Produktdetails
- Verlag: New York : St. Martin's Press
- ISBN-13: 9780312066055
- Artikelnr.: 24489635
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2000Der alte und der neue Bismarck
Nachkriegsgeschichte: Der deutsche Schäfer bestimmt das Tempo
W. R. Smyser: From Yalta to Berlin. The Cold War Struggle Over Germany. Macmillan, Houndmills u. a. 1999. XIX, 465 Seiten, 30,- Pfund.
Auch die neuere deutsche Geschichte kennt Zeiten relativer Ruhe und Stabilität. Zu ihnen zählt die Epoche des Kalten Krieges: Die von außen erzwungene Teilung des bis zu Oder und Neiße reduzierten Landes, die feste Einbindung beider Teilstaaten in die großen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Blöcke und die eingeschränkte äußere Souveränität Bonns und Ostberlins legten die Deutsche Frage für beinahe ein halbes Jahrhundert auf Eis. W. R. Smyser, von Beruf, so der Klappentext, "Deutschlandexperte", kennt die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit des Ost-West-Konflikts wie wenige.
An vielem, worüber Smyser berichtet, war er nach eigenen Angaben beteiligt, häufig als Beobachter, gelegentlich auch als Akteur. Schon vor der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 hatte er in Deutschland gelebt, nach Beendigung des Krieges zunächst dort in den amerikanischen Streitkräften Dienst getan, sich in den sechziger Jahren in Berlin aufgehalten und während der siebziger Jahre für die amerikanische Botschaft in Bonn gearbeitet. Auch publizistisch begleitete Smyser durch die Jahrzehnte den Werdegang der rheinischen Republik, unter anderem mit einem Buch über die deutsche Wirtschaft.
Smyser kennt sich also aus, übrigens auch in der Literatur, und es ist keine Übertreibung, wenn er davon spricht, daß "Tausende" von Monographien und Artikeln über die Themen seines Buches geschrieben worden sind. Um so überraschender seine Feststellung, wonach es keine Gesamtdarstellung der Geschichte des geteilten Deutschland gebe, schon gar keine, die der Sache auf den Grund gehe. Immerhin wird das Einschlägige dann doch im dichten Anmerkungsapparat umfassend und ausführlich zitiert.
Der eigene Anspruch ist erheblich. Smyser will "neue" Fakten und Analysen liefern, und er will "originelle" Antworten auf die Frage geben, inwieweit während des Kalten Krieges die Weichen für jene Entwicklungen gestellt worden sind, die wir heute erleben. Die Darstellung selbst ist grundsolide - nicht weniger, aber auch nicht mehr: Sie berührt alle wichtigen Bereiche, den politischen ebenso wie den militärischen, den wirtschaftlichen oder auch den publizistischen. Nicht zuletzt ist der Leser stets zuverlässig über die weltpolitischen Rahmenbedingungen der Deutschen Frage informiert. Anders die Interpretation des Ganzen. Smysers Sicht liegt ein unkompliziertes, von vertiefender Reflexion freies Weltbild zugrunde. Danach fing alles mit Bismarck an: "Erst band er die deutsche Einheit an die preußische Autokratie, und nachdem er maßgeblich daran mitgewirkt hatte, den deutschen Liberalen, Idealisten und Humanisten . . . eine Niederlage beizubringen, einigte Bismarck Deutschland unter den Hohenzollern. Das führte das Deutsche Reich von einer Katastrophe in die nächste, im Innern und nach außen, unter Leitung der ebenso großtuerischen wie kurzsichtigen herrschenden Klasse Preußens." So gesehen waren Hitler und die deutsche Katastrophe, ja selbst die Auseinandersetzungen der alliierten Sieger über Deutschland die zwangsläufigen Folgen der Ursünde des Otto von Bismarck.
Immerhin lohnte sich der alliierte Kampf um Deutschland: die Deutschen wurden gezähmt, besannen sich wieder auf die "demokratischen Wurzeln ihrer eigenen Geschichte", akzeptierten ihre Verluste und entschädigten die Opfer. So war es möglich, und jetzt dem Frieden in Europa und der Welt nicht mehr abträglich, daß ein "neuer Bismarck" erscheinen konnte: Helmut Kohl. Dieser Kanzler einigte Deutschland ohne den Einsatz von Gewalt gegen seine Nachbarn - als ob ein solcher Weg je erwogen worden wäre.
Dieses Mal, so die Botschaft des Buches, muß die Welt also vor einem vereinigten Deutschland nicht erzittern. Gewiß: Berlin ist das "geographische Zentrum Europas", und Deutschland wird einen starken Einfluß auf den Kontinent ausüben, doch werden "Berlin und Deutschland Europa nicht dominieren". Das brauchen sie auch gar nicht, weil sie ihren Einfluß auf andere Art und Weise ausüben können: "Deutschland wird neue Hochgeschwindigkeitszüge und Superautobahnen finanzieren, die Berlin mit Warschau, ja selbst mit Minsk, Kiew und Moskau, mit dem Baltikum und mit St. Petersburg verbinden werden."
Folgt man Smyser, so haben wir es jetzt mit der "dritten Deutschen Frage" zu tun. Die erste bezeichnet die Epochen äußerer Schwäche Deutschlands bis zu Bismarck und erneut während des Kalten Krieges. Die zweite stellte sich in der Zeit der Großmacht Deutsches Reich. Und jetzt also die dritte Deutsche Frage: Nicht mehr Objekt der Weltpolitik sei Deutschland heute, auch nicht mehr dominanter Akteur mit hegemonialen Ambitionen, sondern ein "Schäfer", der die Politik nicht selbst bestimmen, aber alle "im Tritt halten" wolle. Die deutsche Geschichte hat viele Interpretationen über sich ergehen lassen müssen. Ob die "Schäfer-Theorie" von W. R. Smyser zu den überlebensfähigen gehört, wird man sehen müssen.
GREGOR SCHÖLLGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachkriegsgeschichte: Der deutsche Schäfer bestimmt das Tempo
W. R. Smyser: From Yalta to Berlin. The Cold War Struggle Over Germany. Macmillan, Houndmills u. a. 1999. XIX, 465 Seiten, 30,- Pfund.
Auch die neuere deutsche Geschichte kennt Zeiten relativer Ruhe und Stabilität. Zu ihnen zählt die Epoche des Kalten Krieges: Die von außen erzwungene Teilung des bis zu Oder und Neiße reduzierten Landes, die feste Einbindung beider Teilstaaten in die großen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Blöcke und die eingeschränkte äußere Souveränität Bonns und Ostberlins legten die Deutsche Frage für beinahe ein halbes Jahrhundert auf Eis. W. R. Smyser, von Beruf, so der Klappentext, "Deutschlandexperte", kennt die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit des Ost-West-Konflikts wie wenige.
An vielem, worüber Smyser berichtet, war er nach eigenen Angaben beteiligt, häufig als Beobachter, gelegentlich auch als Akteur. Schon vor der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 hatte er in Deutschland gelebt, nach Beendigung des Krieges zunächst dort in den amerikanischen Streitkräften Dienst getan, sich in den sechziger Jahren in Berlin aufgehalten und während der siebziger Jahre für die amerikanische Botschaft in Bonn gearbeitet. Auch publizistisch begleitete Smyser durch die Jahrzehnte den Werdegang der rheinischen Republik, unter anderem mit einem Buch über die deutsche Wirtschaft.
Smyser kennt sich also aus, übrigens auch in der Literatur, und es ist keine Übertreibung, wenn er davon spricht, daß "Tausende" von Monographien und Artikeln über die Themen seines Buches geschrieben worden sind. Um so überraschender seine Feststellung, wonach es keine Gesamtdarstellung der Geschichte des geteilten Deutschland gebe, schon gar keine, die der Sache auf den Grund gehe. Immerhin wird das Einschlägige dann doch im dichten Anmerkungsapparat umfassend und ausführlich zitiert.
Der eigene Anspruch ist erheblich. Smyser will "neue" Fakten und Analysen liefern, und er will "originelle" Antworten auf die Frage geben, inwieweit während des Kalten Krieges die Weichen für jene Entwicklungen gestellt worden sind, die wir heute erleben. Die Darstellung selbst ist grundsolide - nicht weniger, aber auch nicht mehr: Sie berührt alle wichtigen Bereiche, den politischen ebenso wie den militärischen, den wirtschaftlichen oder auch den publizistischen. Nicht zuletzt ist der Leser stets zuverlässig über die weltpolitischen Rahmenbedingungen der Deutschen Frage informiert. Anders die Interpretation des Ganzen. Smysers Sicht liegt ein unkompliziertes, von vertiefender Reflexion freies Weltbild zugrunde. Danach fing alles mit Bismarck an: "Erst band er die deutsche Einheit an die preußische Autokratie, und nachdem er maßgeblich daran mitgewirkt hatte, den deutschen Liberalen, Idealisten und Humanisten . . . eine Niederlage beizubringen, einigte Bismarck Deutschland unter den Hohenzollern. Das führte das Deutsche Reich von einer Katastrophe in die nächste, im Innern und nach außen, unter Leitung der ebenso großtuerischen wie kurzsichtigen herrschenden Klasse Preußens." So gesehen waren Hitler und die deutsche Katastrophe, ja selbst die Auseinandersetzungen der alliierten Sieger über Deutschland die zwangsläufigen Folgen der Ursünde des Otto von Bismarck.
Immerhin lohnte sich der alliierte Kampf um Deutschland: die Deutschen wurden gezähmt, besannen sich wieder auf die "demokratischen Wurzeln ihrer eigenen Geschichte", akzeptierten ihre Verluste und entschädigten die Opfer. So war es möglich, und jetzt dem Frieden in Europa und der Welt nicht mehr abträglich, daß ein "neuer Bismarck" erscheinen konnte: Helmut Kohl. Dieser Kanzler einigte Deutschland ohne den Einsatz von Gewalt gegen seine Nachbarn - als ob ein solcher Weg je erwogen worden wäre.
Dieses Mal, so die Botschaft des Buches, muß die Welt also vor einem vereinigten Deutschland nicht erzittern. Gewiß: Berlin ist das "geographische Zentrum Europas", und Deutschland wird einen starken Einfluß auf den Kontinent ausüben, doch werden "Berlin und Deutschland Europa nicht dominieren". Das brauchen sie auch gar nicht, weil sie ihren Einfluß auf andere Art und Weise ausüben können: "Deutschland wird neue Hochgeschwindigkeitszüge und Superautobahnen finanzieren, die Berlin mit Warschau, ja selbst mit Minsk, Kiew und Moskau, mit dem Baltikum und mit St. Petersburg verbinden werden."
Folgt man Smyser, so haben wir es jetzt mit der "dritten Deutschen Frage" zu tun. Die erste bezeichnet die Epochen äußerer Schwäche Deutschlands bis zu Bismarck und erneut während des Kalten Krieges. Die zweite stellte sich in der Zeit der Großmacht Deutsches Reich. Und jetzt also die dritte Deutsche Frage: Nicht mehr Objekt der Weltpolitik sei Deutschland heute, auch nicht mehr dominanter Akteur mit hegemonialen Ambitionen, sondern ein "Schäfer", der die Politik nicht selbst bestimmen, aber alle "im Tritt halten" wolle. Die deutsche Geschichte hat viele Interpretationen über sich ergehen lassen müssen. Ob die "Schäfer-Theorie" von W. R. Smyser zu den überlebensfähigen gehört, wird man sehen müssen.
GREGOR SCHÖLLGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main