Seit seiner Kindheit kümmert sich Dominick Birdsey um seinen Zwillingsbruder Thomas, der unter Schizophrenie leidet. Unterdessen ist sein eigenes Leben in die Brüche gegangen: Seine Frau hat ihn verlassen, er hat seinen Job verloren und seine Mutter ist gestorben, ohne ihm mitgeteilt zu haben, wer sein leiblicher Vater ist. Als Thomas nun die endgültige Verbannung in eine geschlossene Anstalt droht, unternimmt Dominick den verzweifelten Versuch, ihn davor zu bewahren.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.03.2000Jedwedes Übel ist ein Zwilling
Wally Lambs Roman über die Verstrickungen der Brüder Dominick und Thomas
Das Schicksal meint es selten gut mit den Helden des amerikanischen Autors Wally Lamb. Das Mädchen Dolores aus seinem Erfolgsroman Die Musik der Wale kann ein Lied davon singen; ihre Leidensgeschichte reicht von einer Vergewaltigung über die daraus resultierende Fettsucht bis zum jahrelangen Psychiatrie-Aufenthalt. Und Dominick Birdsey in Lambs neuem Werk Früh am Morgen beginnt die Nacht geht es nicht besser. Nicht nur, dass sein Zwillingsbruder Thomas schizophren ist und Stimmen hört, macht das Leben schwer erträglich, Dominick kann mit seinen vierzig Jahren auf eine Reihe niederschmetternder Erfahrungen zurückblicken. Und dennoch besitzt auch er wie Lambs andere Protagonisten diesen eigenartigen Trotz, die Hammerschläge des Lebens nicht auf Dauer tatenlos hinzunehmen.
Es ist ja schier unglaublich, was diese voller Anteilnahme gezeichneten Figuren zu ertragen haben; das reicht für mehrere Leben. Und damit verkörpern sie exakt jenen Typus, der einem zuweilen im wirklichen Leben begegnet und von dem man eins mit Sicherheit weiß: Egal, was der anpackt, es geht schief. Egal was ihm widerfährt, es wird noch schlimmer kommen. Doch man kann diesen Unglücksraben eine gewisse Bewunderung nicht versagen, denn wie Sisyphos rollen sie den Stein immer wieder den Berg hinauf. Ob wir sie uns deshalb als „glückliche Menschen” vorstellen müssten, das ist die Frage, die unwillkürlich bei der Lamb-Lektüre aufgeworfen wird.
„Man konnte einen Bruder haben, der sich Metallklemmen in die Haare steckte, um feindliche Signale aus Kuba abzulenken, einen leiblichen Vater, der in dreiunddreißig Jahren noch nie aufgetaucht war und ein Baby, das tot in seiner Wiege lag . . . und nichts davon musste etwas bedeuten. Das Leben war ein Furzkissen, ein Stuhl, der einem unter dem Hintern weggezogen wurde, wenn man sich gerade hinsetzen wollte. ” Nach dem Tod seiner kleinen Tochter begreift Dominick, dass das „Leben nicht unbedingt einen Sinn haben” muss, sondern Glück und Pech unterschiedlich auf die Menschen verteilt sind, egal wie sehr sie sich anstrengen, zum Subjekt ihrer Biografie zu werden. Eine höchst nihilistische Einstellung, aber verständlich, denn weitere Schicksalsschläge lassen nicht lange auf sich warten, wo eigentlich schon von Anfang an alles schief gelaufen ist: mit seiner und des Zwillingsbruders unehelichen Geburt, mit dem unbekannten Vater, dessen Namen die Mutter bis zu ihrem Tod geheim hält, dem despotischen Stiefvater Ray, der den Kindern das Leben zur Hölle macht und mit der alles überschattenden Schizophrenie von Thomas. Deren Symptome zeigen sich schon in der Schulzeit; ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht die Krankheit, als sich Thomas in der Stadtbücherei von Three Rivers, Connecticut, die Hand abhackt, um ein Fanal gegen den Golfkrieg zu setzen.
Wer bin ich?
So zieht Lamb einen Bogen über vierzig Jahre amerikanischer Alltagsgeschichte, indem er diese Selbstverstümmelung zum Ausgangspunkt nimmt, um den sich krampfhaft um Normalität bemühenden Zwillingsbruder über das gemeinsame Leben nachdenken zu lassen. Im Laufe dieses Erinnerungsprozesses wird Dominick feststellen, dass er selbst eine Menge Probleme hat und dass er sich ihnen stellen muss. Vor allem muss er mit der Angst fertig werden, einmal das Schicksal seines Bruders zu teilen, der, abgesondert von den anderen, Objekt von allerlei miesen Scherzen war, weil Kinder und Jugendliche mit tödlicher Sicherheit erkennen, wenn jemand anders ist als sie. Während sich Dominick nämlich unauffällig zu geben versuchte, stellte Thomas allein durch seine Existenz eine ständige Provokation dar, vor allem für den jähzornigen Stiefvater. Rund dreißig Jahre später gesteht sich Dominick ein, dass er seine ganze Kindheit damit beschäftigt war, den Prügelorgien dieses Mannes auszuweichen.
Wally Lamb, der nach eigenen Bekunden nie ein Buch über Zwillinge hat schreiben wollen, gelingt etwas Einmaliges: Er versetzt sich in die komplizierte, zwischen Angst vor Identitätsverlust, tiefer Verbundenheit und massiver Abgrenzung vom anderen oszillierende Welt eines Zwillingspaares. Als der Bruder mit einer Kinderkrankheit im Bett liegt, wird dem fünfjährigen Dominick zum ersten Mal bewusst, dass er ein eigenständiger Mensch ist. „Thomas und ich sind nicht eine Person, wir sind zwei Thomas ist krank, und ich bin es nicht. Er schläft. Ich bin wach. Ich kann mich selbst retten. ” Und dennoch wird er Teil eines Ganzen bleiben, wird nie loskommen von dieser Laune der Natur, die das befruchtete Ei im Uterus geteilt hat und die den einen mit Schizophrenie schlägt und den anderen verschont. Anhand von Thomas’ Krankheitsgeschichte und den zahlreichen Therapieversuchen lässt Lamb die Fortschritte der psychiatrischen Forschung Revue passieren, von der Annahme der siebziger Jahre, Schizophrenie sei das Produkt traumatischer Kindheitserlebnisse, bis hin zu neueren Erkenntnissen über biochemische Vorgänge im Gehirn, und wie so häufig wird die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen und die Heilung eine Frage des Glücks sein.
Vor allem ist dieses Buch, dessen immerhin tausend Seiten nur niemanden (mehr) abschrecken könnten, der erst einmal in den Sog der Geschichte geraten ist, die Schilderung eines mühsamen Heilungsprozesses. Die Therapeutin Dr. Patel hat Dominick anfänglich nur um ein Treffen gebeten, um Aufschluss über die Tat seines Bruders zu gewinnen. Doch fast unmerklich entwickeln sich ihre Gespräche zu einer Suche nach der eigenen Identität, nach den Verletzungen, den Schuldgefühlen und den Möglichkeiten, die Trümmer einer Existenz wieder aufzusammeln und neu zusammenzusetzen. Vielleicht ist das Leben doch etwas mehr als ein Furzkissen oder ein Stuhl, der einem beim Hinsetzen weggezogen wird.
ELKE SCHUBERT
WALLY LAMB: Früh am Morgen beginnt die Nacht. Roman. Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich Koop. List Verlag, München 1999. 1008 Seiten, 48 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wally Lambs Roman über die Verstrickungen der Brüder Dominick und Thomas
Das Schicksal meint es selten gut mit den Helden des amerikanischen Autors Wally Lamb. Das Mädchen Dolores aus seinem Erfolgsroman Die Musik der Wale kann ein Lied davon singen; ihre Leidensgeschichte reicht von einer Vergewaltigung über die daraus resultierende Fettsucht bis zum jahrelangen Psychiatrie-Aufenthalt. Und Dominick Birdsey in Lambs neuem Werk Früh am Morgen beginnt die Nacht geht es nicht besser. Nicht nur, dass sein Zwillingsbruder Thomas schizophren ist und Stimmen hört, macht das Leben schwer erträglich, Dominick kann mit seinen vierzig Jahren auf eine Reihe niederschmetternder Erfahrungen zurückblicken. Und dennoch besitzt auch er wie Lambs andere Protagonisten diesen eigenartigen Trotz, die Hammerschläge des Lebens nicht auf Dauer tatenlos hinzunehmen.
Es ist ja schier unglaublich, was diese voller Anteilnahme gezeichneten Figuren zu ertragen haben; das reicht für mehrere Leben. Und damit verkörpern sie exakt jenen Typus, der einem zuweilen im wirklichen Leben begegnet und von dem man eins mit Sicherheit weiß: Egal, was der anpackt, es geht schief. Egal was ihm widerfährt, es wird noch schlimmer kommen. Doch man kann diesen Unglücksraben eine gewisse Bewunderung nicht versagen, denn wie Sisyphos rollen sie den Stein immer wieder den Berg hinauf. Ob wir sie uns deshalb als „glückliche Menschen” vorstellen müssten, das ist die Frage, die unwillkürlich bei der Lamb-Lektüre aufgeworfen wird.
„Man konnte einen Bruder haben, der sich Metallklemmen in die Haare steckte, um feindliche Signale aus Kuba abzulenken, einen leiblichen Vater, der in dreiunddreißig Jahren noch nie aufgetaucht war und ein Baby, das tot in seiner Wiege lag . . . und nichts davon musste etwas bedeuten. Das Leben war ein Furzkissen, ein Stuhl, der einem unter dem Hintern weggezogen wurde, wenn man sich gerade hinsetzen wollte. ” Nach dem Tod seiner kleinen Tochter begreift Dominick, dass das „Leben nicht unbedingt einen Sinn haben” muss, sondern Glück und Pech unterschiedlich auf die Menschen verteilt sind, egal wie sehr sie sich anstrengen, zum Subjekt ihrer Biografie zu werden. Eine höchst nihilistische Einstellung, aber verständlich, denn weitere Schicksalsschläge lassen nicht lange auf sich warten, wo eigentlich schon von Anfang an alles schief gelaufen ist: mit seiner und des Zwillingsbruders unehelichen Geburt, mit dem unbekannten Vater, dessen Namen die Mutter bis zu ihrem Tod geheim hält, dem despotischen Stiefvater Ray, der den Kindern das Leben zur Hölle macht und mit der alles überschattenden Schizophrenie von Thomas. Deren Symptome zeigen sich schon in der Schulzeit; ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht die Krankheit, als sich Thomas in der Stadtbücherei von Three Rivers, Connecticut, die Hand abhackt, um ein Fanal gegen den Golfkrieg zu setzen.
Wer bin ich?
So zieht Lamb einen Bogen über vierzig Jahre amerikanischer Alltagsgeschichte, indem er diese Selbstverstümmelung zum Ausgangspunkt nimmt, um den sich krampfhaft um Normalität bemühenden Zwillingsbruder über das gemeinsame Leben nachdenken zu lassen. Im Laufe dieses Erinnerungsprozesses wird Dominick feststellen, dass er selbst eine Menge Probleme hat und dass er sich ihnen stellen muss. Vor allem muss er mit der Angst fertig werden, einmal das Schicksal seines Bruders zu teilen, der, abgesondert von den anderen, Objekt von allerlei miesen Scherzen war, weil Kinder und Jugendliche mit tödlicher Sicherheit erkennen, wenn jemand anders ist als sie. Während sich Dominick nämlich unauffällig zu geben versuchte, stellte Thomas allein durch seine Existenz eine ständige Provokation dar, vor allem für den jähzornigen Stiefvater. Rund dreißig Jahre später gesteht sich Dominick ein, dass er seine ganze Kindheit damit beschäftigt war, den Prügelorgien dieses Mannes auszuweichen.
Wally Lamb, der nach eigenen Bekunden nie ein Buch über Zwillinge hat schreiben wollen, gelingt etwas Einmaliges: Er versetzt sich in die komplizierte, zwischen Angst vor Identitätsverlust, tiefer Verbundenheit und massiver Abgrenzung vom anderen oszillierende Welt eines Zwillingspaares. Als der Bruder mit einer Kinderkrankheit im Bett liegt, wird dem fünfjährigen Dominick zum ersten Mal bewusst, dass er ein eigenständiger Mensch ist. „Thomas und ich sind nicht eine Person, wir sind zwei Thomas ist krank, und ich bin es nicht. Er schläft. Ich bin wach. Ich kann mich selbst retten. ” Und dennoch wird er Teil eines Ganzen bleiben, wird nie loskommen von dieser Laune der Natur, die das befruchtete Ei im Uterus geteilt hat und die den einen mit Schizophrenie schlägt und den anderen verschont. Anhand von Thomas’ Krankheitsgeschichte und den zahlreichen Therapieversuchen lässt Lamb die Fortschritte der psychiatrischen Forschung Revue passieren, von der Annahme der siebziger Jahre, Schizophrenie sei das Produkt traumatischer Kindheitserlebnisse, bis hin zu neueren Erkenntnissen über biochemische Vorgänge im Gehirn, und wie so häufig wird die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen und die Heilung eine Frage des Glücks sein.
Vor allem ist dieses Buch, dessen immerhin tausend Seiten nur niemanden (mehr) abschrecken könnten, der erst einmal in den Sog der Geschichte geraten ist, die Schilderung eines mühsamen Heilungsprozesses. Die Therapeutin Dr. Patel hat Dominick anfänglich nur um ein Treffen gebeten, um Aufschluss über die Tat seines Bruders zu gewinnen. Doch fast unmerklich entwickeln sich ihre Gespräche zu einer Suche nach der eigenen Identität, nach den Verletzungen, den Schuldgefühlen und den Möglichkeiten, die Trümmer einer Existenz wieder aufzusammeln und neu zusammenzusetzen. Vielleicht ist das Leben doch etwas mehr als ein Furzkissen oder ein Stuhl, der einem beim Hinsetzen weggezogen wird.
ELKE SCHUBERT
WALLY LAMB: Früh am Morgen beginnt die Nacht. Roman. Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich Koop. List Verlag, München 1999. 1008 Seiten, 48 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de