Weißen Rose", so wie er es 1947 formuliert hat: "Sie suchten mit allen Fasern ihres Herzens nach einem neuen Menschenbild, nicht um es dann abstrakt in ihrem Geist zu besitzen, sondern um es zu leben. Es ist ein neuer Humanismus, den sie verkörpern. Sie handelten nicht aus Menschlichkeit, sondern ihr Leben war Menschlichkeit."
Berührt legt der Leser das Buch aus der Hand und erinnert sich der frühen Werturteile von Thomas Mann, Ricarda Huch und Theodor Heuss, die den "braven, herrlichen jungen Leuten" der "Weißen Rose" in ihrer "Reinheit der Gesinnung" heroenhafte Züge verliehen hatten. Dies sind sicherlich Sprachformeln einer vergangenen Wirklichkeit. Hingegen festigt sich nach den von Vinke vermittelten Einsichten in die persönlichen Lebenswelten jener Menschen die Überzeugung, daß die Kernaussagen solcher Würdigungen heute noch Bestand haben. Die von Sophie Scholl und ihren Freunden erkannten Maximen bestimmten ihren Lebensweg in beeindruckender, für einige gar tödlicher Konsequenz. Nicht als "Helden" oder "Heilige" mögen sie von heutigen Generationen wahrgenommen werden, wohl jedoch als Vorbilder in einem Gemeinwesen, das dem Grundwert der Menschenwürde verpflichtet ist. Auch Fritz Hartnagel hat seinen als richtig und notwendig erkannten Weg gefunden. Er ging ihn eher unauffällig und nüchtern, doch folgerichtig und unbeirrt. Vinkes bewegendes Porträt hat auch den Freund von Sophie Scholl zum Vorbild gemacht.
JOSEF HENKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "überaus einfühlsames Porträt" lobt Rezensent Josef Henke dieses Buch von Hermann Vinke über Fritz Hartnagel, den Freund der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Wie schon sein vor 25 Jahren erschienenes Buch über Sophie Scholl zeichnet es sich zur Freude Henkes durch eine "verständliche und unpathetische Erzählweise" und eine "behutsame Empfindsamkeit" beim Umgang mit den anvertrauten Quellen, insbesondere Fritz Hartnagels Schriftwechsel mit Sophie und deren Familie, aus. "Eindrucksvoll" findet Henke die Darstellung vor allem der Beziehungen zwischen Fritz Hartnagel und Sophie Scholl, die viele Dimensionen zwischenmenschlicher Bereiche nachzeichnet. Ausführlich berichtet Henke über deren Beziehung und hebt hervor, dass sich der Wehrmachtsoffizier Hartnagel unter dem Einfluss Scholls zum überzeugten und konsequenten Gegner des Nazi-Regimes wandelte. "Vinkes bewegendes Porträt", resümiert der Rezensent, "hat auch den Freund von Sophie Scholl zum Vorbild gemacht".
© Perlentaucher Medien GmbH
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