Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • Gewicht: 90g
  • ISBN-13: 9783596259052
  • Artikelnr.: 24194791
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016

Wanderer, kommst du nach Frohburg

Tausend Seiten und kein bisschen zu lang: Was Guntram Vespers Roman zur Geschichte seiner Familie so virtuos macht, zeigt sich beim Besuch des Autors und am Ort des Geschehens.

Von Andreas Platthaus

Guntram Vesper wird in diesem Jahr 75 Jahre alt, und in diesem Jahr ist auch sein erster Roman erschienen. Als ob das späte Debüt - natürlich nur als Romancier, denn Vespers Publikationsliste seit seinem ersten Lyrikband, "Fahrplan" von 1964, ist umfangreich - gerechtfertigt werden müsste, ist das Buch mehr als tausend Seiten dick geworden. Aber es ist ja auch das Resultat einer Materialsammlung, die so lange währt, wie Vespers Leben dauert. "Frohburg" heißt der Roman, nach dem Namen der sächsischen Kleinstadt, knapp vierzig Kilometer südlich von Leipzig, in der Guntram Vesper 1941 zur Welt kam. Gemeinsam mit den Eltern und einem jüngeren Bruder verließ er sie 1957, die Familie zog in die Bundesrepublik. Doch richtig verlassen hat Vesper Frohburg nie: "Nähe, zeitlich, räumlich, in Gedanken, ein Leben lang", heißt es einmal im Roman mit Blick auf die Stadt. Und ein anderes Mal: "Sie lieferte im rein guten, so es das gibt, und im weniger guten die Meßlatte, die Richtschnur und, im heutigen Sprachgebrauch, die Grundkonfiguration."

Ursache dafür ist, dass Vesper in Frohburg erfuhr, was Erzählen bedeutet. "Jeden Sonntag, jahrzehntelang, traf sich die Familie im Haus der Großeltern. Es gab endlose Gespräche, die Zeiten griffen tief in das Leben des einzelnen und aller ein." Das schrieb er 1985, in einem Artikel für die "Süddeutsche Zeitung", gerade war wieder einmal ein neuer Gedichtband erschienen, und der trug bereits den Namen "Frohburg". Seinem Klappentext kann man entnehmen, dass sich diese Gedichte "auf eine umfangreiche Sammlung von Notizen, Erinnerungen und Aufzeichnungen" stützten, an der Vesper seit Jahren arbeite. In seinem Arbeitszimmer in Göttingen - Vesper kam 1963 hierhin, um Medizin zu studieren, und blieb auch da, als er sich für den Schriftstellerberuf entschied - liegen fein säuberlich im Regal gestapelt zahllose dunkle Mappen. Das ist der Grundstock für den Roman "Frohburg". Da die Ausreise 1957 illegal erfolgte, konnte die Familie kaum etwas mitnehmen. Nur die Erinnerungen blieben. Vesper ergänzte sie im Laufe der Jahre durch eine umfangreiche Dokumentation.

Im Lyrikband "Frohburg" fand sein Heimweh, das nicht an den konkreten Ort, sondern an dessen Erinnerung geknüpft ist, 1985 zum ersten Mal Ausdruck, und es ist verblüffend, wie ähnlich dessen Titelgedicht den Selbstaussagen des mehr als dreißig Jahre später erschienenen Romans ist: "Auf dem Weg in die Schule / durch Thälmannstraße / Schlossergasse, Hintergraben / dem fernen Dröhnen aller / Aufmärsche und Umzüge nach / sah ich die Stadt / wie mich selber / halb ja und halb / nein." Zwischen den beiden "Frohburg"-Büchern lag 1992 die Publikation von Vespers Prosasammlung "Lichtversuche Dunkelkammer", in der er festhielt, warum er von Frohburg nie lassen würde: "Die Jahre der Kindheit in Sachsen bestehen im Rückblick aus Stimmungen und Einfärbungen, die sich als Filter vor die Welt, wie lang oder weit sie auch war, gelegt haben. Aus diesem Kindheitsgefühl treten bis heute einzelne Erfahrungen und Erlebnisse hervor, die so tief gingen oder von so merkwürdigen Umständen begleitet waren, daß sie nicht überlagert wurden im Laufe der Jahre und zerfielen." Im Roman nennt Vesper diese Filterwirkung den "Frohburgimpuls".

Kein Wunder, dass er als denjenigen Autor, den man gar nicht genug lesen könne, Marcel Proust nennt. Wobei Vesper ein anderes Erinnerungsmodell hat: das der mémoire volontaire, einer gewollten Erinnerung. "Etwas in mir klingt an, merke ich", steht im Roman über einen 2013 durchgeführten Besuch in Ahrenshoop, wo Guntram Vesper 1955 Urlaub gemacht hatte und fotografiert worden war, "aber ganz sicher bin ich nicht, freue mich aber schon auf den spannenden Moment, in dem ich zuhause das bei Antritt der Reise liegengebliebene Foto, ich auf dem Altan, hervorsuche und mit der Aufnahme vergleiche, die Heidrun jetzt macht." Nicht Unmittelbarkeit, sondern Überprüfbarkeit ist ihm wichtig. Deshalb seine gewaltige Materialsammlung.

Unten, im Wohnzimmer, steht Vespers Bibliothek. Vor den Regalen steht auf zwei Tabletts eine Kollektion von bemalten Holzhäuschen aus dem Erzgebirge. "Das ist eine Sammelleidenschaft der letzten Jahre", sagt Vesper. Hier hat er in Göttingen die eigene Heimat im Miniaturformat vor sich. Sein Roman wird sie nun als Maximalformat in andere Bibliotheken bringen.

Vesper dürfte der einzige Autor sein, der zweien seiner Bücher denselben Namen gegeben hat. "Ursprünglich", sagt er, "sollte der Roman ,Tieflandsbucht' heißen, nach der Leipziger Tieflandsbucht, an deren südlichem Rand Frohburg liegt. Aber als immer mehr im Erzgebirge spielte, ging das nicht mehr. Ich besprach mich mit meinem Verleger, und er meinte, dass ,Frohburg' ohnehin der bessere Titel sei. Nur mussten wir erst die Rechte daran zurückkaufen, doch das erwies sich als leicht, es gab kein Interesse mehr an dem alten Buch." Der Verleger von "Frohburg" ist Klaus Schöffling, der Anfang der neunziger Jahre bereits in einem anderen Verlagshaus mit Vesper zusammenarbeitete, aber erst im Sommer 2015 von dem gewaltigen Romanmanuskript erfuhr. "Er wollte es bereits in diesem Frühjahr herausbringen, und das war gut so, denn wer weiß, ob ich es sonst je abgeschlossen hätte."

Mit seinem Roman "Frohburg" wird Vesper mehr Aufmerksamkeit finden als jemals zuvor. Das Buch ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und bietet genau jene Form von Lektüre, die immer wieder ein großes Publikum gefunden hat: ein ausschweifendes, aber durch die autobiographische Grundierung im höchsten Maße anschauliches Erzählen, das den Mikrokosmos einer Familie entfaltet, in deren Schicksal sich die Zeitgeschichte spiegelt. Das berühmteste Beispiel überhaupt ist selbstverständlich "Buddenbrooks", das bekannteste jüngere ist Uwe Tellkamps "Der Turm".

Vespers Roman ist formal anders gebaut als diese beiden, unzugänglicher auf den ersten Blick, eigenwilliger. Es gibt etwa keine Fragezeichen im Buch, auch keine Anführungszeichen. Vesper will es seinen Lesern nicht bequem machen, und nach einer zehnseitigen Sammlung kleiner Impressionen zum Auftakt folgen dann nur noch lange, teilweise über Dutzende von Seiten gehende und ohne jeden Absatz gedruckte Abschnitte, wie wir sie in der deutschen Literatur nur aus Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstandes" kennen. Vorbild war die für Vesper dabei nicht, obwohl die drei Bände im Regal stehen: "Ein bewundertes Buch, aber nie gelesen." Es wäre dem eigenen Plan wohl zu nahe gewesen. "Doch ,Der Schatten des Körpers des Kutschers' und ,Abschied von den Eltern' waren ganz wichtige Bücher für mich." Bei Weiss hat Vesper die Kunst der autobiographischen Mimesis gelernt.

In "Frohburg" tragen außer den engsten Familienmitgliedern und Personen der Zeitgeschichte alle Figuren abgewandelte Namen, obwohl Vesper keinen Hehl daraus macht, dass dieser Roman nur das erzählt, was auch wirklich geschehen ist. Das merkt man dem Buch auch an - gerade weil etliches darin unglaublich wirkt. Keine Phantasie kommt an die Flucht von fünf Tschechen durch die DDR der fünfziger Jahre heran, in deren Verlauf sie sich wilde Schießereien mit der Polizei liefern - Wildwest im nahen Osten. Oder die nie aufgeklärten Morde an Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bei denen den Opfern die Augen ausgestochen wurden. Vesper hat eine sinistre Faszination fürs Verbrechen, die er nach eigener Auskunft von seinem Vater, einem Landarzt, geerbt hat. Was der ihm an Geschehnissen aus seinem sächsischen Wirkungskreis erzählt hatte, ergänzte der Sohn dann um weitere Fälle, deren Hergang er teilweise erst nach der Wiedervereinigung recherchieren konnte. So ist Vesper heute immer noch auf der Suche nach Akten zu einem von den Behörden sogenannten "Agentenmord" an einem Volkspolizisten im Jahr 1954. Schauplatz dieses Verbrechens war ein Ort, der kürzlich traurige Berühmtheit erlangt hat: Clausnitz.

Vesper ist tieftraurig, dass er diesen Fall nicht mehr in den Roman aufnehmen konnte. Perfekt hätte er hineingepasst, denn es sind gerade die zufälligen Verbindungen einer individuellen Existenz mit der Zeitgeschichte, die im Mittelpunkt seines Erzählens stehen. "Frohburg" ist ein Füllhorn an Geschichten, trotz seines Umfangs atemlos aneinandergereiht, teilweise dreifach ineinander verschachtelt, wenn der Ich-Erzähler seinen Vater erzählen lässt, wie ihm ein Bekannter etwas erzählt habe, und dies dann abermals in Ich-Erzählform zu Gehör bringt. Bisweilen pfeift der Erzähler sich selbst zurück: "Was redest du denn da. Ja ist doch so. Aber was geht das andere an. Lenk mich nicht ab, ich will auf Lackners zurückkommen." Man muss hellwach sein über die Dauer von tausend Seiten hinweg, um die Perspektivbrüche nachzuvollziehen: Dann jedoch entfaltet sich der Roman als ein großes Stimmkonzert, das einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren abdeckt.

Wobei das Zentrum stets jenes Frohburg der Jahre 1941 bis 1957 bleibt, in dem Guntram Vesper direkt am Marktplatz aufwuchs. Pars pro Toto steht es, für alle Welt: "Wenn du mal nach Frohburg kommst", heißt es im Buch, "und auf dem Kellerberg, in Höhe des Hauses meiner Eltern, von der Bundesstraße 95 nach links abbiegst, kannst du nach den beiden Brücken anhalten, aus dem Auto klettern und die Lage peilen. Du wirst kaum Leute sehen, keine Passanten, ein Gesicht hinter Gardinen vielleicht, nur ein paar Autos kommen vorbei, aber laß dich nicht täuschen, du bist, wie beinahe immer, wenn nicht auf historischem, so doch auf biographischem Gelände." Und ja, wenn man heute in die Kleinstadt fährt, glaubt man sich ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt, so still ist es hier. Der größte Arbeitgeber, eine Textildruckerei, die gleich unterhalb vom Markt ihr Werksgelände hatte und für einen ständigen Strom von Passanten durch den Ortskern sorgte, musste 1992 schließen, die Fabrikgebäude wurden abgerissen - "Revitalisierung" nennt das eine städtische Gedenktafel für die Textildruckerei. "Wenn ich heute nach Frohburg komme", sagt Vesper, "kann ich über die leere Fläche des ehemaligen Werksgeländes hinweg vom Markt aus beinahe mein Geburtshaus sehen", und er klingt enttäuscht. Die Kindheitserinnerung will keine Veränderungen.

Deshalb müsste ihm die Auslage des Lebensmittelmarkts Fischer direkt neben jenem Haus am Markt, in dem er dann mit seiner Familie lebte, gefallen: Es ist wie ein Tribut an Guntram Vesper dekoriert, mit allerlei nostalgischen Produkten wie Kathi-Backmischungen oder Zutaten für "altdeutschen Birnengrießkuchen". Im Zentrum der Auslage liegt ein aufgeschlagenes Kochbuch in Fraktur, das Pastetenrezepte enthält. Man könnte glauben, der Marktplatz von Frohburg wäre schon vorbereitet auf den künftigen Besuch des Verfassers und vor allem der Leser von "Frohburg", doch Vesper bezweifelt, dass irgendjemand in seiner Heimatstadt vorab bemerkt hat, dass der Roman erscheint. Nur einmal ist er als Schriftsteller hier aufgetreten, gleich 1990, und er erinnert sich an das seltsame Gefühl, von den alten Kulturkadern begrüßt zu werden. Seitdem waren alle seine Besuche in Frohburg privat. "Aber wenn ich jetzt noch einmal zum Lesen dorthin eingeladen würde, dann bitte ins Schützenhaus, den Ort, wo ich meinen letzten Schwof vor der Ausreise in die Bundesrepublik erlebt habe."

Dieser Tanzabend wird spät im Roman zu einer zentralen Szene, in der der junge Guntram die ersten Verlockungen der Liebe erfährt. Chronologisch läuft die "Frohburg"-Handlung nicht ab, das Buch liest sich wie ein pulsierender Strang jener Stoffe, die sich anlässlich der Erzählabende bei den Großeltern durch assoziative Verknüpfungen entwickelten. Aber "Frohburg" ist extrem genau gebaut, es gibt einen festen Rhythmus der Erzählebenen, der nach eher gegenwärtigen Handlungsteilen - Vespers Reminiszenzen ans eigene Leben gehen ja weit über die ersten sechzehn Jahre hinaus - wieder nach Frohburg zurück- und mit den Erlebnissen anderer Familienmitglieder weiter ins Erzgebirge führt. Und immer wieder auch Ausflüge in die allgemeine Literatur- oder Regionalgeschichte unternimmt, etwa wenn Vesper mehrfach den Balladendichter Börries Freiherr von Münchhausen aus dem nahe Frohburg gelegenen Windischleuba auftreten lässt, der sich 1945 angesichts der nahenden Kriegsniederlage umgebracht hat, oder in einer faszinierenden Abschweifung die religiösen Erweckungsbewegungen im ländlichen Sachsen der Zwischenkriegszeit zum Thema macht: "Jedes zweite, dritte Haus war das, was sie dort oben ein Bethanien nennen, eine Betstube."

Vesper zeigt in seinem Göttinger Heim auf einen Stoß von etwa siebzig mit enger Handschrift bedeckten A4-Bögen: "Das sind meine Arbeitsblätter, anhand deren ich den Überblick während sechs Jahre Schreibarbeit am Roman behalten konnte." Auf dem letzten Blatt steht in Rotstift und zusätzlich umrandet der Fontane-Satz, der nun tatsächlich zum Motto des Buchs geworden ist: "Für etwaige Zweifler also sei es Roman!" Zweifel gibt es nicht an "Frohburg". Es ist das gewichtigste Buch dieser Tage. In jeder Hinsicht.

Guntram Vesper: "Frohburg". Roman.

Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 1002 S., geb., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2016

Telefunken,
Engelwurz
Ein großes Lebens- und Zeitpanorama:
Guntram Vespers „Frohburg“
VON HELMUT BÖTTIGER
Bücher mit 1000 Seiten sind keine Seltenheit mehr, doch dies hier hat nichts mit den üblichen Textmassen zu tun, die mittels digitaler Techniken anschwellen. Guntram Vespers „Frohburg“ stellt sich ganz anderen Vergleichen. Als Maßstab kommen nur einige länger zurückliegende Unterfangen in Betracht, Zeit- und Gesellschaftsromane mit epochalem Anspruch, etwa Uwe Johnsons „Jahrestage“. Es geht um ein Lebenswerk, um etwas, das einen langen Atem braucht und zu einer Exkursion aufbricht, deren Ziel unbestimmt ist und auf jeden Fall waghalsig.
  Vielleicht ist es aber auch charakteristisch, dass der Beginn den langen Atem gleich zu negieren scheint: „Möbel. Zimmerwände. Tür.“ Es fängt ganz klein an, es wird benannt und konstatiert, ein langsames Sich-Vortasten in die Erinnerung und die verschwundene Geschichte. Von der Wohnung geht es über das Haus und die Straße hin zu den Umrissen Frohburgs, einer Stadt mit ungefähr 5000 Einwohnern südlich von Leipzig, mit 15 Straßen und 500 Häusern. Sie wird minutiös eingebettet in die umgebende Landschaft, die mit vielen Wäldern markierte Grenze zwischen der sächsischen Braunkohle-Ebene und den Vorstufen des Erzgebirges, und diese Grenze ist auch eine zwischen Realität und Fiktion. Guntram Vesper verbrachte hier die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie 1957 über Berlin nach Westdeutschland floh.
  Das Buch hat viele Aspekte einer Autobiografie, ohne eine Autobiografie zu sein. Denn neben dem Ich, das hier schreibt und sich beim Schreiben auch immer wieder zuschaut, tritt jene magische Konfiguration „Frohburg“ in den Mittelpunkt und verselbständigt und verästelt sich. Augenzwinkernd zitiert Vesper in seinem Motto Fontane: „Für etwaige Zweifler also sei es Roman!“ Der zeitgenössische Roman ist die Form, die alles in sich aufsaugen kann, Tagebuch, Essay, Analyse und schwadronierendes Erzählen gleichermaßen. Die Fiktion ist nicht mehr Bedingung. Spannend ist aber jedes Mal der Moment, in dem sich das Ganze unmerklich doch ins Fiktive hinüberbewegt.
  „Frohburg“ wird zu einem Signum für Heimatlosigkeit und zum Fluchtpunkt der Literatur. Der Fluss Wyhra erscheint, die Tümpel und Milchwiesen, das Geburtshaus in der Greifenhainer Straße mit der Tierarztpraxis des Großvaters, der Marktplatz mit seinen Häusern und Läden – die Topografie ist die Grundlage für den Schreibvorgang. Immer wieder geraten neue Nebenfiguren und Seiteneingänge in den Blick. Die 1000 Druckseiten dieses Buches bilden ein Kontinuum, einen einzigen Bewusstseinsstrom. Obwohl sie nicht in einzelne Kapitel aufgeteilt sind, gibt es immer wieder Stromschnellen, die etwas Neues ankündigen, der Erzählfluss lebt von einzelnen Assoziationsknäueln. Der Autor Guntram Vesper verbindet seine Gegenwart mit derjenigen der Eltern- und Großelterngeneration durch konkrete Motive. Hier verläuft die Zeit nicht linear.
  Einmal referiert Vesper die unerhörte Racheaktion der sowjetischen Besatzer im Dorf Küllstedt, direkt nach dem Krieg: 36 Verhaftungen und 7 Todesurteile, nur weil die Bauern ein paar Diebe verprügelten, die sie für polnische Fremdarbeiter hielten. Doch leider waren es russische Offiziere. Die Todesurteile wurden sofort an der Friedhofsmauer vollstreckt, tausend Anwohner mussten zuschauen. Am Abend lief dafür im Dorfkino ein Musikfilm, in dem Will Quadflieg auftrat, und dieser Akteur löst in Guntram Vesper selbst etwas aus. 1958, ein Jahr nach der Flucht aus Frohburg, lässt er sich von seinen Eltern eine Schallplatte aus der Reihe „Wort und Stimmen“ von Telefunken zu Weihnachten schenken: Will Quadflieg liest Rainer Maria Rilke. Anlass dafür ist der schwarzrot gestreifte Kofferplattenspieler von Quelle, den der junge Vesper sich gerade zugelegt hat, und das lässt wiederum die Zeit als Internatsschüler in Friedberg wiederaufleben: Im Burggarten auf der Freilichtbühne rezitierte er im Stile Quadfliegs Rilke, und auf einem entlegenen Bänkchen jenes Gartens, das er regelmäßig aufsuchte, traf er einmal unversehens seine zukünftige Frau Heidrun an.
  Im Sommer 2012 stößt Vesper plötzlich wieder auf den längst vergessenen Kofferplattenspieler. Sein Bruder ist gestorben, und beim Aufräumen in dessen Wohnung findet er viele vergessene Gegenstände, die etliche Momente der Familiengeschichte evozieren. Zum Schluss gräbt er unter verschimmelnden Bücherschichten auch den alten Plattenspieler wieder aus.
  Dieser rhizomartigen Struktur folgt alles, was in und um „Frohburg“ herum passiert. Es gibt dichtere und weniger dichte Passagen, aber oft entsteht ein starker Sog. Obwohl der größte Teil recht lange zurückliegende Zeiten heraufbeschwört, ist dies beileibe kein „historischer Roman“ – dazu ist der Erzähler zu sehr involviert. Am stärksten tritt er mit seiner bibliophilen Obsession in Erscheinung. Antiquariate sind für ihn offenkundig Pilgerstätten, speziellen Ausgaben wird mit großem Aufwand nachgeforscht, der sächsische Weltdarsteller Karl May spielt dabei die Rolle eines Leitmotivs. Die Widersprüchlichkeit dieser Person ragt im Partikelgestöber des „Frohburg“-Textes heraus, und nicht von ungefähr fungiert May als ein „Plauderer, den ein Satz in den anderen riss, ein Thema in das andere stürzte“.
  Auch in „Frohburg“ bergen einzelne Handlungsstränge ganze Romane in sich. Das nahe Erzgebirge, mit seinen Wunderheilern und seiner Trance zwischen Engelwurz und Vollmondnächten, löst prägnante Bilder und Sprachschübe aus. Der romantische Ausflug von Vater und Mutter 1937 in die grenznahe „Dreckschänke“ auf der tschechischen Seite gehört zu den schönsten Passagen des Romans. Es ist aber kein Zufall, dass sie dunkel grundiert wird von dem Volkssänger Anton Günther, dem sie gebannt zuhören – drei Tage später bringt er sich um und verkörpert die bevorstehende historische Katastrophe.
  Einmal kommt es programmatisch zu einer „Nacht der großen Erzählung“. Anfang der Fünfzigerjahre sitzen Vespers Vater und der Korbmacher Schlingeschön aus dem Dachgeschoss zusammen und erzählen sich ihre Geschichten. Dabei verschränken sich vielfach die Zeiten: Schlingeschön ruft die Dreißiger- und Vierzigerjahre wach, als auf den unwegsamen Gebirgspfaden Kommunisten nach Tschechien flohen und illegal wieder einsickerten, während Wolfram Vesper, der Arzt, seine Erfahrungen in den frühen Jahren der DDR beschreibt.
  Undurchsichtige Figuren wie „Wehefritz“, deren Rolle zwischen Untergrundaktivität, Geisterbeschwörung und Hexenmeisterei wechselt, sind ebenso suggestiv wie die Szene, in der die frühen Leipziger Professoren Ernst Bloch und Hans Mayer im Antiquariat um die Protokolle der Moskauer Schauprozesse konkurrieren. Manche Geschichten haben den Charakter einer Parabel, manche die eines Bauernschwanks. Derart farbenreich ist das deutsche Milieu im Laufe der Jahrzehnte selten dargestellt worden, zumal in dieser offenen Form. „Das Feld konnte wegen der unendlichen Verästelungen, Verzweigungen und Verflechtungen, der vielen Verdeckungen und Verschüttungen nicht größer sein“, heißt es einmal bei Thüringer Mett mit Ei und Zwiebeln, wenn die charismatische rothaarige Jutta zum Thema wird.
  Es geht immer weiter. Kreuzottern bilden einen Motivkomplex, untergründig werden Netze ausgelegt, in denen Sexualität und Schlangen zusammenkommen, und ein typischer DDR-Urlaub mit FKK und Zelt-Derbheit am Darß bekommt ein schwüles, dumpfes Eigenleben. Guntram Vesper erweist selbstverständlich Uwe Johnson und Peter Weiss seine Referenz, ein signiertes Exemplar von Günter Eich zieht unabsehbare Kreise, und Walter Kempowski geht reichlich geknickt am Bühnenrand ab. Erich Loest indes bekommt über Dutzende Seiten hinweg, im Gespräch mit zwei linientreuen Frohburger Funktionären anlässlich seines Debüts „Die Westmark fällt weiter“, einen grandiosen Auftritt. Die Zeit wird zu einem Prisma, sie wird kristallin. Während dem sinnlichen, prallen Erzählen gehuldigt wird und ein deftiger Realismus fein ziselierten Gedankenmustern die Waage hält, ist der Hauptdarsteller in diesem Roman unverkennbar die Literatur selbst. Das Codewort dafür, das gelegentlich eingestreut wird, heißt „Zimelien“. Frohburg gehört jetzt endgültig dazu.  
Guntram Vesper: Frohburg. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2016. 1008 Seiten, 34 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Begleitend zum Roman ist ein Materialienband als Gratis-E-Book erschienen.
Im Stile Will Quadfliegs zitiert
der Internatsschüler Gedichte
von Rainer Maria Rilke
Der Hauptdarsteller ist in
diesem Roman unzweifelhaft
die Literatur selbst
    
  
  
Guntram Vesper, geboren 1941 im sächsischen Frohburg, kam 1957
aus der DDR in die Bundesrepublik und lebt heute in Göttingen.
Foto: dpa
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»Als Frohburg den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, war es, als würde ein Vorhang aufgerissen: die (Wieder-) Entdeckung eines großen deutschen Autors.« Claus-Jürgen Göpfert / Frankfurter Rundschau

»Guntram Vespers Roman Frohburg gehört zu den Büchern, bei denen man leicht, ganz schnell, auf die großen Begriffe kommt. Opus magnum. Mammutwerk. Solche Wendungen.« Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik

»Autobiographische Familienstränge gehen immer unmittelbar über in gesellschaftliche Stränge, also ich und Gesellschaft in ganz konkreter Form werden zusammengebunden. (...) Spektakulär, wie er das schafft.« Helmut Böttiger / swr 2

»Frohburg, kein Zweifel, müssen Sie lesen!« Philipp Rimmele / ZDF aspekte

»Das gewichtigste Buch dieser Tage. In jeder Hinsicht.« Andreas Platthaus / FAZ

»(...) Ein raffiniertes, dabei wildwucherndes und nicht immer kontrollierbares Flechtwerk. (...) So farbenreich ist das deutsche Milieu im Lauf der Jahrzehnte selten dargestellt worden.« Helmut Böttiger / Deutschlandfunk, Buch der Woche

»Ein durch Jahrzehnte tragendes Lebensbuch.« Dirk Knipphals / taz

»Ein überbordendes Gesellschaftspanorama, betörendes Textgewebe aus Familien-, Kultur- und Zeitgeschichte, aus Anekdoten, Lebensläufen, Lektüreerfahrungen, Jugenderinnerungen - also ein Kaleidoskop, das man zu immer neuen Bildern rüttelt.« Cornelia Zetzsche / Bayern2

»Guntram Vesper hat einen Ort auf die deutsche literarische Landkarte eingeschrieben, wie es in dieser Wucht wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht geschah.« Marc Reichwein / Die literarische Welt

»Vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt dieser Erzähler, reiht Abschweifung an Exkurs, betreibt Kollegenschelte und Vorbilderlob, flicht historische Lektionen und Plaudereien aus seiner Göttinger Gegenwart ein.« Thomas Schaefer / konkret

»Guntram Vesper hat ein Buch über Deutschland geschrieben und darüber, wie aus uns allen das wurde, was wir sind.« Christoph Schröder / Journal Frankfurt

»Dieses riesengroße Buch eines Lebens und eines Jahrhunderts ist keine Autobiographie. Es ist ein gewaltiger Erkundungs- und Enträtselungsversuch.« Niels Beintker / bayern 2 Diwan

»Guntram Vesper schildert auf mehr als 1.000 Seiten deutsche Geschichte am Beispiel einer Gemeinschaft.« Florian Balke / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

»Hier hat jemand etwas geschaffen, das dem Gedächtnis der deutschen Literatur nicht verloren geht.« Thomas Schaefer / die horen

»Ein monumentaler Deutschlandroman.« DIE WELT

»Geschichten, Erzählungen, Mythen, Erfahrungen sind ineinander verwoben (...), und am Ende entsteht: ein Lebenswerk.« Thomas Andre / Hamburger Abendblatt

»Eine Zwiebelstruktur, die an orientalische Erzähler erinnert.« Badische Zeitung

»Die Nachrichten aus dem heutigen Sachsen muten wie der unheilvolle Widerhall dessen an, was Vesper über diese Gegend zu erzählen weiß.« Wiebke Porombka / DIE ZEIT

»Guntram Vespers Roman liefert so etwas wie literarisches Wahrheitsserum gegen die politischen Illusionen des letzten Jahrhunderts.« Hans Hütt / Der Freitag

»Frohburg wird wohl bald Wallfahrtsort der Literatur.« Walter van Rossum / WDR3

»Wegen der vielfältigen Reflexionsebenen ähnelt dieses Buch streckenweise Robert Musils Meisterwurf Der Mann ohne Eigenschaften.« Ulf Heise / mdr Figaro

»Ein packendes Panorama dieser sächsischen Provinz.« Jan Ehlert / NDR Kultur

»Frohburg ist ein gewaltiges, beeindruckendes Werk.« Rainer Moritz / Deutschlandradio Kultur

»Frohburg ist eine ausführliche Zeitreise in die deutsch-deutsche Geschichte.« Eßlinger Zeitung

»Dieses Buch ist wie ein Kaleidoskop. Wenn man es dreht und wendet, tausend Geschichten, neue Facetten, Landschaften, Krieg, Vertreibung.« Ernst Grandits / 3sat Kulturzeit

»Der Text wuchert und mäandert auf eine fast organische Weise, nimmt nach kühnen Schleifen einen Faden wieder auf, den man schon verloren glaubte (...).« Thomas Schaefer / Osnabrücker Zeitung

»Das Codewort dafür, das gelegentlich eingestreut wird, heißt 'Zimelien'. Frohburg gehört jetzt endgültig dazu.« Helmut Böttiger / Süddeutsche Zeitung

»Guntram Vesper verwebt Provinz, Historie und Biografie.« Nadja Storz / ARD Tagesschau

»Das alles ist Frohburg. Eine Stadt, der Guntram Vesper in seinem sehr zu bewundernden Großwerk jetzt ein literarisches Denkmal gesetzt hat.« Rayk Wieland / ARD ttt - titel, thesen, temperamente

»Wer Sachsen verstehen will, der lese dieses Buch.« Richard Kämmerlings / DIE WELT

»Der neue Sachsenspiegel.« Richard Kämmerlings / Literarische Welt

»Frohburg ist keine Chronik, kein abschließendes Urteil. Es ist der Versuch einer Operation am atmenden Körper.« Ekkehard Schulreich / Leipziger Volkszeitung

»Vesper (...) hat die von ihm akribisch gesammelten (...) Erinnerungen an die Geschichtslandschaften seiner Kindheit und Jugend mit zahlreichem (...) Personal zu einem mitreißenden Bewusstseinsstrom ausufern lassen (...).« Sabine Vogel / Berliner Zeitung

»Dafür gab es den Preis der Leipziger Buchmesse 2016 (Belletristik) - und das vollkommen zu Recht, denn Vesper macht die Zeit in bildgewaltiger Weise wieder lebendig.« Heiko Buhr / Lebensart

»Frohburg ist ein erstaunliches, beeindruckendes und reiches Buch, verdientermaßen hat Guntram Vesper dafür 2016 den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen.« Gerrit Bartels / goethe.de

»Zu wünschen sind diesem 'Welt-Buch im Überschaubaren' (...) viele Leser, denn Frohburg feiert mit seinen 1000 Seiten geradezu unzeitgemäß auch das Erzählen und das Lesen.« Dr. Sibille Tröml / Angezettelt - Informationsblatt des sächsischen Literaturrates e.V.

»Frohburg ist ein ungemein reichhaltiger Roman, der den Leser, auch den, der sich eigentlich für reiseunwillig hält, in seinen Bann zieht.« Otto A. Böhmer / faustkultur.de

»Eine Erkenntnis schließlich, die dieses Buch so großartig macht: Noch die unbedeutendste Kleinstadt ist ein riesiger Geschichtenspeicher. Frohburg könnte überall sein.« Thomas Gärtner / Dresdner Neueste Nachrichten

»Vesper hat die 'unendlichen Verästelungen und Verzweigungen (...)' seines Erinnerungsstroms in jahrzehntelanger Durchdringung in eine Form gebracht, die das 20. Jahrhundert zum Dröhnen und Klingen bringt.« Thomas Hummitzsch / Tip Berlin

»Mit Frohburg legt Vesper die fulminante Quintessenz all seiner Reflektionen der eigenen Biografie im Spiegel der sächsischen Kleinstadt vor.« intellectures.de

»Hier wird Zeitgeschichte erlebbar.« Westfalenpost

»Frohburg ist ein lebhaft erzähltes, vor Erzähllust geradezu überquellendes Buch, das einen kaum innehalten lässt.« Beat Mazenauer / literaturkritik.de

»So war das, denkt man beim Lesen, fühlt sich an Uwe Johnson und Einar Schleef erinnert, irgendwie auch an Nabokov, diese Klasse hat das Buch.« George Weber / Stadtblatt Osnabrück

»Man spürt beim Lesen manchmal gar nicht, wie gleitend diese Sätze einen durch die Zeiten und Geschichten, Namen und Schauplätze tragen.« Gerhard Engelsberger / Pastoralblätter

»Ein freistehender riesiger Monolith, der noch über Generationen von Lesern ragen wird.« David Lemm / Saarbrücker Zeitung

»Eine Lust für jeden bibliophilen Menschen.« Bruno Rieb / Der neue Landbote

»Frohburg ist der Ausgangspunkt für Vespers Fabulierkunst. In zahllosen Geschichten, Anekdoten, biografischen Erinnerungen, in Abschweifungen und Reflexionen entfaltet der Autor ein großes Lebens- und Zeitpanorama.« mdr Kultur

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